Tschetschenen: Zwischen den Welten
Weshalb es manchen Menschen aus Tschetschenien so schwer fällt, sich in Europa wohlzufühlen
Bereits während des ersten Tschetschenienkrieges von 1994 – 1996 wanderten Menschen aus Tschetschenien nach Deutschland aus, noch in geringem Umfang. Im zweiten Krieg wuchs von 2001 an die Fluchtbewegung in den Westen Europas. Heute gibt es die größten Gruppen in Frankreich, Belgien, Österreich, Deutschland, Norwegen und Polen. Weil eine winzige Minderheit sich dem islamistischen Spektrum zurechnen lässt, wachsen in der einheimischen Bevölkerung Vorbehalte.
In Deutschland leben 40 000 bis 50 000 Menschen tschetschenischer Herkunft, ein Teil von ihnen ist inzwischen eingebürgert. Die meisten von ihnen sind gut integriert und unauffällig.
Wie auch andere Migrantengruppen und die Bevölkerung in Deutschland insgesamt ist die tschetschenische Community sehr heterogen. Dabei spielen sowohl die Zeitpunkte der Einwanderung als auch das Alter der Eingewanderten eine Rolle. Während die ersten Geflüchteten Anfang der 2000er-Jahre noch überwiegend sowjetisch sozialisiert waren und Religion oftmals eine untergeordnete Bedeutung für ihre Identität hatte, brachten spätere Einwanderer die in den vergangenen Jahren in Tschetschenien gewachsene Bedeutung von Religion nach Westeuropa mit.
Die Rolle von Religion und Tradition
Dabei lässt sich beobachten, dass Religion häufig nur deklarativen Charakter hat, das Wissen um die Religion jedoch eher gering einzuschätzen ist. Es ist eher die zweite Generation, die sich intellektuell mit Religion auseinandersetzt und sich für oder gegen die Ausübung einer Glaubenspraxis entscheidet.
Insgesamt ist die tschetschenische Diaspora in ihrer Struktur und Entwicklung vergleichbar mit anderen Migrantengruppen. Der ersten Generation, die im Erwachsenenalter nach Deutschland gekommen ist, gelingt die gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere die Integration in den ersten Arbeitsmarkt, eher weniger. Die zweite Generation, die nur die ersten Lebensjahre in Tschetschenien verbrachte und bereits in Deutschland sozialisiert wurde, findet sich in der für die Migrationsforschung klassischen Auseinandersetzung mit den Werten ihrer Herkunftsgesellschaft und denen der Aufnahmegesellschaft wieder.
Dabei entscheidet sich ein Teil von ihnen für die Ausrichtung ihrer Lebensentscheidungen an den traditionellen Werten ihrer Eltern und Großeltern bei gleichzeitiger Akzeptanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Eine weitere Gruppe distanziert sich weitgehend von den Werten der Herkunftskultur und lehnt insbesondere religiöse und gewohnheitsrechtliche (traditionelle) Gebote und Verbote ab, die sie als Eingriffe in ihre freien Entscheidungen empfinden.
Andere wiederum versuchen, die Anforderungen, die sich aus beiden Wertesystemen, dem traditionellen tschetschenischen und dem westlichen funktional-differenziertem, ergeben, gleichermaßen zu erfüllen. Dieser aufreibende Anspruch birgt erhebliches Potential für ein Scheitern. In manchen Fällen führt der Wunsch, unbedingt zu beiden Seiten dazuzugehören und von beiden akzeptiert zu werden, zu der zweifelhaften Hinwendung zu einer fundamentalistischen, streng konservativen Auslegung des Islam, der dann als den beiden Wertesystemen übergeordnete Instanz etabliert wird.
Erstarkung des Fundamentalismus nach den Kriegen
Tatsächlich manövrieren sich diese Menschen in ein weiteres Konfliktfeld hinein: Bis in die Zeit der Perestroika hinein bestand in der tschetschenischen Gesellschaft bei Auseinandersetzungen zwischen Personen ein Konsens über den Vorrang des Gewohnheitsrechts (Adat) vor dem islamischen Recht.
Die Tschetschenienkriege haben diese Balance zerstört. Der Einfluss islamischer und islamistischer Strömungen aus dem arabischen Raum auf das Wertesystem der tschetschenischen Bevölkerung hat zu einer Pluralisierung, aber auch Konkurrenz zwischen den Werteorientierungen der Bevölkerung geführt. Leider kam es darüber zu einem Kampf um die Deutungshoheit, welches Wertesystem für alle Tschetschenen verbindlich sein sollte.
Diese Auseinandersetzung wird bis heute mit harschen Mitteln in Tschetschenien geführt und spiegelt sich auch in der Diaspora wider. Die Entscheidung für eine fundamentalistische Auslegung des Korans und daran anknüpfende Lebensführung erscheint dann als Ausweg aus dem konfliktbeladenen Feld.
Das Asylsystem erschwert Integration
Als Hindernis für die Integration in die Europäische Union ist zuallererst das Asylsystem der EU zu nennen. Die sich oft über Jahre hinziehende Unklarheit über eine dauerhafte Perspektive im Aufnahmeland führt neben zunehmenden gesundheitlichen Belastungen zu erheblichen Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe und im ungünstigsten Fall zur Segregation. Sich wiederholende negative Erfahrungen mit Behörden, einhergehend mit dem Gefühl, in Deutschland nicht willkommen zu sein, tragen zu einem distanzierten Verhältnis zu europäischen Werten bei.
Häufig lässt sich an den Biografien der Kinder ablesen, wann die Familie einen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen hat. Von diesem Zeitpunkt an findet plötzlich ein erheblicher Schub in der Sprachentwicklung und Leistungsfähigkeit statt.
Hinderlich bei der Integration sind zudem sowohl die Kriegserlebnisse als auch eine starke Orientierung an vorislamischen Traditionen und Scharia, die zum Teil im Widerspruch zu westlichen freiheitlichen Werten stehen. In der Sozialarbeit Tätige beobachten ein hohes Gewaltpotential in tschetschenischen Familien. Eine Ursache dafür dürfte in unzureichend aufgearbeiteten Gewalterfahrungen seit Beginn des ersten Tschetschenienkriegs liegen. Im Zusammenspiel mit Ohnmachtserfahrungen während des Asylverfahrens und mangelnder gesellschaftlicher Teilhabe entlädt sich diese Gewalt häufig an den Schwächsten in den Familien.
Misstrauen gegen den Staat
Angebote der Sozialarbeit werden nicht selten als Einmischung des Staats in private Angelegenheiten missverstanden, die Fürsorgepflicht des Staats, insbesondere bei Kindeswohlgefährdung, als Angriff auf die tschetschenische Community insgesamt wahrgenommen. Problematisch für die Integration sind zudem die zumeist fehlende Akzeptanz der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, des Rechts auf Selbstbestimmung, mithin aller Bereiche, die individuelle Lebensentscheidungen betreffen. Hingegen besteht innerhalb der Community eine hohe soziale Kontrolle, die das Ausscheren aus dem tschetschenischen Wertekanon verhindern soll und im Fall der Abweichung zum sozialen Ausschluss aus der Community führen kann.
Eine Verbesserung der Situation muss zunächst bei den Asylverfahren ansetzen. Die ersten Jahre in Deutschland sind entscheidend für das Gelingen der Integration und dürfen nicht mit dem Warten auf Handlungsmöglichkeiten vertan werden. Neben den bestehenden zahlreichen Unterstützungsangeboten des Staats und der Zivilgesellschaft braucht es zudem auch eine gute Aufklärung über die Strukturen und Funktionsweisen des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems, um Irritationen und Missverständnisse zu vermeiden, die leicht zu einer Distanz zur Aufnahmegesellschaft führen können.