Kein Respekt, keine Toleranz
Licht im Westen, Dunkelheit in Osten? Norbert Mappes-Niedieks „Europas geteilter Himmel“ öffnet Augen
Norbert Mappes-Niediek kennt Osteuropa und die Menschen dort. Er ist ein Fachmann der Geschichte, ein feinsinniger Beobachter der Gegenwart und fähig zum Blick in die Zukunft. Wer will, kann bei ihm eine Menge lernen über die Ursachen der Missverständnisse in der EU und die Abwendung Russlands von derselben. Wer lernen will, muss allerdings bereit sein, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, dem östlichen.
Der Mainstreamwestler sagt: Wieso sollte ich das tun? Wollen wir die Aufklärung wegwerfen? Den Fortschritt umkehren? Unsere Zivilisation verraten? Welch ein Rückschritt!
Aber es lohnt sich, Mappes-Niedieks Buch "Europas geteilter Himmel" zu lesen. Er schafft es immer wieder, Nachdenklichkeit zu erzeugen, mit ganz alltäglichen Beobachtungen.
Vielleicht doch mal einen Versuch wagen?
In Bukarest streunen 60 000 herren- oder frauenlose Hunde umher, täglich müssen Dutzende Menschen nach Hundebissen gegen Tollwut geimpft werden, jeder fünfte davon ein Kind. Nachdem Straßenhunde einen vierjährigen Jungen totgebissen hatten, sagt die Regierung: Es reicht. Sie bringt ein „Gesetz zur Hunde-Euthanasie“ auf den Weg, um die Plage einzudämmen. Tierschutzorganisationen im Westen protestieren. Ach was: Shitstorm! Mappes-Niediek notiert nüchtern: „In Rumänien gehörte die ganze Empathie dem Vierjährigen aus dem Lindenpark, unter den westlichen Tierschützern galt sie den Hunden.“
Noch einen erhellenden Blick wagen?
Auf dem Balkan lebten die Völker seit Jahrhunderten zusammen und haben dort eine beachtliche „Toleranzkultur“ entwickelt, schreibt Mappes-Niediek, der den Balkan auswendig kennt. Nach den Kriegen im früheren Jugoslawien hätten westliche Regierungen, Stiftungen und NGOs viel Geld dafür ausgegeben, um die „fanatischen Religions- und Kulturkrieger einen toleranten Umgang miteinander“ zu lehren. Unverständnis allerorten.
Wenn Frauen aus dem Westen den Kopf schüttelten, weil Osteuropäerinnen sich etwa als Ingenieur bezeichneten, dann antworteten die Ostfrauen: „Frauen in diesem Beruf sind bei uns eine Selbstverständlichkeit, die ‚Ingenieurinnen‘, auf deren korrekte Benennung ihr so großen Wert legt, gibt es bei euch ja gar nicht.“ Dass der westliche Feminismus sich an marxistischem Denken geschult habe, tat ein Übriges.
Lieber etwas Grundsätzlicheres?
Die EU besteht, das weiß im Westen jedes Kind, aus einem gebenden, befruchtenden und einem empfangenen Teil. Nettozahler hier, Nettoempfänger dort. Der Osten sieht das differenzierter: Westliche Konzerne profitierten enorm durch niedrige Löhne und Sozialabgaben sowie Steuergeschenke im Osten, durch neue Absatzmärkte, wo sie die dort billig produzierten Waren zu überhöhten Preisen verkaufen. Außerdem übernehme der Westen sehr gern im Osten ausgebildete Experten, Fachleute, Ärzte, Wissenschaftler. Seine Probleme mit der Zuwanderung aber, so spricht der Osten, will der Westen delegieren.
Privatisierung als räuberischer Zugriff
Wie wär’s schließlich mit einem Blick auf die Machtübernahme der Marktwirtschaftler im Osten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs? Radikale Privatisierung, die den Osteuropäern verordnete Schocktherapie, erwies sich als Desaster. In Stichworten: Private Aneignung des Volkseigentums, häufig ohne rechtliche Grundlage, Recht des Stärkeren, des Mächtigeren, der Nomenklatura. Ergebnis: einige Paläste, sonst nur Hütten.
Europas geteilter Himmel
Warum der Westen den Osten nicht versteht
Russland sei das abschreckende Beispiel gewesen. „Von Parteikontrolle und ‚sozialistischer Moral‘ befreit“, so Mappes-Niediek, „begannen Manager in großer Zahl damit, sich den Reichtum ihrer Werke privat anzueignen – etwa indem sie Produkte ihrer eigenen Firma unter Wert kauften und beim teuren Weiterverkauf privat mitschnitten. Oder indem sie private Firmen gründeten, die dann mit den von ihnen geführten Staatsbetrieben unfaire Geschäfte machten. Die heute über hundert russischen Milliardäre begründeten hier ihr Vermögen.“ Das präge bis heute die osteuropäischen Gesellschaften – Folge der vom Westen verordneten, gnaden- und rücksichtslosen Wirtschaftspolitik.
In Sibirien seien ganze Städte, abhängig von einem Kombinat, stillgestanden. Lebendige Gemeinwesen hätten sich in eine bloße Ansammlung von Häusern verwandelt – mit Menschen, die um ihr Leben kämpfen mussten, bis ein Oligarch kam, der die notleidende Firma an sich riss und ausplünderte. So auch geschehen in Bulgarien, Serbien, Kroatien, Nordmazedonien, Albanien, wo sich eine Szene organisierter Kriminalität entwickelte. Die Privatisierung wurde sprichwörtlich zum räuberischen Zugriff. Wer könnte da sein Herz an Demokratie und Marktwirtschaft verlieren?
Der rückständige, unzivilisierte Osten
Aber der Osten hatte abgewirtschaftet, heißt es im Westen, war nicht wettbewerbsfähig. Mag sein. Das Gefühl aber bleibt, über den Tisch gezogen und zu etwas gezwungen worden zu sein.
Aber ist der Osten rückständig? Unsinn, meint Mappes-Niediek. In der nachgeholten Industrialisierung in der kommunistischen Ära habe der Abstand zum Westen nicht abgenommen, zwischen 1950 und 1990 sei das Pro-Kopf-Einkommen in der Sowjetunion, der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn um das Zweieinhalbfache gestiegen – ähnlich wie in Großbritannien, Dänemark, Schweden und den Niederlanden.
Unterscheidet der Osten sich vom Westen aus historischen, kulturellen, religiösen Gründen? Bestand und besteht diesbezüglich ein Graben zwischen Ost und West?
Schon Zar Peter der Große sei „ein mächtiger Fürsprecher“ der Aufklärung gewesen, erinnert Mappes-Niediek. Dostojewski und Tolstoi zählten mit Proust und Zola zu den größten Romanciers der Literaturgeschichte. In deren Werken finde man nichts „Östliches“. Und keine Philosophie habe den Osten so sehr beeinflusst wie der Marxismus einer westlichen Denktradition.
Ganz zu schweigen von der Architektur: die stolzen Wehrkirchen in Siebenbürgen, Städte wie Sibiu (Hermannstadt) und Sigisoara (Schäßburg) müssten den Vergleich mit Carcassonne oder Rothenburg ob der Tauber nicht scheuen. Die üppigen klassizistischen Palais, die strengen Bauhaus- und verspielten Jugendstilvillen Bukarests, die größten Ensembles des Art nouveau Europas seien im Osten zu finden, von Riga bis Osijek und nach Jassi an der moldauischen Grenze.
Und die konfessionelle Grenze? In Russland, darauf weist der Autor hin, gingen regelmäßig nur 0,55 Prozent in eine Kirche, kaum fünf Prozent der Gläubigen.
Die große Kränkung seit 1990
Was den Osten und den Westen trennt, ist etwas anderes: „Kränkung ist im Ost-West-Verhältnis eingebaut“, so Mappes-Niediek. Die Plünderung Konstantinopels sei im orthodoxen Osteuropa nicht vergessen. Vor 80 Jahren sahen die Deutschen die Osteuropäer als minderwertige Rasse, Polen und Tschechen waren allenfalls als Dienstboten zu gebrauchen. Heute seien „an die Stelle der römischen Kirche im östlichen Empfinden die westlichen Nationen getreten“. Das habe sich im vereinten Europa erhalten, „das Klischee vom aufgeklärten Westen und dem rückständigen Osteuropa“.
Die Kränkungen seit 1990 sind vielfältig: Schon als der prowestliche Boris Jelzin im Kreml regierte, seien russische Wünsche in Washington und London, in Paris und Berlin arrogant ignoriert wurden. Die Nato dehnte sich gen Osten aus. Hätte die NATO, so der Autor, in Moskau nicht wenigstens fragen müssen? Könnte es nicht sein, dass Russland sich bedroht fühlte?
Das Bombardement Serbiens ohne Mandat des Sicherheitsrats? Die Vertreibung der kroatischen Serben? In diesen Fällen drückten die Amerikaner und ihre europäischen Alliierten beide Augen zu.
Die Annexion der Krim, klar völkerrechtswidrig, sehen allerdings nicht nur Russen als Aktion nach dem Drehbuch der USA im Kosovo. Ist es erlaubt, Mappes-Niedieks Frage zu stellen? Wieso dürfen die Russen nicht, was die Amerikaner dürfen?
Weil sie es durchsetzen können. Aber diese Herrscherarroganz hat ihren Preis: „Nicht nur in Russland, in ganz Osteuropa hat der Westen ein Überlegenheitsgefühl demonstrativ vor sich hergetragen“, schreibt Mappes-Niediek. „Was später in Ungarn und in anderen osteuropäischen Ländern, selbst im tief antirussischen Polen, ‚dem Westen‘ an Empörung entgegenschlug, speiste sich aus demselben Gefühl: Die anderen fühlen sich uns aus unerfindlichen Gründen moralisch überlegen, lösen ihren Anspruch aber erkennbar nicht ein.“
Das kommt an als Arroganz und Heuchelei. Die „frommen Bekenntnissen zu Menschenrechten und Humanismus“? In den Augen des „Ostens“ Hohn. Freedom and democracy? Bemäntelungen partikularer Interessen. Schon immer, schon im Nahen Osten, wo das Öl im Boden liegt.
Nicht dass Mappes-Niediek nicht auch gegen den Osten austeilt: Die Städte seien zu Kleinodien geworden, das Pro-Kopf-Einkommen ist gestiegen, die Wirtschaft wächst, die Reallöhne ebenfalls. „Alles wurde besser im Osten, nur die Stimmung nicht.“
Und zu allem Unglück kommt auch noch die Idee zurück, Russland sei der Träger der Idee, „die höchsten himmlischen Ideale von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit auf der Erde Wirklichkeit werden zu lassen. Offenbar hatte der nationale Mechanismus zu kommunistischer Zeit hinter den marxistischen Phrasen nur geschlummert. In der Ära Putin dann wurde die Ideologie nach und nach zum Mainstream.“
Was unterscheidet Ost und West?
Wem gehört die Zukunft, dem liberalen Europa oder autoritären Nationalstaaten? Emmanuel Macron hat Europas Zukunft im September 2017 an der Sorbonne klar formuliert: „Europa wird von der Vorstellung leben, die wir uns von ihm machen.“
Sieht so aus, als wolle der Osten Europas nicht unbedingt folgen, schon gar nicht Russland. Dort wurde aber nicht gefragt, ob man zu dem gehören wollte, was der Westen als alternativlos voraussetzte.
Ist ein Rückweg möglich? Ein Neustart? Unmöglich, sagt Mappes-Niediek. Der Preis wäre zu hoch, Voraussetzungen wären: Konsumwünsche der Bürger beschneiden, brachiales Aufbauprogramm starten (womit?), Jugend im Land „einsperren“, autokratische Führung. „Mit der Mitgliedschaft in der Europäischen Union wäre diese Entwicklung nicht zu vereinbaren.“
Was also unterscheidet Ost und West? Das Menschliche. Der Umgang miteinander. Toleranz.
Wer fremd ist im Osten, könne auch dort zwar zum Feind werden, räumt Mappes-Niediek mit Verweis auf die Geschichte ein. „Aber wegen seiner Andersartigkeit oder Lebensweise beschämt, verspottet oder nur schief angesehen zu werden, bleibt ihm in einer osteuropäischen Gesellschaft meistens erspart. Fremdes mag abgelehnt werden, findet aber Anerkennung.“
Es fällt das Wort Respekt. „Mit political correctness oder Gutmenschentum, als die die zuweilen gekünstelten Respektbezeugung gegenüber Fremden in westlichen Gesellschaften neuerdings denunziert werden, hat das nichts zu tun. Wer fremd ist, wer nicht zur empfundenen Familie gehört, darf anders fühlen, denken, handeln. Nicht mit Ablehnung müsse rechnen, sondern mindestens mit höflicher Distanz und bestenfalls freundlicher Neugier.“
Wer dagegen in einer westlichen Gesellschaft Respekt genießen wolle, müsse dafür sorgen, nicht als fremd angesehen zu werden. „Nach dem östlichen Muster dagegen ist es gerade Fremdheit, die vor Übergriffen und Erniedrigungen schützt.“