Beutekunst: Trennendes, das uns verbindet

Der lebendige deutsch-russische Austausch von Beutekunst ist durch den Krieg bedroht

Die Spannungen um einen drohenden Einmarsch Russlands in die Ukraine halten die Welt seit Wochen in Atem und nehmen zuletzt stündlich zu. Wird es wieder Krieg in Europa geben, in dem sich Zehntausende von Soldaten gegenüberstehen?

Es schien doch eigentlich klar, selbst im Kalten Krieg, dass sich Ähnliches nie mehr wiederholen sollte. Man kann aus der Geschichte lernen, wenn man nur dazu gewillt ist: Krieg hat noch nie zur dauerhaften Konfliktlösung beigetragen, sondern immer nur Vernichtung und neue Gewalt hervorgebracht.

Unvorstellbar aber auch, wie ein Krieg Russlands gegen die Ukraine all das zerstören würde, was in den vergangenen drei Jahrzehnten an Vertrauen, Zusammenarbeit und freundschaftlichen Verbindungen über den ehemaligen Eisernen Vorhang hinweg entstanden ist, gerade auf dem Gebiet der Kultur und der Wissenschaft.

Und ich weiß, wovon ich rede: Seit 1994 war ich als Archäologe an unzähligen Forschungsprojekten in unterschiedlichen Regionen Russlands beteiligt. Gerade durch die enge Verbindung unterschiedlicher Forschungstraditionen und Erfahrungen haben wir große Erfolge erzielt, einen intensiven Austausch zwischen russischen und deutschen Gelehrten und Nachwuchswissenschaftlern ins Leben gerufen und ein sehr lebendiges, tragfähiges und nicht mehr wegzudenkendes Netzwerk geschaffen.

Wissenschaft arbeitet immer international und Grenzen überwindend. Aber auch im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit ist ungemein viel Produktives geschehen. Mit dem Petersburger Dialog und dem Deutsch-Russischen Museumsdialog haben wir es geschafft, frei und offen eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.

Shared heritage gemeinsam erforschen

Stichwort Beutekunst: Natürlich widersprach es international geltendem Völkerrecht, als Russland durch das Duma-Gesetz 1998 alle in Russland noch befindlichen Kulturgüter, die bei Kriegsende von sowjetischen Trophäenkommissionen aus Deutschland in die Sowjetunion verbracht wurden, im Zuge einer sogenannten kompensatorischen Restitution für die deutschen Kriegszerstörungen zu russischem Eigentum zu erklären.

Die Rechtspositionen beider Länder könnten unterschiedlicher nicht sein. Doch auf der fachlichen Ebene ist etwas gelungen, was in der Politik selten ist: Wir haben das, was uns trennt, zu etwas Verbindendem gemacht. Wir erforschen gemeinsam die Sammlungs- und Verlustgeschichten der vom Zweiten Weltkrieg betroffenen russischen und deutschen Museen, identifizieren verlorene oder verschollene Kulturgüter, restaurieren und untersuchen sie und vermitteln die Ergebnisse und die Geschichten dieser Objekte durch Ausstellungen Hunderttausenden von Besuchern.

Oft sind Teile ein und desselben Fundkomplexes heute auf deutsche und russische Museen verteilt, oder dort befinden sich die Objekte und hier die zugehörigen Archivunterlagen oder umgekehrt. Der Krieg hat getrennt, was zusammengehört. Doch diese Dinge wieder zusammenzuführen und in den internationalen Forschungskreislauf zurückzubringen, und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen Aufbewahrungsort, hat russische und deutsche Museen so eng zusammengebracht, dass sie inzwischen ohneeinander weder können noch wollen. Es ist uns gelungen, trotz immenser und schmerzhafter Verluste ein gemeinsames Verständnis von Shared Heritage zu entwickeln und den jeweils anderen teilhaben zu lassen.

Bei der Eröffnung der gemeinsam verantworteten Ausstellung „Bronzezeit – Europa ohne Grenzen“ im Juni 2013 in der Eremitage zu St. Petersburg, die lange verschollene Kulturgüter aus Berliner Museen erstmals wieder in solcher Vollständigkeit zeigte, waren die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und der russische Staatspräsident Wladimir Putin anwesend. Beide betonten in ihren Ansprachen, dass es vorbildlich sei und die Politik davon lernen könne, wie vertrauensvoll und produktiv Museumsfachleute auch bei schwierigen Themen zusammenarbeiteten.

Die in St. Petersburg und Moskau gezeigte Eisenzeit-Ausstellung im vergangenen Jahr zur Geschichte Europas im ersten Jahrtausend vor Christus setzte diese gemeinsame Erfolgsgeschichte fort, zumindest in Russland, denn in Deutschland kann Beutekunst nicht gezeigt werden.

Mehr Zirkulation von Kulturgütern

Der nächste logische Schritt wäre es nun, kriegsbedingt nach Russland verlagerte Kulturgüter zumindest zeitweise auch wieder einmal in deutschen Museen zeigen zu können. Wir feiern in diesem Jahr Heinrich Schliemanns 200. Geburtstag. Warum sollte es nicht möglich sein, Schliemanns „trojanische Schätze“ einmal für einige Wochen auf der Berliner Museumsinsel zu zeigen?

Archäologen denken pragmatisch. Die deutsche Regierung müsste die anschließende Rückgabe garantieren, dabei aber nicht zwingend ihre Rechtsposition aufgeben. Es wäre ein mutiger Schritt zu mehr Zirkulation von Kulturgütern, der Fragen nach Besitz und Eigentum sekundär erscheinen ließe.

Ein solcher Schritt würde fortführen, was russische und deutsche Museen längst begonnen haben. Es wäre eine Zeitenwende in den Kulturbeziehungen beider Länder, und sie erscheint gar nicht so fern, den guten Willen vorausgesetzt.

Krieg im Donbass bedroht Kulturgüter

Aber die Realpolitik folgt einer anderen Schlagzahl. Russische Panzer rollen in die Separatistengebiete. Rollen sie weiter, dann wären die Konsequenzen für die bilateralen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verheerend. Auch in der kulturellen Zusammenarbeit stünden wir vor einem Scherbenhaufen. All das in Jahrzehnten mühsam Erreichte wäre dahin.

Und noch eines ist klar: Ein russischer Einmarsch in die Ukraine würde nicht nur unzählige Menschenleben kosten, sondern auch zur Vernichtung von zahlreichen Kulturgütern führen. Schon bei Ausbruch der Kämpfe in der Ostukraine 2014 beschossen prorussische Separatisten mehrfach das Regionalmuseum von Donezk mit Raketen und zerstörten dabei dreißig Prozent der Sammlung.

Die Städte Tschernihiw, Sumy oder Charkiw mit ihren bedeutenden Museen liegen nur wenige Kilometer hinter der Grenze und von den russischen Aufmarschgebieten entfernt, und auch Kiew, Poltawa, Dnipropetrowsk, Cherson und Odessa sind nicht weit. Wirklich geschützt ist keiner dieser Orte, weder ihr bauliches Erbe noch ihre musealen Sammlungen. Ist es nicht eine geradezu unerträgliche Vorstellung, dass ein Aggressor vielleicht das kulturelle Erbe zerstört, das der Zweite Weltkrieg in diesen Gebieten noch übrig gelassen hat?

Die gegenwärtige Krise kann nicht das letzte Wort sein. Gerade die Kultur lässt keinen Zweifel daran: Ob Russland will oder nicht, trotz all seiner euroasiatischen Bezüge ist es fester Bestandteil Europas. Es sollte sich selbst so sehen und von uns auch so begriffen werden. Es gilt, den Weg in die Katastrophe zu vermeiden.

Dieser Beitrag ist am 23.2.2022 auch erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Wir danken dem Autor, den Text auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

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