Kontinentale Kunst: Kiefer & Co

‚Diversity United – Das künstlerische Gesicht Europas‘ zeigt die Vielfalt der europäischen Kunst nach 1989

von der KARENINA-Redaktion
Anselm Kiefer: "Winterreise"

Die Ausstellung „Diversity United“ zeigt das künstlerische Gesicht Europas und verwandelt den geschichtsträchtigen Flughafen Tempel­hof in Berlin in eine Kunsthalle auf Zeit. Rund 90 Künstler:innen aus 34 Ländern stehen mit ihren Werken für die enor­me Vielfalt und Vitalität der zeitgenös­sischen europäischen Kunstszene, von Portugal bis Russland, von Norwegen bis Türkei.

In einer Zeit der globalen Krise und zu­nehmenden politischen Sprachlosigkeit fordert die Kunst den gesellschaftlichen Dialog. Während die Welt mit dem Kampf gegen die Pandemie vollauf be­schäftigt ist, sind zentrale Themen der Ausstellung – Freiheit und Globalisie­rung, Wert und Gefährdung von Demo­kratie, Solidarität und Spaltung – dring­licher denn je.

Einheit durch Vielfalt

Welche Antworten haben Kreative unterschiedlicher Generationen, Geschlechter und Herkunft auf drän­gende Fragen der Gegenwart, auf die eu­ropäische Vergangenheit und Zukunft? Ihre Werke kommentieren Themen wie Macht und Gleichheit, Migration und Territorium, politische und persönliche Identität – und immer wieder Fragen nach der Verantwortung von Europa und für Europa in einer globalisierten Welt.

Kunst ist ihrem Wesen nach grenzenlos und lässt uns über Grenzen und Unter­schiede im freien Austausch neu nach­denken. Die Künstler:innen führen uns vor Augen, dass sie Grenzen nicht nur geistig überwinden, sondern auch ganz konkret im Alltag: in der Wahl ihrer Ausbildungsstätte, ihres Lebensmittelpunkts und Atelierstandorts, ihrer Galerie, ihrer Themen und Einflüsse. Das künstlerische Gesicht Europas ist komplex, vielfältig und immer in Bewegung – so wie das „Projekt“ Europa selbst.

Der Petersburger Dialog ist Supporter der Ausstellung. Ronald Pofalla, Co-Vorsitzender des Vereins, auf deutscher Seite, betont, wie wichtig es ist, gerade jetzt auf den künstlerischen Dialog zu setzen: „Die europäische Kunstausstellung ‚Diversity United‘ wird Brücken bauen und neue Impulse geben, um den Dialog anzuregen, der angesichts der aktuell schwierigen Lage im Verhältnis zu Russland dringend notwendig ist.“

Diversity United – Das künstlerische Gesicht Europas: Zeitgenössische Kunst aus Europa. Berlin. Moskau. Paris.
9. Juni bis 19. September 2021, Flughafen Tempelhof
Eintritt: 10 Euro (Familie 16 Euro, Kinder bis 16 Jahren frei)

Walter Smerling (Hg.)

Diversity United – Das künstlerische Gesicht Europas

Wienand Verlag
528 Seiten
Softcover mit ca. 400 farbigen Abb.
20 Euro
ISBN 978-3-86832-623-9
Zum Verlag

KARENINA Petersburger Dialog Online zeigt einige der Exponate vorab:

  1. Andreas Angelidakis

Spielerische Übung demokratischen Verhaltens: Andreas Angelidakis‘ interaktive Installation ist ein Plädoyer für freie Rede und gesellschaftliche Teilhabe. Das „Volk“ (demos) ist eingeladen, Architekturelemente zu verschieben und das Werk als Raum für den Austausch zu nutzen. Die Ruinen machen deutlich, dass nichts für die Ewigkeit ist. Wir sind aufgefordert, stets aufs Neue für Demokratie einzutreten.

  1. Yael Bartana

Die aus Israel stammende Künstlerin hat ein neues Werk für die Ausstellung geschaffen. Ihre Neon-Installation zerlegt den überstrapazierten Begriff der Krise (CRISIS) und lässt daraus neue Assoziationen entstehen (CRY SIS – CRY CIS). Die Krise als Wendepunkt? Als Aufbrechen erstarrter (Geschlechter-)Systeme?

  1. Olga Chernysheva

Kronleuchter am Straßenrand: Was auf den ersten Blick poetisch aussieht, spiegelt in Wahrheit die Überlebenskunst von Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeitern. Ihr Lohn ist das Produkt, das sie nun selbst am Straßenrand zu Geld machen müssen – ein Deputatlohn, wie er v. a. im 18. und 19. Jahrhundert üblich war.

  1. Constant Dullaart

Das Internet ist längst von einem grenzenlosen zu einem staatlich umkämpften Raum geworden. Diesem Grundgedanken folgend installiert Constant Dullaart Flaggen aus Social-Media-Collagen: Mahnmale der politischen Dimension des virtuellen Raums.

  1. Adrian Ghenie

Ghenies Bilder sind die Antwort der Malerei auf das digitale Zeitalter. Formen und Farben fließen ineinander, lösen sich auf, erschaffen sich neu. Ein überbordender Bild- und Formenpool zwischen Alltagsmedien und Kunstgeschichte, Abstraktion und Gegenständlichkeit, Traum und Albtraum.

  1. Gilbert & George

Für „Diversity United“ haben Gilbert & George ein in sich geschlossenes Kabinett konzipiert, in dem sie das Nervensystem einer multikulturellen, spaßsüchtigen, technisch hochgerüsteten Gesellschaft sezieren. Ihre Inhalte finden die Künstler vor der eigenen Haustür in London – relevant sind sie für Europa und die Weltgemeinschaft gleichermaßen.

  1. Mona Hatoum

Mona Hatoum macht physisch erfahr, dass die Balance von Ordnung und Vielfalt möglich ist. Wie brüchig dieses Gleichgewicht ist, zeigt ihre Fußmatte aus Nägeln: Anspruch und Wirklichkeit europäischer Willkommenskultur klaffen weit auseinander.

  1. Sanja Iveković

Häusliche Gewalt erfahren Frauen überall in der Welt. Sanja Iveković zwingt zum Hinsehen: In ihren Bildmontagen kombiniert sie die Gesichter von Models mit den Geschichten misshandelter Frauen. Unweigerlich fragt man sich, was hinter den dunklen Brillengläsern verborgen ist.

  1. Patricia Kaersenhout

Männer in Anzügen kriechen über eine spiegelnde Platte, erkennbar Vertreter einer Machtelite. Sie nehmen stellvertretend Schuld an – mea culpa. „Die Männer tragen Business-Anzüge und könnten Firmenchefs, Politiker oder Diktatoren sein“, so die Künstlerin. „Das Publikum kann selbst entscheiden, wer von ihnen Buße tun sollte.“

  1. Anselm Kiefer

Zwischen Faszination und Schlachtfeld: Anselm Kiefer blickt tief in die deutsch-französische Geschichte. Seine „Winterreise“ ist ein Raum im Raum, eine Bühne aus Bleibildern, versehrten Landschaften, Lazarett-Betten und Namenstafeln, darunter die französische Romantikerin Madame de Staël und die zur Terroristin gewordene deutsche Journalistin Ulrike Meinhof. So wird sichtbar, dass aus Gemüt Gewalt und aus Empfindung eiserner Militarismus entstehen kann – die Antwort auf eine missverstandene deutsche Romantik?

  1. Peter Kogler

Es gibt kein Entrinnen aus den neuronalen Kunst-Netzen von Peter Kogler. Seine multimedialen Räume überfluten uns mit Bildern und Informationen, überfordern Hirn und Auge. Eine schier undurchdringliche Erzählung über uns selbst, die Welt und das menschliche Gehirn.

  1. Alicja Kwade

Ein Bett mit weißen Laken, Ort der Geborgenheit. Der Blick nach oben setzt der Ruhe ein jähes Ende: Riesige Steine stürzen vom Himmel, verkanten sich im Gestänge des Betts. Das Gefüge ist gerade so stabil, aber wie lange? Auch eine Metapher für Europa, bequem und bedroht.

  1. Goshka Macuga

Die uralte Technik des Teppichwirkens lässt sie von Maschinen in 3D-Optik ausführen. Die Wirkung der großen Wandteppiche irritiert und fasziniert. Zu sehen sind groteske Figuren in apokalyptischen Landschaften. Sie transportieren die klare Botschaft der Künstlerin: „Make Tofu not War.“

  1. Marzia Migliora

Der Titel „Fil desëida“ hat zwei Bedeutungen: Seidener Faden und Grenzlinie. Marzia Migliora nimmt das wörtlich und hinterfragt den Wert territorialer Begrenzungen, indem sie zwei Seiltänzer über das italienisch-österreichische Grenzjoch balancieren lässt. Zwischen Begegnung oder Absturz liegen nur Zentimeter.

  1. Ekaterina Muromtseva

Lebensgroße Aquarelle nehmen die Betrachterinnen und Betrachter in ihre Reihen auf. Diese „Streikposten“ der Russin Ekaterina Muromtseva sind künstlerische Dokumentation der politischen Proteste der letzten Jahre. Ruhig, fast poetisch wirken die Streikenden und präsentieren ihre leuchtend weißen Plakate – vielsagende Leerstellen.

  1. Lucy + Jorge Orta

Zelte aus Nationalflaggen und eine Pass-Stelle für Weltbürgerinnen und Weltbürger: Lucy + Jorge Orta lassen Utopien zu Kunst werden. Das britisch-spanische Künstlerpaar setzt sich für Verständigung ein, zwischen Gesellschaften und zwischen Mensch und Natur. „Wir sind die Bewohner eines zerbrechlichen Planeten. Wir müssen ihn verteidigen und schützen.”

  1. Dan Perjovschi

Seine Werke sind kritisch, lassen einen aber auch schmunzeln. Dan Perjovschis comichafte Zeichnungen füllen Wände und kommentieren Zeitungsmeldungen aus ganz Europa. Wer hat die größere Verantwortung für die Wirklichkeit: die Medien oder die Kunst?

  1. Grayson Perry

Rußwolken versus Regenbogen: Grayson Perrys „Kampf um Großbritannien“ verbindet europäische Geschichte und gesellschaftliche Gegenwart. Das monumentale Format und der pathetische Titel sind ironische Kommentierung einer ernüchternden Realität.

  1. Anri Sala

Anri Salas Installation spielt auf ein ikonisches Bild der europäischen Kunstgeschichte an, die Erschaffung Adams in der Sixtinischen Kapelle, dem legendären Ort der Papstwahlen. Wie im Original berühren sich auch Salas Hände nur fast. Die blauen Schutzhandschuhe bleiben eine unüberwindliche Barriere. 2008 geschaffen, hat das Werk heute – inmitten der Pandemie – eine fast unheimliche Aktualität. Michelangelo 2.0.

 

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