Eisenzeit: Was zusammen gehört
Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“: wunderbare Objekte aus West und Ost endlich vereint
Der November erzeugt in unseren Breitengraden leicht ein Gefühl von Blues. 2020 ist auch in dieser Hinsicht allerdings ein besonderes Jahr. Niemand konnte sich noch vor zwölf Monaten vorstellen, dass uns eine Pandemie im Griff haben und im Frühjahr das öffentliche Leben nahezu vollständig zum Stillstand kommen würde.
Mit den steigenden Covid-19-Infektionszahlen und den einhergehenden Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus wurden im November 2020 alle Kultureinrichtungen erneut geschlossen. Die Museen in Deutschland, in weiten Teilen Europas und auch in Moskau hielten fortan ihre Türen für die Öffentlichkeit geschlossen. Fast wie ein gallisches Dorf trotzte die Staatliche Eremitage in St. Petersburg, sie blieb unter Einhaltung von Hygienekonzepten für den Besucherverkehr zugänglich und eröffnete am 10. November 2020 die Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“.
Nach jahrelangen Vorbereitungen war der Eröffnungstermin eigentlich während der „Weißen Nächte“ im Juni vorgesehen, einer der schönsten Jahreszeiten in St. Petersburg. Die Zeremonie sollte ähnlich glanzvoll sein wie 2013 bei der Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“, wenn auch eine so hochrangige Teilnahme politischer Vertreter wie damals mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel und den russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin aufgrund des sich seitdem verschlechterten Verhältnisses zwischen Deutschland und Russland nicht möglich zu sein schien.
Pandemiebedingt musste der Termin verschoben werden und der November wurde für die neuerliche Eröffnung festgelegt. Bis in den frühen Herbst gab es einen verhaltenen Optimismus, dass die Ausstellung mit Gästen eröffnet werden und auch die deutschen Partner anreisen könnten. Schnell zeigte sich, dass dies aufgrund der überall steigenden Infektionszahlen nicht möglich sein wird. Doch während auch in Moskau Ausstellungen auf unbestimmte Zeit verschoben wurden und in St. Petersburg das für den 12. bis 14. November geplante Internationale Kulturforum abgesagt werden musste, hielt die Eremitage an dem Termin fest.
So stand Michail Piotrowskij, der Generaldirektor der Eremitage fast allein, umgeben von nur wenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Vertretern der Medien und Presse, in der Kleinen Manege und überbrachte seine Eröffnungsworte online im Livestream. Die deutschen und russischen Vertreter aus Politik und Kultur sprachen ihre Grußworte nicht, wie wir es normalerweise gewohnt sind, vor Ort, sondern sandten sie als Videobotschaften.
Dennoch, dass ausgerechnet die Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“ in diesen Tagen als eines der großen Projekte innerhalb des Deutschlandjahres in Russland 2020/21 eröffnet werden konnte, darf als etwas Besonderes gelten, zumal in ihrem Zentrum eine schwierige Thematik innerhalb der deutsch-russischen Beziehungen steht.
Verschollen nach dem Zweiten Weltkrieg
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs begannen die Museumsleute, die von ihnen verwahrten Kulturgüter einzupacken. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin, das damals eine archäologische Sammlung von Weltrang beherbergte, lagerte in den Folgejahren einen großen Teil seiner Kulturgüter an verschiedene als sicher geltende Orte in und außerhalb Berlins aus.
Ein weiterer Teil verblieb in den damaligen Museumsräumen des Kunstgewerbemuseums, dem heutigen Gropius Bau, und wurde 1945 von Bombeneinschlägen stark in Mitleidenschaft gezogen. Nach Kriegsende gelangten große Teile der Sammlung in die britischen und amerikanischen Kunstgutlager in Celle und Wiesbaden. Sie wurden in den 1950er-Jahren nach Berlin zurückgeführt und zur Grundlage des wiedereröffneten Museums in West-Berlin. Umfangreiche Museumsbestände kamen in Sonderzügen in die Sowjetunion und wurden dort in den Depots meist großer Museen eingelagert.
Bedeutsame Rückführungen in den Jahren 1956 und 1958 bildeten das Gerüst der Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin-Ost, so auch für das zugehörige Museum für Ur- und Frühgeschichte. Doch weiterhin galten viele Tausende von Gegenständen als verschollen und ihr Schicksal blieb unklar. Die Frage blieb: Wo sind die trojanischen Altertümer Heinrich Schliemanns, wo die merowingerzeitlichen Pretiosen und wo befindet sich der Goldschatz von Eberswalde? Lange gab es nur Vermutungen, aber vieles blieb im Ungewissen.
Europa ohne Grenzen?
Bewegung in diese unbefriedigende Situation kam erst mit dem Niedergang der Sowjetunion. Zu Beginn der 1990er-Jahre verdichteten sich die Hinweise, dass sich der „Schatz des Priamos“ im Moskauer Puschkin-Museum befinden soll. Nach der Bestätigung kam es zu einem ersten Besuch der Berliner Museumsfachleute in Moskau, wo ihnen die damalige Direktorin des Puschkin-Museums, Irina Antonowa, den Schatzfund in ihren Büroräumen präsentierte.
Anfänglich war die Atmosphäre noch von einem beidseitigen Misstrauen geprägt, zumal für die deutsche Seite eine Rückführung der Kulturgüter nach international geltendem Völkerrecht von zentraler Bedeutung war. Spätestens mit der Verabschiedung des Duma-Gesetzes zur Verstaatlichung der Beutekunst und dessen Bestätigung durch das russische Verfassungsgericht 1999 waren die Rechtsauffassungen beider Länder im Grundsatz unvereinbar.
Auf Museumsebene erkannte man aber, dass für die weitere Re-Identifikation der in russischen Museen verwahrten Kriegsverluste eine Zusammenarbeit der Museen aus beiden Ländern die Grundlage bilden muss. Zeigte 1996 das Puschkin-Museum die Ausstellung „Der Schatz aus Troja“ noch weitgehend ohne Einbindung der deutschen Seite, begründeten die Eremitage und das Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte ihre enge Zusammenarbeit mit der Ausstellung „Schliemann – Petersburg – Troja“ im Jahr 1998. Ein Europa ohne Grenzen rückte mit dieser Kooperation nach dem Ende des Eisernen Vorhangs für die Museumsverantwortlichen näher.
Ein nächster bedeutsamer Schritt in der deutsch-russischen Kooperation war die Idee für die Ausstellung „Merowingerzeit – Europa ohne Grenzen“, für die neben dem Berliner Museum und der Eremitage als weitere Partner das Puschkin-Museum und das Staatliche Historische Museum Moskau gewonnen werden konnten. Die 2007 bis 2008 in Moskau und St. Petersburg gezeigte Ausstellung kann als der richtungsweisende Schritt der wissenschaftlichen Zusammenarbeit der Fachleute aus deutschen und russischen Museen verstanden werden. Mit diesem Format wurde ein neues Kapitel der kulturellen Zusammenarbeit aufgeschlagen, das sich auch bei der Präsentation „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen. 4. – 1. Jahrtausend v. Chr.“ 2013 – 2014 und der jetzigen Eisenzeit-Ausstellung bewährt hat.
Das Ausstellungsformat sichert der Museumsfachebene in Deutschland und Russland freie Hand und lässt die politischen Fragestellungen nach der Rückführung von kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern außen vor. Viele bedeutende Funde des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, die am Ende des Zweiten Weltkriegs nach Russland verlagert wurden und seit 1945 in Russland verwahrt werden, kehren so in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs zurück.
Vertrauensvolle Zusammenarbeit der Museen
Alle drei Ausstellungen zeigen, wie wichtig es ist, die Kontakte und Kooperationen der Fachwissenschaftler als ein Gerüst eines stabilen Netzwerks der deutschen und russischen Kultureinrichtungen zu errichten. Durch das fruchtbare, offene Klima erhalten deutsche Wissenschaftler immer ungehinderter Einblicke in die russischen Depots, ein für die weitere Lokalisierung und Identifizierung verlagerter deutscher Kulturgüter unerlässlicher Schritt. Es ergibt sich die Möglichkeit, die seit mehr als 80 Jahren nicht mehr zu sehenden Gegenstände in die Öffentlichkeit und den wissenschaftlichen Diskurs zurückzuführen.
Diese Zusammenarbeit funktionierte auch unter den erschwerten Bedingungen des Jahres 2020 auf hervorragende Weise; das zeigt, welch gute und vertrauensvolle Beziehung sich nach vielen Jahren zwischen den deutschen und russischen Museen und vor allem deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entwickelt hat. Dazu gehört auch, dass das Berliner Museum wegen der aktuellen Reisebedingungen keine Kuriere zur Begleitung und Betreuung der eigenen Objekte schicken, der Transport der Leihgaben dennoch stattfinden konnte und die Gegenstände vertrauensvoll in die Hände der russischen Spezialisten übergeben wurden. Das ist keine Selbstverständlichkeit, aber Ausdruck dessen, dass sich trotz – oder gerade wegen – der schwierigen Beutekunstthematik eine enge Beziehung zwischen den deutschen und russischen Museen entwickelt hat, die auch in schwierigen Phasen in engem Austausch und für ein klein wenig Europa ohne Grenzen stehen.
Die Ausstellung
In der Ausstellung „Eisenzeit – Europa ohne Grenzen“ werden die Kulturen des 1. Jahrtausends v. Chr. Noch bis 28. Februar 2021 in der Staatlichen Erermitage St. Petersburg auf 1200 Quadratmetern und vom 15. April bis 15. Juli 2021 auf etwas kleinerer Fläche im Staatlichen Historischen Museum Moskau präsentiert. Um die 1600 Objekte werden gezeigt, davon stehen die rund 750 kriegsbedingt in die Sowjetunion verlagerten Kulturgüter im Mittelpunkt der Schau. Kontextuell ergänzt werden diese durch mehr als 250 Leihgaben aus dem Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte sowie durch Objekte aus den russischen Partnermuseen, mit denen das kulturgeschichtliche Bild des eisenzeitlichen Europas zwischen Atlantik und dem Ural gezeichnet und abgerundet wird.
Dazu erschienen ist ein deutsch-russischsprachiger Katalog mit 720 Seiten. Geplant ist ferner ein Videorundgang zur Ausspielung im Internet. Ideell unterstützt der Petersburger Dialog von Beginn an das Vorhaben.
Inhaltlich ist die Ausstellung nach kulturhistorischen, chronologischen sowie geografischen Bereichen gegliedert und umfasst Kulturen der Vorrömischen Eisenzeit im 1. Jahrtausend v. Chr. In den älteren Abschnitten der Epoche spielt das namengebende und gegenüber der Bronze härtere und leichter verfügbare Material Eisen noch eine untergeordnete Rolle und wird erst in der zweiten Hälfte des Jahrtausends zu einem allgemein genutzten Werkstoff.
Archäologisch Interessierten sind die Namen der mittel- und südeuropäischen Kulturen wie der Hallstattkultur, der Billendorfer Kultur oder der Villanovakultur möglicherweise vertraut. Dagegen sind die Kulturen der russischen Waldzone selbst Fachleuten eher fremd. Oder wer hat schon Genaueres vom Ananino-Komplex oder Djakowo-Kultur gehört?
Erst mit der Nennung verschiedener Völkerschaften wie Kelten, Etrusker, Skythen oder Sarmaten durch antike Autoren in Schriftquellen von Mitte des vorchristlichen Jahrtausends an werden uns die Begriffe und die mit den Völkern verbundenen archäologischen Hinterlassenschaften vertrauter. Ein Europa ohne Grenzen gab es in dieser Zeit nicht.
Die im 4. Jahrhundert v. Chr. einsetzende sogenannte keltische Wanderung und das damit verbundene Vordringen keltischer Stammesgruppen nach Italien, Spanien, Südosteuropa und bis nach Kleinasien war zu oft von Auseinandersetzungen mit den dort ansässigen Machthabern geprägt. Skythen wie später auch Sarmaten eroberten die osteuropäischen Steppengebiete und Teile der Schwarzmeerregion zuerst mit ihrer beweglichen Reiterei, bevor sie sich niederließen und mit den Nachbarn auch in einen friedlicheren Austausch kamen.
Migration quer durch Europa
Neben den großen Migrationsbewegungen können wir in dieser Zeit quer durch Europa auch einen regen kulturellen und materiellen Austausch, technische und wirtschaftliche Innovationen wie das Aufkommen eines eigenen keltischen Münzwesens im 3. Jahrhundert v. Chr. und die Anlage stadtartiger Siedlungen beobachten. Diese sich teilweise gegenseitig befruchtenden Impulse sind irgendwie doch Ausdruck eines miteinander verbundenen Europas.
Unter den in der Ausstellung gezeigten Gegenständen seien nur einige exemplarisch hervorgehoben. Da sind zum einen Gegenstände des keltischen Kunstschaffens wie die mit einem einzigartigen Tierfries geschmückte Linsenflasche aus dem bayerischen Matzhausen, die plastisch verzierte Maskenfibel von Berlin-Niederschönhausen oder die kurvolinear verzierten Bronzegegenstände aus dem italienischen Comacchio, die zu den Meisterwerken des frühkeltischen Waldalgesheimstils gezählt werden und sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs in St. Petersburg befinden.
Zu bestaunen sind aber auch Schätze der skythischen Goldschmiedekunst aus den Königskurganen von Solocha, Kelermes, Tschastye, Tschertomlyk und Kul-Oba aus den Sammlungen der russischen Museen. Nie zuvor waren solch wunderbare Objekte aus dem Westen und Osten des eisenzeitlichen Europas gemeinsam in einer Ausstellung zu sehen.
Die Besonderheit der Ausstellung wird aber vor allem durch die Zusammenführung der 1945 getrennten Fundkomplexe des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin sichtbar. Die Mitte des 19. Jahrhunderts freigelegte Bestattung von Besseringen im Saarland gehört zur Gruppe der frühkeltischen Fürstengräber und soll exemplarisch diese Situation verdeutlichen. Von der Grabausstattung befinden sich heute die bronzenen Zierbeschläge eines zweirädrigen Streitwagens noch in Berlin, während die bronzene Schnabelkanne aus einer etruskischen Werkstatt in die Eremitage nach St. Petersburg und der goldene Halsreif in das Puschkin-Museum nach Moskau gelangten.
Dies zeigt, welch absurde Aufteilungen sogar einzelner Grabinventare die Folgen des Zweiten Weltkriegs für die Sammlungen und Wissenschaft mit sich brachten, aber auch, wie wichtig der deutsch-russische Dialog und die damit verbunden museale Zusammenarbeit sind, damit solch wichtige Objekte nach mehr als 80 Jahren wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Forschung zurückkehren.
Hierfür steht die über viele Jahre gewachsene, sich immer weiter stabilisierende vorzügliche Qualität der Kontakte der Fachleute aus Berlin und den russischen Partnerinstitutionen, die von Kollegen längst zu Freunden geworden sind. Sie ist die Grundlage für die nun schon Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit, die sich gerade auch in schwierigen Zeiten bewährt hat und auch eine hervorragende Grundlage für zukünftige gemeinsame Vorhaben darstellt.
So ist die Eisenzeit-Ausstellung auch ein positives Zeichen im deutsch-russischen Gesamtverhältnis. Dass die Eröffnung trotz der schwierigen Lage stattfinden konnte, hat ihr auch positives Echo in der Medien- und Presselandschaft zukommen lassen. So kam sie vielleicht doch zur richtigen Zeit, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Ja, auch der November-Blues kann manchmal laut wie Metall sein.