Getunt: Gontscharows Geschichte
Vergiss Träume, Hoffnung, Glück: Vera Bischitzky hat „Eine gewöhnliche Geschichte“ zeitgerecht übersetzt
Guten Romanen aus anderen Ländern kann es widerfahren, dass sie in bestimmten Abständen neu ins Deutsche übersetzt werden. Die vorangegangene Übersetzung muss deshalb nicht schlecht sein. Aber nach vierzig, fünfzig Jahren hat sich die Sprache gewandelt, Wörter sind aus dem Gebrauch gekommen, Gefühle zeigen sich mitunter anders, ja, sogar Figuren und ihr Handeln kann man im Licht einer neuen Zeit anders bewerten.
Iwan Gontscharows Roman „Eine gewöhnliche Geschichte“ hat schon drei Übersetzungen auf dem Buckel, die letzte 1965 von Ruth Fritze-Hanschmann, ehe jetzt Vera Bischitzky eine neue vorgelegt hat. Dass es seit Erscheinen des Romans 1847 vier sind, ist ein untrüglicher Beleg, dass der Roman immer noch Leser hat und neue finden sollte.
Iwan Gontscharow ist für die Liebhaber der russischen Literatur aus der Zeit von Turgenew, Tolstoi und Dostojewski ein leuchtender Name. Man kennt seinen „Oblomow“. Dieser Roman liefert das Bild eines Menschen, dem materielle Sicherheit alle Energie genommen hat. Der Mittagsschlaf ist zum Zentrum des täglichen Lebens von Oblomow geworden. Es handelt sich nicht um irgendeinen Menschen, sondern um einen russischen Adligen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit ihm um ein Porträt der damaligen russischen Oberklasse, die die Wende in die moderne Zeit und den Anschluss an Europa verpasst.
Die verlorenen Träume des Alexander Adujew
Dieser Oblomow hat in Alexander Adujew aus Gontscharows „Eine gewöhnliche Geschichte“ seinen Vorgänger. Der Autor hat für sein Projekt über die russische Oberklasse eine Trilogie geschaffen, in der „Oblomow“ (1859) der zweite und „Die Schlucht“ (1869) der abschließende dritte Teil sind. Den Auftakt dieser nicht in der Handlung, dafür im Erzählkonzept verbundenen Romane bildet „Eine gewöhnliche Geschichte“.
Die Geschichte, die über mehrere Jahre reicht, beginnt mit Alexander Adujews Abreise nach Petersburg. Unbegrenzt wohlhabend ist die verwitwete Frau eines Majors nicht, aber es reicht für ein kleines Gutshaus, ein paar Diener und eine bemessene Apanage für den Sohn von zweieinhalb Tausend Rubel im Jahr. Das Größte, das die Mutter besitzt und ihrem Sohn mitgibt, ist die Hoffnung, Alexander möge in der Stadt eine glänzende Karriere machen. Aber danach sieht es zunächst auch aus.
Alexander, erst Anfang zwanzig, besitzt eine außerordentliche Schulbildung und nicht weniger lobenswerte Ideale. Er kann sich neben anderem auch vorstellen, Schriftsteller zu werden. Der junge Mann aus der Provinz bestaunt St. Petersburg, immerhin damals Russlands Hauptstadt. Und weil er sich, nur geübt in seiner Dorfwelt, dort nicht zurechtfinden würde, vertraut er sich seinem Onkel an, der schon vor zwanzig Jahren den Sprung in die Metropole gewagt hat.
Alexander nennt Pjotr Iwanytsch zwar ständig „lieber Onkel“, aber eine Hilfe ist der ihm bei der Einführung in die Hauptstadtwelt nicht. Denn der „liebe Onkel“ weiß, dass nichts weniger hilft, als Ideale zu haben. In seinen Kreisen geht es um den eigenen Vorteil, um Verstand beim Rechnen. Freundschaften sind ein Thema, wenn sie was einbringen, sonst lässt man sie.
Nicht die Frauen, aber die Liebe, zumal sie Kummer bereiten könnte, lässt man erst recht. Die Romantik der Provinz ist in Petersburg bereits passé. Im Umfeld neuer Produktionstechniken und globaler Handelsbeziehungen Mitte des 19. Jahrhunderts zählt allein die kühle Vernunft.
Fatalerweise hat der „liebe Onkel“ großen Einfluss auf seinen Neffen. Der lässt seine Ideale fahren, klagt nicht, wenn er zum dritten Mal bei einer Beförderung im Büro übergangen wird und trennt sich von der Freundin, weil der Onkel es rät. Als ihm später eine junge Frau ihre Gefühle für ihn zeigt, tritt Alexander die Flucht an.
Nur einmal noch kommt auf Vermittlung der Frau des Onkels ein Gespräch zustande. Darin erklärt Alexander sein Einsiedlerleben mit den Worten: „Ich verlor mit fünfundzwanzig Jahren das Vertrauen in das Glück wie das Leben und meine Seele alterte.“
Es ist das Werk seines „lieben Onkels“, der ihn einen „Zugereisten von der Grenze Asiens“ nannte, weil er beharrlich an das Glück glaubte. Der Onkel sah sich berechtigt, seinem Neffen Träume und die Hoffnung auf das Glück auszureden, denn „in Europa glaubt man schon lange nicht mehr an so etwas“.
Gontscharow greift in seinem Roman das Thema des Wertewandels auf, das Europa Mitte des 19. Jahrhunderts angesichts des aufkommenden Kapitalismus erfasst hatte. Eine literarische Figur wie Alexander Adujew ist am Ende nichts weiter als ein bedauernswerter Romantiker, von dem sogar der Onkel sich zu distanzieren beginnt. Plötzlich weiß er in der „sachlichen Zeit“ zu unterscheiden zwischen dem Zwang zu Maß und Besonnenheit und seiner inneren Überzeugung, dass Gefühle dauerhaft und ewig sein müssen. Als Antwort bekommt er von seinem Neffen nur ein bitteres Lachen.
Gontscharows Zombie
Dass der rund 175 Jahre alte Roman plötzlich das Zeug hat, eine Wertedebatte neu zu führen, verdankt sich der Übersetzung von Vera Bischitzky. Sie hat nicht erst die Debatte über widerstreitende Lebensvorstellungen freigelegt, die war im Original immer enthalten, aber sie hat sie sprachlich näher verbunden mit unserer Lebensrealität.
Und noch eine zweite Qualität weist die Neuübersetzung auf. Den Roman hat Iwan Gontscharow zu mindestens zwei Dritteln, wahrscheinlich sogar mehr, in Dialogform geschrieben. Für einen fast 500 Seiten umfassenden Roman, der alte Sprachformen, die Emotionalität des Russischen, die üppigen Höflichkeiten der Entstehungszeit nicht verlassen kann, ist es nicht eben leicht, den Leser immer zu fesseln.
Vera Bischitzky überspringt den Graben der Zeit durch stärker als im Original betonten Witz und Humor. Sie kostet gelegentlich das gestelzte Sprechen aus, wenn ein Gedanke dreimal gewendet wird, und nennt es, was es ist: ein „gestelztes Sprechen“.
Wie in diesem Entwicklungs- und Gesellschaftsroman aus einem hoffnungsvollen jungen Mann im Russland des 19. Jahrhunderts etwas wird, was wir heute einen Zombie nennen, empfiehlt den Roman. Der Neuausgabe verdanken wir, dass er uns überhaupt wieder auffällt. Auch das ist oft die Leistung einer Neuübersetzung. So sie – wie bei Gontscharows Roman „Eine gewöhnliche Geschichte“ – gelungen ist.
Eine gewöhnliche Geschichte
Neu übersetzt von Vera Bischitzky