Liebe, die Religion der Schwachen
Ein Roman wie eine Matroschka: „Revolution“ von Viktor Martinowitsch offenbart immer wieder Überraschendes
„Also (Trommelwirbel), ich heiße Michail Alexejewitsch German, und ich werde euch erzählen, was Macht ist.“ Dieser Satz findet sich auf Seite 12 des neuen Romans von Viktor Martinowitsch und ist gewissermaßen seine kürzeste Beschreibung. Aber ich wollte es als Leser gar nicht kurz, denn „Revolution“ ist einer der Romane, bei denen man leicht nervös wird, wenn die Zahl der Seiten in der rechten Hand immer weiter schrumpft.
Nach „Paranoia“ (deutsch 2014) und „MOVA“ (deutsch 2016) handelt es sich um den dritten Roman des 1977 in Belarus geborenen Autors, der heute in Vilnius Politikwissenschaften lehrt. Er hat das Zeug, in meinem Ranking einer der besten des Jahres 2021 zu werden, von dem gerade ein Viertel vergangen ist. Glückwunsch an seinen deutschen Verlag Voland & Quist und seinen Übersetzer Thomas Weiler.
Michail Alexejewitsch German, der Erzähler, ist ein zugezogener Moskauer. Er stammt aus der Provinz, hat in Architekturgeschichte promoviert und quält als Hochschullektor, einem sehr unteren Rang in der Hierarchie der Moskauer Europa Universität, seine Studenten mit Vorlesungen über Baugeschichte, die niemanden vom Hocker reißen. Angeblich schlafen die Studierenden bei ihm.
Zum Schlafen kommt der Leser nicht, denn schon im zweiten Kapitel gibt es mitten im Frieden Krieg, Krieg auf Moskaus Straßen. Verlierer ist der Erzähler und dessen rostiger Lada, aber in den Unfall sind zwei andere, wesentlich teurere Autos verwickelt. Das kostet den Erzähler fünfzigtausend Dollar, die er natürlich nicht hat.
Aber wenn die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten. Von unbekannter Seite wird ihm das Geld in einem Rot-Kreuz-Verbandskasten zugesteckt, und er macht die Bekanntschaft mit Batja, einem alten Mann, der gleich einem Gott ein Imperium führt, das sich als „Freundeskreis“ tarnt.
Batja stellt seine mafiagleiche Organisation vor, als wäre es die Heilsarmee: „Wir sind eine Gruppe von Menschen, die einander helfen. Mehr nicht.“ Eine Unterstützergemeinschaft, angeblich.
Aber dann soll der Erzähler den „Freundeskreis“ unterstützen und die fünfzigtausend Dollar abarbeiten. Er wird als Zeuge zu Gericht geschickt, um durch eine falsche Aussage jemanden zu belasten, der große Ähnlichkeit mit Michail Chodorkowski besitzt. Plötzlich gibt sich der Roman als Politthriller zu erkennen, der brutale Moskauer Machtspiele von heute nachspielt.
Aber das praktiziert sein Autor Viktor Martinowitsch nicht mit der Geste des Enthüllers, sondern hebt sie auf die philosophische Ebene. Batja ver- oder erklärt seine Macht als Dienst an der Gemeinschaft: „Nimmt man dem Menschen das Machtstreben, versinkt unsere Gesellschaft im Chaos dauerkonsumierender Moleküle. Wenn Sie so wollen, ist der Wille zur Macht das einzige rationale Prinzip, das dieses Chaos zu ordnen vermag.“
Mit diesem Begleittext beginnt Michail Alexejewitsch German seine Karriere als Assistent des Meisters. Anfangs etwas zögerlich, später immer ungehemmter. Das neunte Kapitel des Romans trägt die Überschrift: „...in dem ich einen Menschen in den Kopf schieße“.
Macht und die Romantik der Liebe
Glücklicherweise gleitet der Autor nicht in Gewalt-Trash ab, sondern offenbart die Tat am Ende als Traum, der aber so realistisch entwickelt wurde, dass er kaum noch als Traum durchzugehen vermochte. Vor der Lektüre des zehnten Kapitels warnt der Erzähler sogar. Darin geht es aber nicht um Gewalt, sondern um Anna, die Assistentin des Obermächtigen, deren weibliche Einladung der Erzähler nicht auslassen kann.
Die Warnung vor der Lektüre galt nicht dem Leser, sondern Olja, seiner Liebsten, der der ganze Roman als Beichte gewidmet ist. Nun sind das zwei Dinge, die sich ausschließen wie Feuer und Wasser, ein Roman über die Macht und ein Roman über die Romantik der Liebe. Viktor Martinowitsch schließt beides nicht aus.
Wenn es um Macht geht, geht es vermutlich darum, den Gegner zu täuschen. Am Ende des Romans täuschen sich furios alle in allen, einschließlich der Leser. Olja ist nicht die stille Bedienung im Café „Kurilen“, Batja nicht der Obermächtige und Michail nicht sein loyaler Assistent.
Es soll hier nicht verraten werden, wer bis zur letzten Seite wen aus dem Weg räumt. Aber es steht fest, dass der Wille zur Macht keine Grenzen kennt. Die Revolution vermag einen Berg umzuschaufeln, aber es entsteht wieder ein Berg. Offenbar geht es bei Machtspielen immer noch ein Stück weiter. Jedes der sechzehn Kapitel bietet eine neue Überraschung.
Was Viktor Martinowitsch' Roman „Revolution“ so außerordentlich macht, ist seine Universalität. Er ist Liebesroman, Politthriller, Entwicklungsroman und philosophischer Roman in einem. Sein Bauplan ähnelt dem einer Matroschka. Immer steckt noch eine neue Figur im Innersten. Stilistisch bewegt sich „Revolution“ zwischen Schelmenroman und Groteske.
Weil er vieles sein will und ist, haben die Sätze oft viele Einschübe zu tragen. Aber sie verlieren nicht die Übersicht. Und außerdem besitzt ihr Autor die wunderbare Gabe, im richtigen Rhythmus das Ausschweifende mit hammerharten Sätzen zu kontern.
Seine Beichte vor der geliebten Olja, die eigene Bluttaten bemänteln soll, gipfelt in der Unschuldsbeteuerung: „Wer liebt, ist des Bösen unfähig.“ Und seine Mitwirkung an Batjas Machtspielen bekommt die Erklärung: „Freiheit, wahre Freiheit liegt in der Unterordnung.“
Der Held wird in diesem Entwicklungsroman bis zum Ende vom Schoßhund zum Antihelden mutieren. Er versucht seine mörderische Unterordnung mit der Leere in seinem Kopf zu entschuldigen: „Entsteht nicht aus dieser Leere heraus in den Menschen der Wille zur Unterordnung?“ Was bietet sich nach langen Phasen der Unterordnung an? Eine Revolution! Womit Viktor Martinowitsch den Titel perfekt einlöst.
Es gibt reichlich vom Bösen in diesem Roman, aber es ist auf jeder Seite so witzig, intelligent und phantasievoll erzählt, dass den Leser das Ende nicht erlöst, sondern überfällt. Wenn alles kopfsteht, wie bei einer Groteske, muss der Leser auch diesen Satz aushalten: „Liebe ist, wie das Christentum, die Religion der Schwachen.“
Ein Roman mit Trommelwirbel.
Revolution