Schlaf, Bruder, schlaf
Sasha Filipenkos aufgeweckter Roman über ein Volk im Koma, das überraschend erwacht
Als Sasha Filipenkos Roman „Der ehemalige Sohn“ 2014 in russischer Sprache veröffentlicht wurde, stand er in Belarus zwar nicht auf dem Index, er war aber in Minsker Buchläden nur als Bückware zu bekommen. Die Geschichte spielt in den Jahren 2009ff., aber sie hat sich als sehr hellsichtig erwiesen. Filipenko sieht in ihm, wie er im Vorwort der eben erschienenen deutschen Übersetzung schreibt, „eine Erklärung dafür, warum die Belarussen 2020 nicht mehr weiterschlafen wollten und aus ihrem Koma erwachten“.
Der Plot an sich ist nicht originell: Filipenkos Held, Franzisk Lukitsch, ein 17-jähriger Musikschüler, wird Opfer einer Massenpanik in einer U-Bahnstation. Er fällt, getreten und zerquetscht, ins Koma und wacht – niemand außer seiner Großmutter gibt auf sein Leben noch einen Pfifferling – zehn Jahre später auf. Aber was Filipenko, Autor von „Rote Kreuze“ aus dieser Geschichte macht, ist eine ohrenbetäubende Offenbarung der Zustände in einem osteuropäischen Land.
Als Zisk noch lebte, wirklich lebte, spielten die Kinder im Hinterhof „Proteste niederschlagen“. Wenn sie der Kinderstube entwachsen sind und aus dem Spiel ernst machen, würde Zisk bald zu den von ihnen Geschlagenen gehören. Noch aber besteht sein Widerstand darin, die Landessprache zu sprechen statt des vorordneten Russisch. Darüber streitet er sich mit seinen Mitschülern auf dem Schulklo, dessen Wände mit Obszönitäten beschmiert sind und wo Notenblätter als Toilettenpapier herhalten müssen. „Dürfen wir uns denn im eigenen Land nicht in unserer Muttersprache unterhalten?“
Offenbar nicht. 2003, da liegt Franzisk schon in seiner Krankenhausgruft, bewacht und betüttelt von der Großmutter, wird in Minsk tatsächlich das letzte Humanistischen Lyzeums des Landes geschlossen, in dem auf Weißrussisch unterrichtet wurde.
Welche Aufgabe Schulen in Belarus haben, erhellt ein Dialog der Lehrer bei der Jahresabschlusskonferenz:
„Ich habe gedacht, bei uns geht es darum, denkende Menschen heranzuziehen…“
„Da irren Sie sich, Waleri Semjonowitsch. Der Mensch ist an sich schon ein denkendes Wesen. Man muss das Rad nicht noch einmal erfinden, alles wurde schon vor uns erledigt.“
Dann vergeht viel Zeit. Aber das Land verändert sich nicht, jedenfalls nicht zum Positiven. Es bleiben allerhand Geschichtslügen, und beim Eishockey gewinnt immer der Präsident. Die Lage verschärfte für jene, die sich noch nicht zufrieden gaben mit Ruhe, stabilem Einkommen und Sauberkeit, weil die Untertanen des Präsidenten sich „an ihrer täglich wachsenden Macht ergötzten“.
Der ehemalige Sohn
„Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst“, sagt sein Kumpel Stassik im Krankenzimmer zu dem Schlafenden, „aber derzeit rate ich dir – wach nicht auf!“ Es sei inzwischen nämlich so: „Schlaf lieber. Sonst sagst du noch was, und du wirst sofort eingesperrt oder zusammengeschlagen vor dem Hauseingang. Etwas anderes gibt es nicht in diesem Land. Entweder du hältst die Klappe, oder du kriegst einen auf den Deckel. Das ganz Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter. So beschissen ging’s uns noch nie.“
Als Ermittlungsbeamte nach einer Bombenexplosion ins Krankenhaus kommen, um Franzisks Fingerabdrücke zu nehmen, sagt die Großmutter: „Aber Fingerabdrücke werden doch nur von Verdächtigen genommen!“ Antwort des Beamten: „Bei uns sind alle verdächtig.“
Der ewige Präsident
Als Franzisk schließlich doch aufwacht, und er und seine Erinnerung überraschend schnell wieder genesen, ist der alte Präsident noch immer an der Macht. Die Menschen haben sich arrangiert, was blüht ist der Sarkasmus: „Wir leben im besten Land für erwachende Komapatienten“, sagt einer von Zisks Ärzten. Das ganze Land habe sich in ein Bühnenbild seiner Kindheit verwandelt. „Besser hätte ihn der Staat gar nicht unterstützen können.“
Im Café gibt es ein neues Spiel, es heißt Absurd. Jeder im Kreis muss eine unglaubliche Geschichte erzählen. Wer nichts erzählen kann, fliegt raus. Einzige Spielregel: Die absurden Geschichten müssen wahr sein.
Schließlich nimmt Franzisk an einer Demonstration teil, nachdem der Präsident, den niemand wählt, wieder 75 Prozent der Stimmen erhalten haben soll. „Ich gehe nicht auf die Straße, um eine Revolution anzuzetteln oder um mich zu prügeln oder Losungen zu skandieren. Aber ich will mich davon überzeugen, dass dieser ganze Surrealismus nicht wahr ist“, sagt Franzisk. „Ich will einfach sehen, dass außer mir auch andere Leute hinausgehen, die genauso nicht an diese Farce glauben, und spüren, dass ich nicht die einzige Geisel in diesem Narrenhaus bin.“
Und dann steht er staunend auf dem längsten Boulevard von ganz Europa und sieht die Menschenmenge, Hunderttausende, die wie er die Angst besiegt hatten. „Es gibt nichts Wichtigeres, als über den Abgrund der eigenen Angst zu springen.“
Was dann folgt, müssen Sie schon selbst lesen. Jede Zeile lohnt sich.
Lesen Sie auch die Rezension des ersten in Deutschland erschienenen Romans von Sasha Filipenko: „Rote Kreuze“.