Die Schmerzen der Wiedervereinigung
„Bittere Wasser“ ist ein Roman, der die dunklen Flecken der deutschen Einheit betrachtet
Fragt man Verleger, Buchhändlerinnen oder Autorinnen, ob wir beim Verlassen des Jahrs 2022 in einer guten Zeit für Bücher leben, dann werden sie – je nach Temperament – bedauernd oder entsetzt den Kopf schütteln. Die Umsätze sind rückläufig. Die Gründe dafür hören wir täglich in den Nachrichten: Krieg Russlands gegen die Ukraine, Energie-Krise, Inflation.
Ich will das gar nicht bewerten, nur die Frage umkehren: Warum sind in diesen Zeiten Zuspruch und Bedarf für Literatur nicht gewachsen? Literatur lesen verspricht Trost.
Dafür ein Beispiel: Tina Pruschmanns Roman „Bittere Wasser“. Es handelt sich nicht um einen Roman entfesselter Freuden. Dem Titel darf man glauben: Die Wasser, die darin fließen, sind bitter.
Schon die ersten Seiten: Im Erzgebirge verfolgt Ida eine Szene auf einem Volksfest. Das Städtchen soll einen Preis erhalten: schönste Gemeinde Mitteldeutschlands. Und der Vater soll den Pokal an die Bürgermeisterin überreichen. Aber er schafft es nicht: den Weg zum Mikrophon, das Heben des Pokals und das Überreichen. Er verstolpert es, er verzittert es, er hat sich heruntergetrunken.
Für die Tochter ist es ein trauriger Anblick. Dieser Vater war mal ein außergewöhnlicher Elefantendompteur, ein Star im Zirkus. Die DDR gab ihm für das, was er konnte, ihren Nationalpreis und verewigte ihn mit der Mutter, ebenfalls Artistin, auf einer Briefmarke.
Seit die Treuhand den Zirkus nach der friedlichen Revolution verkauft hatte, begann er mit dem Trinken. Für eine symbolische Mark ging er samt Großzelte, einer Flotte von LKW und zig Zirkuswagen an einen westdeutschen Blender, der gar nicht ermessen konnte, welche Verantwortung er für eine Mark übernommen hatte. Die Weiterführung einer Kultur und einer Tradition des Zirkus.
Nicht eingehaltene Versprechen
Tina Pruschmann ist 1975 in Ostdeutschland geboren. Vermutlich in einer Stadt im Erzgebirge. Bad Schlema mit den Radonquellen könnte es sein, im Roman Tann genannt. Genaues gibt die Autorin nicht preis, aber sie gibt auf ihrer Website ein Bekenntnis: „Meine Texte spielen im Osten, weil ich glaube, dass es dort literarisch noch Dinge zu erledigen gibt.“
Bittere Wasser
Das heißt vor allem, über die in der Wendezeit den Ostdeutschen gegebenen und nicht eingehaltenen Versprechen zu reden. Je weiter der Abstand zur Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wird, je mehr kommen die Themen zur Sprache, die jenen, die aus Westdeutschland kommend die Deutung der Geschichte übernommen hatten, gar nicht aufgefallen sind.
Tina Pruschmanns Roman „Bittere Wasser“ fügt den wenigen Geschichten von Ostdeutschen zugefügten Schmerzen der Wiedervereinigung eine hinzu. Sie macht dies durchaus nicht anklagend. Sie hat zum Erzählen Ida, wie die Autorin 1975 geboren und durchaus kein Racheengel, sondern eine junge Frau: ein Zirkuskind, das langsam erwachsen wird. Vielleicht der Situation der Nachwendezeit geschuldet, lebt sie ohne feste Vorstellungen von der Zukunft und ihrem Platz darin. Aber nicht mit dem Gedanken, dass sie keine Zukunft habe.
Zirkus, Erzgebirge, Niedergang
Der Roman hat drei große Schauplätze: die Welt des Zirkus, in die Ida hineingeboren wird, das Erzgebirge, wo die geliebten Großeltern leben, bei denen sie aufwächst und zur Schule geht, und Kiew, die Hauptstadt der Ukraine. Auf den knapp 300 Seiten des Romans erzählt die Autorin aus der Perspektive von Ida deren Leben bis dicht an die Gegenwart heran. In der Absicht, endlich über alles zu sprechen, ist der Roman randvoll mit erinnerter Wirklichkeit.
Leser mit DDR-Sozialisation werden vieles wiedererkennen, wer diese Erfahrungen nicht hat, wird vieles kennenlernen. Vom Niedergang der Kneipe, die die Ohm im Haus Edith geführt hat, vom langsamen Sterben der Bergleute, die in der Wismut Uran gefördert haben und die Gefahr nicht wahrhaben wollten, und von denen, die sich ohne Job und Ansehen versuchen, unsichtbar zu machen.
Gegen den Strom: Ida geht ostwärts
Als viele aus dem Erzgebirge in den Westen zu guten Arbeitsplätzen abwandern, entschließt sich Ida in den Osten zu gehen. Vermutlich ist der große Kiew-Erzählstrang in den Roman gekommen, weil er der Biografie der Autorin folgt. Der Roman erweist sich als Teil einer großen Welle von Autofiktionen, die seit einigen Jahren über die deutsche Literatur hereingebrochen ist. Weil diese Welt in den Jahren von 1997 bis zu den Protesten 2013/2014 auf dem Majdan von Kiew selbsterlebt ist, erweist sich der hinzugenommene Schauplatz Ukraine auch als besonders überzeugend.
Im Plot motiviert ist er dadurch, dass zwei der Elefanten als überflüssige Fresser im Zirkus an den Zoo von Kiew verkauft werden: Hollerbusch, den Ida schon seit seiner Geburt liebt und betreut, und dessen Mutter Judy. Ida entschließt sich, beide in den Zoo nach Kiew zu begleiten. Und da sie mit ihrem Leben noch nichts vorhat, ist ihr diese Aufgabe recht.
In Kiew lernt sie Jewhen, den Tierarzt des Zoos, kennen, der gerade seine Frau Jelena durch Blutkrebs verloren hat. Sie haben in der Nähe von Tschernobyl gelebt, als 1986 der Atomunfall geschehen ist. Die Krankheit ist ein Werk der Strahlung.
Jewhen, der in seiner Trauer glaubt, kein neues Leben mehr zu finden, wendet sich dem Gast aus Deutschland wie einer vom Schicksal geschenkten Tochter zu. Er zeigt ihr Kiew: die Villen mit den hohen Zäunen und Wachleuten am rechten Ufer des Dnepr und die Schlaftürme auf der linken Seite.
Auf dem Majdan
Weil der Bruder von Jewhen zu denen gehört, die nach der Wende „gute Geschäfte“ machen, über die man schweigt, wird zumindest ein Zipfel von Korruption und tiefer sozialer Spaltung in der Ukraine sichtbar. Dass hier Gründe für die Angst der Wendegewinner liegen könnten, als das Volk vom Präsidenten verlangt, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben, wird vorstellbar. Jewhen, der Tierarzt, operiert in den Februartagen als auf dem Majdan auf Protestierende wie auf Polizisten geschossen wird, Verletzte in seinem Behandlungszimmer.
Eine besondere Geschichte erzählt die Autorin über Switlana, die im Haushalt lebende Nichte. Ihr Traum heißt Amerika. Um dafür Geld zu verdienen, verkauft sie erst ihre Eizellen und bietet sich später als Leihmutter an. Zwanzigtausend Dollar bringt das Paket „Kind auf dem Arm“.
Als Switlana Zwillinge zur Welt bringt, ist eines behindert. Das gibt ihr die Agentur zurück mit der Empfehlung, es nicht zu behalten. Aber die Mutter lernt ihre Olga trotz Downsyndrom lieben und ist von ihrem Amerikatraum geheilt.
Eine bewegende Szene ist Idas Umzug mit den Elefanten durch Kiew, mit einem Bad im Dnepr als Finale. Ein Geschenk für Olga zum Geburtstag.
Fast nicht merklich haben sich Ida und Jewhen ineinander verliebt oder auch nicht verliebt, jedenfalls ist Ida von ihm schwanger. Da steht aber – sie dürfte inzwischen mehr als 15 Jahre in Kiew gelebt haben – ihre Rückkehr ins Erzgebirge bereits fest. Was aus Idas Schwangerschaft wird, steht zwischen den Zeilen.
Den Leser erwartet ein Roman mit einer außerordentlichen Wirklichkeitsdichte, die gerade den unerzählten Wendegeschichten gilt. Auch wenn die deutsche Wiedervereinigung eine Glücksstunde der Geschichte war, sind nicht alle Vereinigungsgeschichten Geschichten vom Glück.
Die Fülle dessen, was Tina Pruschmann in ihr Erzählen aufnimmt, hat einen Nachteil. Die Figuren, vor allem Ida als Dreh- und Angelpunkt des Romans, bleiben hinter dem Geschehen zurück. Ihre Psychologie ist weitgehend ausgeblendet. Die Stärke des Romans ist vor allem sein Stoff.