‚Die Nazifizierung der Ukraine‘
Russisches Handbuch: ‚Nazi ist ein Ukrainer, der sich zuzugeben weigert, dass er Russe ist‘
In Russland ist unlängst ein Handbuch zum Völkermord in seinem Krieg gegen die Ukraine veröffentlicht worden. Die offizielle russische Presseagentur RIA Nowosti publizierte ein explizites Programm für die vollständige Auslöschung der ukrainischen Nation als solcher. Es ist immer noch einsehbar und wurde inzwischen mehrfach ins Englische übertragen.
Wie ich schon seit Beginn des Kriegs betont habe, bedeutet „Entnazifizierung“ im offiziellen russischen Sprachgebrauch nichts anderes als die Zerstörung des ukrainischen Staats und der ukrainischen Nation. Ein „Nazi“, so erklärt das Handbuch zum Völkermord, ist einfach ein Mensch, der sich als Ukrainer identifiziert.
Dem Handbuch gemäß kam die Gründung eines ukrainischen Staats vor dreißig Jahren der „Nazifizierung der Ukraine“ gleich. So ist „jeder Versuch, einen solchen Staat zu errichten“, ein „Nazi“-Akt. Die Ukrainer sind „Nazis“, weil sie „die notwendige Tatsache, dass das Volk Russland unterstützt“, nicht akzeptieren. Die Ukrainer sollen dafür büßen, zu glauben, dass sie als eigenständiges Volk existieren; nur diese Buße kann zur „Erlösung von Schuld“ führen.
Russland: „Weltzentrum des Faschismus“
Für alle, die immer noch denken, dass Putins Russland in der Ukraine oder anderswo der extremen Rechten entgegentritt, gibt das Völkermordprogramm Anlass zum Umdenken. Putins Regime spricht nicht von „Nazis“, weil es gegen die extreme Rechte ist, was ganz sicher nicht der Fall ist, sondern benutzt den Begriff als rhetorisches Mittel, um einen unprovozierten Krieg und eine völkermordende Politik zu rechtfertigen.
Putins Regime ist selber die extreme Rechte. Es ist das Weltzentrum des Faschismus. Es unterstützt Faschisten und rechtsextreme Autoritaristen in der ganzen Welt. Indem sie die Bedeutung von Wörtern wie „Nazi“ verdrehen, schaffen Putin und seine Propagandisten mehr rhetorischen und politischen Raum für Faschisten in Russland und anderswo auf der Welt.
Wolodymyr Selensky ist ein Ukrainer und verkörpert in Putins Sicht somit alles, was „Nazi“ bedeutet.
Das Handbuch zum Völkermord erklärt, dass sich die russische Politik der „Entnazifizierung“ nicht gegen Nazis in dem Sinne richtet, in dem das Wort normalerweise verwendet wird. Das Handbuch räumt, ohne zu zögern, ein, dass es keine Beweise dafür gibt, dass der Nazismus im allgemeinen Sinne in der Ukraine von Bedeutung ist. Es geht von der speziellen russischen Definition des Begriffs „Nazi“ aus: Ein Nazi ist ein Ukrainer, der sich weigert, zuzugeben, dass er Russe ist. Der besagte „Nazismus“ ist „amorph und ambivalent“; man muss in der Lage sein, hinter die Welt des Scheins zu blicken und die Affinität zur ukrainischen Kultur oder zur Europäischen Union als „Nazismus“ zu entschlüsseln.
Die tatsächliche Geschichte der tatsächlichen Nazis und ihrer tatsächlichen Verbrechen in den dreißiger und vierziger Jahren ist somit völlig irrelevant und wird völlig beiseitegeschoben. Dies steht in völligem Einklang mit der russischen Kriegsführung in der Ukraine. Im Kreml werden keine Tränen über die russische Ermordung von Holocaust-Überlebenden oder die russische Zerstörung von Holocaust-Gedenkstätten vergossen, weil Juden und der Holocaust nichts mit der russischen Definition von „Nazi“ zu tun haben.
Dies erklärt, warum Wolodymyr Selensky, obwohl er ein demokratisch gewählter Präsident sowie ein Jude ist, dessen Familienmitglieder in der Roten Armee gekämpft haben und im Holocaust umgekommen sind, als Nazi bezeichnet werden kann. Selensky ist ein Ukrainer und verkörpert somit alles, was „Nazi“ bedeutet.
Ein Russe kann nicht Nazi sein
Nach dieser absurden Definition, nach der Nazis Ukrainer sein müssen und Ukrainer Nazis sein müssen, kann Russland nicht faschistisch sein, egal, was Russen tun. Das ist sehr bequem. Wenn dem Begriff „Nazi“ die Bedeutung „Ukrainer, der sich weigert, Russe zu sein“, zugewiesen wurde, dann folgt daraus, dass kein Russe ein Nazi sein kann.
Da für den Kreml das Nazi-Sein nichts mit faschistischer Ideologie, hakenkreuzähnlichen Symbolen, gigantischen Lügen, Aufmärschen, Säuberungsrhetorik, Angriffskriegen, Entführungen von Eliten, Massendeportationen und der massenhaften Tötung von Zivilisten zu tun hat, können die Russen all diese Dinge tun, ohne sich jemals fragen zu müssen, ob sie selbst auf der falschen Seite der Historie stehen.
Und so kommt es, dass die Russen eine faschistische Politik im Namen der „Entnazifizierung“ betreiben. Das russische Handbuch ist eines der offensten völkermörderischen Dokumente, die mir jemals unter die Augen gekommen sind. Es fordert die Liquidierung des ukrainischen Staats und die Abschaffung aller Organisationen, die in irgendeiner Weise mit der Ukraine verbunden sind. Es postuliert, dass die „Mehrheit der Bevölkerung“ der Ukraine „Nazis“ sind, also Ukrainer. (Dies ist eindeutig eine Reaktion auf den anhaltend erfolgreichen ukrainischen Widerstand; zu Beginn des Kriegs ging man davon aus, dass es nur wenige Ukrainer gebe und dass diese leicht zu beseitigen seien. Dies geht aus einem anderen Text hervor, der vorschnell bei RIA Nowosti veröffentlicht wurde, nämlich der „Siegeserklärung“ vom 26. Februar.)
Diese Menschen, „die Mehrheit der Bevölkerung“, also mehr als zwanzig Millionen Menschen, sollen getötet oder zur Arbeit in „Arbeitslager“ geschickt werden, um ihre Schuld, Russland nicht geliebt zu haben, zu tilgen. Die Überlebenden sollen einer „Umerziehung“ unterzogen werden. Die Kinder werden zu Russen erzogen. Der Name „Ukraine“ wird verschwinden.
Das Bekenntnis zum Völkermord
Wäre dieses Handbuch zum Völkermord zu einem anderen Zeitpunkt und in einem weniger bekannten Medium erschienen, wäre es vielleicht unbemerkt geblieben. Aber es wurde mitten in der russischen Medienlandschaft publiziert, während eines russischen Vernichtungskriegs, der ausdrücklich durch die Behauptung des russischen Staatschefs legitimiert wurde, ein Nachbarland existiere nicht.
Russlands Handbuch zum Völkermord wurde am 3. April veröffentlicht, zwei Tage nach der ersten Enthüllung, dass russische Soldaten in der Ukraine Hunderte von Menschen in Butscha ermordet hatten, und gerade als die Geschichte die großen Zeitungen erreichte. Das Massaker von Butscha war einer von mehreren Fällen von Massenmord, die nach dem Rückzug der russischen Truppen aus der Region Kiew auftraten.
Das bedeutet, dass das Völkermordprogramm wissentlich veröffentlicht wurde, als die Beweise für den Völkermord bereits vorlagen. Der Autor und die Redakteure wählten diesen besonderen Zeitpunkt, um ein Programm zur Auslöschung der ukrainischen Nation als solcher zu veröffentlichen.
Als Historiker in Bezug auf Massenmord fallen mir nur wenige Beispiele ein, in denen Staaten den völkermörderischen Charakter ihrer eigenen Handlungen in dem Moment ausdrücklich ankündigen, in dem diese Handlungen öffentlich bekannt werden.
Aus rechtlicher Sicht macht es das Vorhandensein eines solchen Texts (im größeren Kontext ähnlicher Erklärungen und der wiederholten Leugnung der Existenz der Ukraine durch Wladimir Putin) sehr viel leichter, den Vorwurf des Völkermords zu erheben. Rechtlich gesehen bedeutet Völkermord sowohl Handlungen, eine spezifische Gruppe von Menschen ganz oder teilweise zu vernichten, als auch die Absicht, dies tatsächlich zu tun. Russland hat die Tat begangen und sich nun auch zur Absicht bekannt.
Timothy Snyder, Jahrgang 1969, ist amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University mit den Schwerpunkten Osteuropa und Holocaust-Forschung. Dieser Text ist zuerst auf Snyders Website und in der Neuen Zürcher Zeitung veröffentlicht worden. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.