Wie es ist, seine Heimat zu verlieren
Ulrich Trebbin schreibt einen Roman über seine Königsberger Großmutter
Ulrich Trebbin ist heute vierundfünfzig Jahre alt und führt in München eine Praxis für Psychotherapie. Als Therapeut hat er oft genug die Aufgabe, einschneidende Erlebnisse seiner Klienten zu entschlüsseln. Als Hörfunkautor, der er im zweiten Beruf ist, besitzt er Erfahrungen, Geschichten zu entdecken. Dass er sich in seinem ersten Roman einem einschneidenden Erlebnis seines eigenen Lebens zugewandt hat, mag zu hoch greifen, aber vom Leben seiner Großmutter führen Spuren zu ihm, die er ohne den Roman nicht hätte entschlüsseln können.
Seine Großmutter stammte aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, das als russische Enklave zwischen Polen und Litauen liegt. Nachgeborene erzählen, dass viele Vertriebene ihr Schicksal ins Schweigen verlegt haben.
Genauso macht es auch die Königsberger Großmutter des Autors. Viele Teile ihrer Biografie waren für die Kinder und Kindeskinder ein beschwiegenes Territorium. Sie ahnten, aber sie wussten nicht. Immer wieder stößt der Enkel auf Spuren ihres Lebens, für die er nicht die Geschichte hat: „Auf dem kleinen Sekretär meiner Großmutter stand, solange ich denken konnte, das Foto eines jungen Mannes, den ich nicht kannte. Nach dem Tod meiner Großmutter ist das gerahmte Foto mit ein paar anderen Erinnerungsstücken in meinen Besitz übergegeangen. Wer mochte der blendend aussehen junge Mann sein, dass er vor aller Augen im Wohnzimmer auf ihrem Sekretär stehen durfte?“
Letzte Fahrt nach Königsberg
So beginnt Ulrich Trebbin seinen Roman „Letzte Fahrt nach Königsberg“. Der Mann auf dem Foto ist Victor, eine Jugendliebe, die auch nach der Heirat mit einem Anderen weiterbrennt. In die Lücken seines Wissens, wie es wirklich war, stellt der Autor Erfindungen, wie es hätte sein können. So entsteht aus Wirklichkeit und Fiktion nahe am Leben von Großmutter Ella ein Roman.
Der eine Teil des Erzählens gilt dem Leben der Königsberger Großmutter, die im Januar 1945 in Potsdam Unterkunft bei der Schwester fand. Weil es in den letzten Wochen des Kriegs kaum etwas zu essen gab, fasste Ella den nahezu selbstmörderischen Entschluss, noch einmal nach Königsberg zurückzukehren. Voller Angst erwartet die Stadt die Einnahme durch die Rote Armee. Ella will holen, was sie an eingewecktem Fleisch und Obst im Kellerversteck zurückgelassen hat.
Dieser bewegte wie bewegende Teil der Romanhandlung ist eingebettet in ein vom Autor aufwendig recherchiertes Bild von Königsberg vor dem Krieg. Wie die Hauptstadt Ostpreußens im Frieden des Jahres 1932 aussah, bezeugt eine Straßenbahnfahrt, die Ella als Vierzehnjährige macht: „Die Mädchen biegen rechts in die große Schlossteichstraße ein. Unten am Ufer liegen die Pelikan-Terrassen, wohin die Familie manchmal sonntags zum Essen geht, und das Lichtspielhaus Miramar. Sie rennen mit hoppelnden Ranzen auf die hölzerne Schlossteichbrücke, die unter ihren Füßen vibriert.“
Ulrich Trebbin rekonstruiert nicht nur die Biografie seiner Großmutter Ella, sondern auch das Leben in Königsberg in den Jahren zwischen 1932 und 1945. Für dieses Bild, frei von jeglichem Versuch, die Geschichte zu korrigieren, lohnt die Lektüre des Romans. „Letzte Fahrt nach Königsberg“ ist besonders für überlebende Vertriebene wie für ihre Nachkommen ein ergreifendes Buch der Erinnerungen.
Dabei trägt der Roman deutlich Züge des Erstlings eines Autors, der kaum literarische Erfahrung besitzt. Was an literarischer Gewandtheit fehlt, ersetzt das Zeitbild, worin die Biografie von Großmutter Ella hineingestellt ist. Der Verlust von Königsberg war für sie bis ins hohe Alter eine tiefe Wunde. Eine letzte Fahrt nach Königsberg lehnt sie ab. Königsberg ist zu einem verschwundenen Land in ihrem Kopf geworden. Ihr Enkel versucht es in seinem Roman zurückzuholen.