Was die Ukraine einmal war
Galizien? Lodomerien? Marc Sagnol erinnert an Vergessenes und Verdrängtes in der Westukraine
Wir reden inzwischen fast täglich über die Ukraine als sei sie einer jener Nachbarstaaten, die uns seit langem bekannt sind. Dabei ist es gerade einmal drei Jahrzehnte her, dass sich dieses Land aus der Konkursmasse der alten Sowjetunion gelöst hat und sich einen unabhängigen staatlichen Rahmen gab, wie andere der früheren Sowjetrepubliken auch; drei Jahrzehnte mithin, in denen wir westlichen Anrainer eigentlich genügend Zeit gehabt hätten, uns eine genauere Vorstellung von dieser Nation zu machen, die uns heute als freie Ukraine entgegentritt.
Die Bilanz ist bescheiden. Man kann mittlerweile froh sein, wenn sich in unserer öffentlichen Debatte wenigstens die Erkenntnis einstellt, dass in der Ukraine ganz unterschiedliche Einflüsse und historische Landschaften zusammentreffen, die ihren inneren Ausgleich noch lange nicht gefunden haben.
Man spricht von der Spaltung des Lands in einen eher westlich und einen eher östlich geprägten Teil, aber allein das ist schon sehr vereinfacht. Fachleute erkennen bis zu fünf verschiedene Regionen.
Dass es nicht nur aktuelle, sondern auch historische Gründe haben könnte, warum die Polen ganz anders auf die Ukraine blicken als etwa die Russen, ist bei uns eine eher akademische Frage. Und die weitaus differenziertere österreichische Sicht auf diesen Raum, der große Teile der alten Doppelmonarchie umfasst, erschien uns eher als Nostalgie.
Wiederentdeckung einer Region
Dabei beginnt die österreichische Wiederentdeckung dieser Region lange bevor sie die heutige politische Gestalt annahm; und sie verbindet sich ganz besonders mit einem bekannten Namen, dem des heute in Wien lebenden Schriftstellers Martin Pollack. Sein berühmt gewordenes Buch über eine imaginäre Reise in die versunkene Welt Ostgaliziens und der Bukowina markiert gewissermaßen den Wendepunkt einer neuen Beschäftigung mit diesem langen vergessenen östlichen Rand des alten Habsburger Reichs, den wir lange Zeit nur noch mit den großen Namen der jüdisch deutschen Literaturgeschichte in Verbindung brachten: Joseph Roth, Rose Ausländer und natürlich Paul Celan.
Doch mit Pollack kamen auch die Chassiden, die Huzulen oder Ruthenen aus den verstaubten Nischen der akademischen Welt zurück. Andere Autoren folgten ihm, wie die Historikerin Verena Dohrn oder der englische Publizist Simon Winder, und die Galizienforschung hat heute ihren festen Platz in der österreichischen Osteuropageschichtsschreibung.
Der galizische Teil der Ukraine, liest man bei Verena Dohrn, sei „nicht Natur, sondern verwilderte Zivilisation“. Daran muss man unweigerlich denken, wenn man das jetzt im Kadmos Verlag erschienen Buch über „Galizien und Lodomerien“ zur Hand nimmt, in dem der französische Philosoph, Schriftsteller und Filmregisseur Marc Sagnol seine Reisereflexionen über ein Grenzland des alten Europas vereint hat, das gleichwohl das Herzland war einer untergegangenen, oder präziser gesagt: einer vernichteten und buchstäblich im Blut ertränkten jüdischen Kultur.
Galizien und Lodomerien
Eine Spurensuche
Es ist eine gestorbene Welt, die Sagnol beschreibt, von dem fast nur noch ausgebrannten Hüllen zu sehen sind, Ruinen einer jahrhundertealten Kultur, die selbst ihrem Verfall noch Zeugnis geben von ihrer früheren Bedeutung. Die Altstadt von Lemberg, dem heutigen Lwiw ist inzwischen UNESCO Weltkulturerbe geworden, und man hat eine Erinnerungsstätte an dem Ort errichtet, wo der Rest der Goldenen Rose steht, der prächtigsten unter den einst sechzehn Lemberger Synagogen; was die Stadtverwaltung freilich nicht daran gehindert hat, in unmittelbarer Nähe einen Kaufhauskomplex zu planen.
„Auch die Toten“, hat Walter Benjamin einst notiert, „werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“ Wem gehört dieses verwaiste Erbe, von dessen Nachfahren fast niemand mehr am Leben ist. Fast alle der über hunderttausend Mitglieder der jüdischen Gemeinden haben die Einsatzgruppen der Nazis und ihre ukrainischen Helfer erschlagen.
Jüdische Kultur: ‚Endlösung‘ durch Nichtstun
Der in Mannheim geborene israelische Soziologe Natan Sznaider war bei den Gedenkfeierlichkeiten 2016 zugegen, als sich die junge Ukraine hoffnungsvoll ihrer jüdischen Traditionen wieder besann. Und es fallen ihm Kafkas Worte ein. „Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung, nur nicht für uns.“
Heute sei Lemberg, wo einst die jüdische Aufklärung blühte, nur mehr eine ukrainische Landschaft, die sich „im Versuch der eigenen Europäisierung an die Juden erinnern will“. Von der ethnischen und kulturellen Vielfalt des alten Habsburgischen Kronlands jedenfalls sei nicht mehr viel übriggeblieben.
Es ist derselbe hoffnungsüberdrüssige Grundton der auch Marc Sagnols Beschreibungen durchzieht. Wo dieser vor Jahren noch glaubte, dass wenigstens die Ruinen der zerstörten jüdischen Existenz gerettet werde könnten, überwiegt heute die Resignation.
Sein Weg führt ihn über Bels, einer Stadt die vom Chassidismus geprägt war, nach Żółkiew, wo man der Reformbewegung der Haskala, der jüdischen Aufklärung nahestand. Die dortige Synagoge, die berühmte Sobieski-Schul, war eine der schönsten des alten Polens und ein Hauptwerk der polnischen Renaissance.
Sie könnte auch heute wieder „die schönste Synagoge der Ukraine“ sein. Aber die Bauarbeiter sind abgezogen worden, das neue Dach wurde gestohlen, und schutzlos, wie ein Schiff in Seenot, hat man das Bauwerk der Witterung und den Zeitläuften preisgegeben. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, schreibt Sagnol in einer der bittersten Passagen seines Buchs, dass „die Verschleppung der Restaurierung der Synagoge nichts anderes ist als eine stillschweigende Fortsetzung der ‚Endlösung‘ durch Nichtstun, eine gewaltsame Shoah der Erinnerung“.
Doch Żółkiew ist kein Einzelfall. Auf der Reise durch das alte Königreich Galiziens und Lodomerien, das einmal als blühendes Kronland zum cisleithanischen Teil Österreich-Ungarns gehörte und heute auf dem Gebiet der westlichen Ukraine liegt, wandert der Autor über die Brandfelder auch seiner Geschichte und steht vor den letzten Überbleibseln jener Welt, die dem Terror entgangen sind und jetzt einer bedenkenlosen Tiefenenttrümmerung überlassen werden in einer achtlos gewordenen Zeit. Für die heutigen Ukrainer gehe es eben nicht um die romantisierende Erinnerung an die alte Vielvölkerwelt Habsburgs, sagt Natan Sznaider, sondern nur um das „Epizentrum des antirussischen Widerstands“ im heutigen Freiheitkampf.
Sagnol verbirgt sein Erstaunen nicht über die Versuche der Geschichtsklitterung, denen er in diesem Teil der heutigen Ukraine begegnet; dem vergeblichen Versuch, den eigenen Freiheitskampf von allen Spuren des Völkermords zu desinfizieren. Unter den Handlangern des deutschen Mordens finden sich eben auch die ukrainischen Hilfswilligen; und neben den Einsatzkommandos der Nazis wütete auch eine einheimische SS-Division. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum wir diese Region so lange dem Vergessen und Stillschweigen überlassen haben: Sie berührt uns und unsere Geschichte auf schmerzhafte Weise selbst.
Sagnol beschreibt, was er sieht, in einer wunderbar schlichten, fast prosaischen Sprache. Und die genauen Details verraten den fotografischen Blick. Man möchte über der schieren Fülle der Namen verzweifeln, der Schicksale und Daseinsgeschichten, die er erwähnt; und doch erhalten sie für ein kurzen Moment ihr altes Leben zurück; in einer bunten, lärmenden, uns auch fremdgewordenen Welt, die unwiederbringlich verloren ist und doch zu unserer ganzen Geschichte gehört.
Was heute in der Ukraine bedroht wird, ist nicht nur die wiedererrungene Freiheit; es ist auch der letzte Nachhall eines alten Europas, von dem uns Marc Sagnols Spurensuche in Galizien und Lodomerien eine berührende Ahnung verleiht.