Die Gesichter des Kaukasus
Ekkehard Maaß widmet sich dem Kaukasus und den geschundenen Tschetschenen
Nur selten tritt der Kaukasus in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit – und dann meist in wenig erfreulicher Perspektive. Zuletzt hat der Krieg im Südkaukasus zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020 kurzzeitig Aufmerksamkeit erfahren. Aber wer erinnert sich noch an die beiden Kriege im nördlichen Kaukasus?
Damals – 1994 bis 1996 und 1999 bis 2009 – erhob sich das Volk der Tschetschenen gegen die russische Macht (die im 19. Jahrhundert den nördlichen Kaukasus unterworfen hatte), um für Unabhängigkeit und Freiheit zu kämpfen. Dieser Krieg war besonders schmutzig, brutal und zerstörerisch.
Viele Tschetschenen flohen ins Ausland – auch nach Europa. Dort reduziert sich die Aufmerksamkeit auf jene Minderheit unter ihnen, die kriminell wird oder sich radikalen islamistischen Organisationen anschließt. Dem Kaukasus ein anderes Gesicht zu geben; die Menschen zu zeigen, wie sie wirklich sind, zugleich aber mit Engagement für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einzutreten, wo Not, Unterdrückung und Ungerechtigkeit geschieht – mit diesem Ziel entstand 1996 die Deutsch-Kaukasische Gesellschaft. Zum 25. Jahrestag der Gründung legt Ekkehard Maaß, Gründer und spiritus rector der Gesellschaft, Rechenschaft ab.
„fluchtzeiten“ – mit dem Titel des Buchs ist angedeutet, dass sich die Gesellschaft nicht nur mit den Sonnenseiten der Verhältnisse im Kaukasus befasst. Im Gegenteil: Georgien, die „zweite Heimat“ von Ekkehard Maaß, mit seinen Menschen – nicht zuletzt Literaten und Künstler –, Kulturgütern und Landschaften entfaltet Strahlkraft und kaukasische Lebensfreude.
Der größte Teil des Buchs aber ist Tschetschenien und dem Leid der geschundenen Menschen dort gewidmet. Die Kriege haben viele von ihnen zu Flüchtlingen gemacht; in anderen hat die ständige Gewalterfahrung seelische Verwerfungen bewirkt, die sie in Kriminalität getrieben haben.
Wo Recht und Anstand nicht mehr gelten, muss nach anderen Regeln gehandelt werden. Unermüdlich sucht die Gesellschaft, angeführt von Maaß, nach Verbündeten, die Zerstörung zu stoppen und zu einer friedlichen Lösung zu gelangen. Dass sich unter ihnen russische Dissidenten befinden (die auch in den westlichen Medien Anerkennung finden – manche heute nicht mehr am Leben), verknüpft das Schicksal Russlands und Tschetscheniens auf bezeichnende Weise.
Flucht und Schicksal der Tschetschenen
Auf andere Weise wird diese Verknüpfung durch die Einsetzung Ramsan Kadyrows zum brutalen Statthalter des russischen Präsidenten Putin (2007) manifestiert. Froh darüber, diesen im Kampf gegen den Terrorismus im Boot zu haben, nimmt man ihm im Westen die Behauptung ab, in Tschetschenien selbst an vorderster Front Terroristen zu bekämpfen.
Entsprechend verschlechtert sich die Lage der dorthin geflohenen Tschetschenen; so auch in Deutschland. Tschetschenen werden zunächst einmal als Gewalttäter wahrgenommen; wenn sie auffällig werden, schiebt man sie nach Russland ab. Dort aber ist ihr Leben bedroht; Kadyrow hat seine Agenten auch in Europa.
Mit diesen Entwicklungen verändert sich einmal mehr der Schwerpunkt der Arbeit der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft. In „fluchtzeiten“ nimmt sie sich der Fälle an, die vor deutschen Gerichten anhängig sind, vornehmlich Asylverfahren. Scharenweise finden sich Tschetschenen in dem Salon ein, den Maaß bereits zu DDR-Zeiten als kritisches vor allem literarisches Forum betrieben hat.
Er hilft bei der Vermittlung von Krankenbehandlung, unterstützt Kulturveranstaltungen und schreibt Berichte für die Behörden und die Öffentlichkeit. Unzählige Fotos dokumentieren den Aktionismus: Menschliches Leid wird ebenso sichtbar wie eindrucksvolle Empathie.
Der andere Kaukasus: Gesang, Theater und Tanz
Darüber aber gerät der andere Kaukasus nicht aus dem Bild. Lebensfreude und Gesang, Theater und Tanz – eine Werbung auch für den Tourismus, insbesondere für Georgien. Dabei ist überaus sympathisch, dass keine Feindbilder produziert werden – auch nicht „der Russen“.
Maaß hat schon in den achtziger Jahren viele Winkel des riesigen Lands bereist. Er liebt das russische Volk, seine Sprache und Kultur, vor allem seine Gedichte und Lieder. Viele Bilder zeigen ihn mit einer Gitarre und umringt von fröhlichen Menschen. Zahlreich sind im Buch die Übersetzungen in russischer Sprache verfasster Texte aus der Feder seiner russischen und kaukasischen Dichterfreunde.
So ist dieses Buch eine Werbung für Menschen in einem Teil der Welt, denen wir in Europa (wohl nicht zuletzt aus historischen Gründen) zu wenig Achtung und Beachtung entgegengebracht haben. Es ist zugleich eine Mahnung, dass der Einsatz für Menschenrechte und Humanität nicht nach Gutdünken und Opportunität teilbar und willkürlich ist.
Vor dem Hintergrund des zweiten Tschetschenienkriegs (seit 1999) ist es aber auch eine Warnung. Seinen Ausbruch fassten russische Generäle seinerzeit in dem Satz zusammen, er markiere die Wiedergeburt der russischen Armee und der russischen Nation.
Ihm folgten der georgisch-russische Krieg (2008), die Annektierung der Krim und der Ausbruch des Konflikts im Osten der Ukraine (2014) sowie die militärische Bedrohung des Lands durch den Truppenaufmarsch 2021/22.
Ein riesiges Land, vom Gespenst des Verlusts an Macht und des Zerfalls heimgesucht und von einer autokratischen Führung regiert bleibt eine Bedrohung auch für seine Nachbarn. Werbung, Mahnung und Warnung in „fluchtzeiten“ sind Facetten eines Wirkens, für das der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft Dank gebührt.
Der Orientalist Udo Steinbach leitete von 1976 bis 2007 das Deutsche Orient-Institut.
fluchtzeiten
Deutsch-Kaukasische Gesellschaft: Geschichte – Kultur – Religion – Politik – Flüchtlinge