Vegetarier: Tolstoi und die Tiere

Da schau her! Russen waren Vorreiter und Ideologen des fleischlosen Essens

Essen, was der Boden hergibt: Tolstoi setzte in seiner zweiten Lebenshälfte auf "tötungsfreie Ernährung" und wird Vegetarier.

#25 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.

Salate! Welch eine Wonne! Welch ein Leben mit Olivenöl! Bouillon aus Heu, aus Wurzeln, aus Kräutern – das ist Lebenselixier. Obst, Rotwein, getrocknete Früchte, Oliven, getrocknete Pflaumen ... Nüsse – sind Energie. Kann man den ganzen Luxus des vegetabilen Tisches aufzählen?      Ilja Repin 1910

Russische Küche: Da denkt man hierzulande meist an fleischgefüllte Piroggen, an paniertes Kiewer Hühnchen (das nicht nur in der Ukraine gegessen wird) oder an pseudokaukasische Schaschlik-Spieße. Die Luxusfraktion würde noch Stör und Kaviar nennen, DDR-erprobte Esser eher Soljanka oder Borschtsch mit Wurst oder Fleisch. Vegetarisches hingegen ist rar auf den Speisekarten unserer russischen Restaurants und selten inspirierend.

Dabei hat das größte Land der Erde eine Vorreiterrolle in der Geschichte und der ideologischen Begründung fleischlosen Essens gespielt. Der in der Schweiz lehrende Slawist Peter Brang hat 2002 diese Facette des „unbekannten Russlands“ in einer zitatenreichen Monografie ins Bewusstsein gehoben.

Ein Motiv ist sicher in den rigorosen Fastenregeln der orthodoxen Kirche zu suchen. 192 bis 216 Tage des Jahres galten als fleischlos, als besonders hart wurde das Peter-und-Paul-Fasten nach Pfingsten empfunden, wenn noch kaum frisches Gemüse als Ausgleich zu ernten war. Diese Vorschriften wurden strenger und länger als die ähnlichen der katholischen Kirche Westeuropas befolgt. Nicht nur infolge bäuerlicher Armut, wo häufig Fleisch sowieso unerschwinglich war, sondern auch die Zarenfamilie hielt sich weitgehend daran.

Politische Aktualität gewann diese pflanzliche Ernährung durch die slawophile Bewegung und die von Schriftstellern wie Dostojewski propagierte Idee, orthodoxe Religiosität mit Nationalismus zu verknüpfen. Wer die Protestessen nationaler Vordenker betrachtet, die nach Napoleons Moskau-Feldzug sich bewusst von der Überfremdung durch die französische Küche abwenden, stößt immer wieder auf die meist vegane Trias Kascha-Grütze, Kwas, Kohlsuppe. Kurzum, vegetarisch essen hatte im Zarenreich des 19. Jahrhunderts nicht nur einen theologisch-ethischen, sondern auch einen patriotisch-altrussischen Anstrich.

Tolstoi: Verfechter des russischen Vegetarismus

Der prominenteste Verfechter dieses russischen Vegetarismus war Leo Graf Tolstoi. Mitte der 1880er-Jahre stellte der asketischen Tendenzen zuneigende Dichter seine persönliche Ernährung um (was gut zu seinem bäuerlichen Auftreten passte) und propagierte 1892 eine moralisch-vegetarische Reform:

Solange es Schlachthäuser gibt, wird es auch Schlachtfelder geben ... Fleischessen ist ein Überbleibsel der größten Rohheit. Der Übergang zum Vegetarismus ist die erste und natürlichste Folge der Aufklärung ... Vom Tiermord zum Menschenmord ist es nur ein Schritt und damit auch von der Tierquälerei zur Menschenquälerei.

Dieses pazifistische Programm veröffentlichte Tolstoi in seinem in ganz Europa diskutierten Vorwort „Die erste Stufe“ zur russischen Ausgabe eines englischen Vegetarismus-Bestsellers. Dazu kam 1903 seine Anthologie: „Die tötungsfreie Ernährung oder der Vegetarismus. Gedanken verschiedener Schriftsteller“ sowie die Förderung vegetarischer Texte und Initiativen. So wurde der Dichter 1908 in Dresden zum Ehrenvorsitzenden der Vegetarischen Gesellschaft der Esperantisten gewählt.

Der Geist ist willig, aber die Sünden zu stark

Dieser Impetus erfasste viele Prominente der Epoche vom Historienmaler Ilja Repin und der Frauenrechtlerin Natalia Nordman bis zum Bildhauer Paolo Troubezkoy, der nach Fertigstellung der umstrittenen Reiterstatue Zar Alexander III. 1910 mit einem vegetarischen Festessen in St. Petersburg bei der Fürstin Tarchanowa geehrt wurde. Und selbst der jiddischsprachige Poet Scholem Alejchem, Erfinder des Milchmanns Tewje und geistiger Vater des Musicals „Fiddler on the Roof“, schrieb 1910 launig an die führende vegetarische Zeitschrift Russlands:

„Ich wollte viele Male selbst Vegetarier werden. Aber die Sünden haben es nicht zugelassen ... Was mich als Juden beschäftigt, ist dies, dass, wenn alle Leute plötzlich Ihren Glauben (den vegetarischen) annehmen würden, und darunter auch die Juden ... was würde mit unseren Metzgern geschehen und den Rabbinern? Und mit dem Milchgeschirr? Und dem Fleischtopf? ... Ich scherze nicht. Ich bin aufrichtig mit Ihnen ... Ich lese Ihre Zeitschrift mit Liebe. Mit großer Liebe.“

Was ist aus diesem vegetarischen Aufbruch geworden, der sich in Kongressen, Zeitschriften, Publikationen und Debatten manifestierte?

„Eine liederliche hysterische Heulsuse, die man russischer Intelligenzler nennt, die sich öffentlich an die Brust schlägt und sagt: ich bin abscheulich, ich bin widerlich, aber ich befasse mich mit sittlicher Selbstvervollkommnung; ich esse kein Fleisch mehr und nähre mich bloß von Reiskoteletts“ polemisierte Lenin und brachte damit die bolschewistische Verachtung gegenüber kleinbürgerlichem Sentimentalismus und Individualismus zum Ausdruck.

Machomodepoet Majakowski wählte ein vegetarisches Restaurant als Schauplatz, um provozierend ein bluttriefendes Gedicht herauszubrüllen und über die vegetarische „Sekte“ als „Kreuzung von Tolstoianertum mit okkulten Lehren“ herzuziehen. Prinzipieller Gewaltverzicht und damit verbundene Opposition gegen die Todesstrafe passte schlecht zur KPdSU-Ideologie, Fleischverzicht schlecht zum Ernährungsideal des kaloriengestählten Stachanow-Arbeiters. So wurde die Bewegung in der UdSSR spätestens in den 1930ern abgewürgt und totgeschwiegen.

Deutsche Webseite für vegane russische Küche

1892 hatte der Poet Nikolai Leskow einen Aufruf veröffentlicht: „Über die Notwendigkeit, ein gut zusammengestelltes Kochbuch für Vegetarier in russischer Sprache herauszugeben.“ Dieses Postulat ist 130 Jahre später im Web angekommen. Auch auf Deutsch, aber dafür mit russischen Rezepten. Websites wie veganuschka.de stöbern im fleischlosen Potenzial der russkaja kuchnja und verraten, wie man Piroggen mit Pilzen füllt, Gurken mit Gewürzen einlegt oder golubzi alternativ zubereitet: als Rotkohlrouladen mit Gemüsepüree-Kern.

Und auch russische Restaurants hierzulande entdecken zaghaft vegetarische Optionen. Das Aljonuschka in Dresden stellt sogar eine vegane Speisekarte ins Netz: Wie wäre es, sich einmal an Soljanka mit Räuchertofu und pflanzlichem Smetana-Schmand oder Soja-Stroganoff zu wagen? приятного аппетита – Guten Appetit!

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