Russland: Kein Kompromiss ohne Kampf
Jens Siegert bringt mit seinem Buch „Im Prinzip Russland“ Licht ins Dunkle
Für die meisten Deutschen erscheint Russland als ein merkwürdiges Land. Nicht weil die Menschen dort Marmelade in Tee löffeln, Zitrone in Kaffee mischen und so viel Wodka trinken. Sondern, neben vielen anderen Absonderlichkeiten, weil sich das traditionelle Familienbild so hartnäckig hält und so viele Russen einen Diktator wie Stalin verehren. Das erscheint aufgeweckten Demokratinnen und liberalen Demokraten in einem Land, in dem sie gut und gerne leben, doch unverständlich.
Jens Siegert, der bald 30 Jahre in Russland lebt, versucht, Licht ins russische Dunkel zu bringen. Viel hat mit der Geschichte zu tun, mit der Erinnerung an Bedrohungen von außen und Mangel im Innern, an Kränkungen von Land und Leuten. Auch damit, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion zwar der strafende Staat verschwunden war, aber auch der sorgende. „Auf die Freiheit aber waren weder die Menschen noch der Staat vorbereitet“, schreibt Siegert.
Um damit fertig zu werden, braucht es Helden und deren Verehrung. Im Privaten ist der Mann Ernährer und Beschützer, die Frau Mutter und Pflegerin des Heims. Und Stalins wachsende Reputation beruhe auf der „Annahme vom starken Staat, der das schwache oder zumindest wankelmütige Volk disziplinieren muss. Der Staat als Vater und das Volk als seine Kinder.“
Siegert berichtet unterhaltsam und lehrreich über die lebenswichtige Bedeutung der Datscha, allfällige Probleme mit Beamten, zum Beispiel bei der Registrierung der Wohnadresse. Auch dem Toast widmet er eines seiner 22 Kapitel, der müsse „einen höheren Zweck haben als nur betrunken zu werden. Der Toast adelt den Schluck“. Eine Gebrauchsanweisung liefert Siegert auch mit: „Das Glas muss in einem Zug do dan, bis auf den Grund ausgetrunken werden, damit der Toast gilt.“ Misslich bleibt allerdings, dass der letzte Schluck noch lange nicht Adieu heißt, der Abschied so lange dauert.
Eine Wiederauferstehung hat die Orthodoxie unter Putin erlebt, die Staatskirche. „Die Idee der Symphonie ist wieder lebendig“, fasst Siegert das neue Zusammenspiel von Staat und Kirche zusammen. „Denn die gemeinsamen Interessen bleiben groß.“
Erst Kampf, dann Kompromiss
Das scheint weniger für Europa zu gelten. Siegerts zentrale Aussage: „Russland will in Europa etwas zu sagen haben, sich aber von Europa nichts sagen lassen.“
Auch über Flirts wird geschrieben, die russischen Affären mit der Demokratie. Die erste Annäherung unterbanden die Bolschewiken, die zweite Jelzin mit seiner Panzerpolitik im Innern und der neoliberalen, westlichen Wirtschaftsagenda, die das Vertrauen in die Demokratie zerrütteten, nachhaltig.
Für Deutsche sicher überraschend ist Siegerts Erkenntnis, dass sich das russische Establishment dem „angeblich im moralischen wie wirtschaftlichen Niedergang befindlichen Westen“ überlegen fühlt. Dass bisweilen aggressive Politik und Rhetorik der Russen die „verweichlichten Deutschen, denen die Amerikaner das Kämpfen ausgetrieben haben“, einschüchtert – für Russen lächerlich.
Siegert erzählt eine Episode aus dem Jahrestreffen 2013 des Petersburger Dialogs in Moskau, die das bestätige. „Wie so oft in diesem Forum achtete die deutsche Seite sehr auf Verbindlichkeit, Höflichkeit und die Möglichkeit zur Verständigung, während die russischen Redebeiträge meist sehr hart und kompromisslos ausfielen. Vielen Deutschen war eine Art Schuldgefühl anzumerken, während die Russen immer ein wenig beleidigt wirkten.“ Das letzte Wort habe ein Abgeordneter der Duma gehabt, ein „russisch-nationalistischer Hardliner“, so Siegert. „Er fragte die anwesenden Deutschen, rhetorisch versteht sich, ob sie bereit wären, für Georgien in den Krieg zu ziehen. Offensichtlich nicht. Wir, die Russen, so der Abgeordnete, seien das sehr wohl: Ende des Gesprächs!“
Siegerts Rat: Es sei nötig, auf Provokationen, die meist „Belastungsprobe und Selbstvergewisserung“ seien, mit einem klaren „Halt, so nicht!“ zu reagieren. „Vor einem Kompromiss muss es immer einen ernsthaften Kampf gegeben haben, am besten mit, bildlich gesprochen, blutigen Nasen auf allen Seiten. Ohne Kampf wird das gegenüber als schwach eingeschätzt und bei der nächsten Gelegenheit erneut herausgefordert.“
Im Prinzip Russland. Eine Begegnung in 22 Begriffen