Antiöstliche Vorurteile
Jannis Panagiotidis wirft ein erhellendes Licht auf die „postsowjetische Migration in Deutschland“
Der "Fall Lisa" sorgte im Januar 2016 für große Aufregung in den deutsch-russischen Beziehungen. Damals gingen in einigen deutschen Städten hunderte Menschen postsowjetischer Herkunft auf die Straße. Sie protestierten gegen die angebliche Entführung und Vergewaltigung eines russlanddeutschen Mädchens aus Berlin-Marzahn. Der Vorfall erwies sich schnell als Falschnachricht, beschäftigte aber die hohe Politik und zahlreiche Medien in beiden Ländern.
Vor allem Russlanddeutsche gerieten plötzlich in der deutschen Presse unter Generalverdacht: Zahlreiche Kommentatoren unterstellten dieser Bevölkerungsgruppe, sie könnten für politische Manipulationen und Propaganda der Kremlführung besonders anfällig sein. Außerdem wurde behauptet, die Zuwanderer seien generell rechtslastig und wählten besonders häufig die AfD. Böse Überschriften wie "Putins Fünfte Kolonne" oder "Alternative für Russlanddeutsche" spiegelten allerdings vor allem das verbreitete Nichtwissen und viele Vorurteile wider.
Schon damals stach vor allem eine kluge Stimme heraus. Der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis, als Juniorprofessor für Migration und Integration der Russlanddeutschen sechs Jahre lang am Institut für Migrationsforschung in Osnabrück tätig, gehörte zu den wenigen Fachleuten, die dank aktueller empirischer Forschung und sachlicher Information mit gängigen Stereotypen aufräumten. Panagiotidis zeichnete ein differenziertes Bild postsowjetischer Migration, die mit rund drei Millionen Menschen die größte Zuwanderungsgruppe nach Deutschland ausmacht.
Das Schicksal der Verfolgten
Nun hat der Forscher das Buch "Postsowjetische Migration in Deutschland" veröffentlicht, in das zahlreiche Studien, aber auch Interviews und Ergebnisse des Mikrozensus einflossen sind. Es richtet sich an eine breite Leserschaft, die bei der Lektüre ein umfassendes Bild der Geschichte und Gegenwart postsowjetischer Migration präsentiert bekommt.
Postsowjetische Migration in Deutschland
Eine Einführung
Der Autor widmet sich im Buch vor allem den Russlanddeutschen (2,5 Millionen) und jüdischen Kontingentflüchtlingen (220 000), den größten Gruppen von Migranten aus der früheren Sowjetunion. Er schildert die Geschichte der Auswanderung seit Ende der 1989er- und Anfang der 1990er-Jahre, wobei er sowohl Parallelen zwischen den beiden Gruppen zieht als auch Unterschiede verdeutlicht.
Dabei ist vor allem seine Erläuterung des Verfolgungsschicksal wichtig, das in Deutschland im Fall der Russlanddeutschen bis heute nicht ausreichend verstanden wird. Weitere Kapitel widmen sich der unterschiedlichen Aufnahmesituation in Deutschland, der wirtschaftlichen Integration, dem Verhältnis zur russischen Sprache, politischen Einstellungen, aber auch den Lebenswelten in Deutschland.
Einwanderungsfeindliche Ressentiments
Besonders gelungen ist das Kapitel, in dem der Autor Fremdwahrnehmungen und Vorurteile darstellt, auf die Zuwanderer in Deutschland stoßen. Panagiotidis erläutert nachvollziehbar, warum die postsowjetische Einwanderung als "weiß, unauffällig und aus dem Osten" lange gleichsam "unsichtbar" blieb. Die rechtliche und materielle Sonderstellung habe vor allem die Spätaussiedler zum Objekt von "einwanderungsfeindlichen Ressentiments" gemacht, schreibt der Autor, und das in Teilen der Mehrheitsgesellschaft, die eigentlich migrationsfreundlich seien. Panagiotidis macht deutlich, wie stark dabei antiöstliche Vorurteile ihre Wirkung entfalten.
Das Buch hält aber auch für den besseren Umgang mit anderen Migrantengruppen wichtige Erkenntnisse bereit: Denn Russlanddeutsche und Kontingentflüchtlinge kamen im Vergleich zu anderen Einwanderern bereits mit einem privilegierten Status nach Deutschland. Sie reisten mit dem Flugzeug an, mussten nicht etwa über das Mittelmeer, konnten nach kurzer Zeit arbeiten und sich ein neues Leben aufbauen.
"Wichtig scheint die rechtlich abgesicherte Aufnahme mit klarer Bleibeperspektive zu sein", schreibt Panagiotidis. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Integration in Deutschland im Fall der Migration aus dem postsowjetischen Raum auch gerade durch die Aussicht auf Kontinuität gelungen sei.
Aber der Autor spart auch Probleme nicht aus und kritisiert beispielsweise die hohen Hürden für Akademiker aus der früheren Sowjetunion, wenn sie sowjetische Studienabschüsse oder Berufsqualifikationen in Deutschland offiziell anerkennen lassen wollen. Viele landeten wegen dieser Barrieren in Jobs weit unter ihren Fähigkeiten.
Informativ und lesenwert
Das insgesamt sehr gelungene Buch ist in einigen Passagen leider zu wissenschaftlich verfasst und fällt gegen Ende auch inhaltlich etwas ab. Vor allem das hochinteressante Thema der postsowjetischen Lebenswelten in Deutschland hätte eine vertiefte Darstellung verdient. Zwar beschreibt Panagiotidis sehr treffend, dass sich die "Communities" der Russlanddeutschen und Kontingentflüchtlinge kaum überschneiden, streift aber nur oberflächlich die bunte Welt der Alltagspraktiken, die sich im Wohnen, den Speisen und der Musik ausdrücken.
Bedauerlich ist auch, dass eine dritte Gruppe der Migranten aus dem postsowjetischen Raum, die politischen Dissidenten, nur am Anfang erwähnt werden, in Folge jedoch nicht weiter vorkommen. Trotz dieser kleineren Schwächen ist das Buch informativ und lesenswert.