Sushi und Sex
Arthur Isarins blasser Held lernt das postsowjetische Russland kennen, eine hungrige Gesellschaft im Umbruch
#18 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.
Anton, ein junger deutscher biznesmen, vergnügt sich im postsowjetischen Russland der Jelzin-Ära mit Damenbekanntschaften. Doch der 2018 erschienene Erstlingsroman erschöpft sich nicht in der Oberflächlichkeit einer modernen Casanoviade mit Schauplatz Moskau-Babylon. Auch wenn „Sex auf den ersten Blick“ als Motto über Antons Erlebnissen stehen könnte, so gibt doch jede seiner neugierigen Gespielinnen mehr von sich preis, offenbart ihrem Liebhaber eine neue Facette dieser Gesellschaft im Umbruch und macht den blassen Helden so zum Insider russischer Lebensphilosophien und Konfliktbewältigungsstrategien.
Selbständige Frauen, die wissen, was sie wollen: Die schlagfertige Lena im mausgrauen Sowjetkleidchen entpuppt sich als kinoaffine Hippie-Aussteigerin, die in einer Kommune lebt. Tanja-Tatjana ist Chirurgin (was ihr eine kostenlose Brustvergrößerung eingebracht hat) und lässt sich kostspielige Dessous schenken, erweist sich aber als zu energisch, politisch interessiert und diskussionsbereit, um den sich lieber treibenlassenden Anton dauerhaft zu fesseln.
Eine streng gekleidete Cellistin mit hochgestecktem Haar nähert sich ihm bei einem Streichquartett im Konservatorium. Nastja hingegen stammt aus entmachtetem KPdSU-Adel und kompensiert ihren Prestigeverlust durch das Abklappern angesagter Lokale und eine Schwärmerei für junge, vulgäre Provinzmafiosi.
Als Anton während einer Cholera-Quarantäne im ukrainischen Nikolajew in einem trostlosen Hotel ausharren muss, lädt ihn die Hotel-Friseuse Anja in ihre mit „spießigen Einheitsmöbeln aus der Breschnew-Zeit“ ausstaffierte Kleinwohnung ein. Dort bekocht sie ihn und erzählt während einer schlaflosen Nacht von den Gräueln der unübersehbaren Kinderprostitution.
Sittengemälde einer hungrigen Gesellschaft
Es sind auch die Schauplätze des postkommunistischen Restaurantbooms, die dieses Sittengemälde einer lebenshungrigen, neureichen Gesellschaft illustrieren. Mit Lena landet Anton nach durchgeknallter Wodkaparty und nächtlicher Tanzbärsuche in einem Absturzetablissement für modisches Sushi, das von einem als Japaner verkleideten Kirgisen zubereitet wird. Nastja wiederum dirigiert ihn in ein französisches Fischlokal, wo die Gäste fast schon routinemäßig eine Banden-Schießerei über sich ergehen lassen.
Mit seinem Philosophenfreund Wiktor, der mit Import von finnischem Kräuterschnaps seine dichterischen Ambitionen finanziert, „rekelt er sich auf orientalisch anmutenden Kissen: Vielleicht war dieses Erlebnisrestaurant durch das Regieteam eines der kriselnden Theater inszeniert worden. Das wache Mittagslicht Zentralasiens schien gedämpft durch hölzerne Fenstergitter auf gemauerte weiße Bänke. Ein Springbrunnen plätscherte in einem maurischen Innenhof vor sich hin. Der sowjetische Western Weiße Sonne der Wüste vermengte sich mit der Entführung aus dem Serail. Beflissene Kellnerinnen in Phantasietracht trugen Köstlichkeiten wie ... vorzüglich mariniertes Schaschlik vom Stör mit Granatapfelsauce auf.“
Gesprächsthema: Wiktors Wohnungsnöte und querdenkerische Bonmots: „Die russische Seele war der Marketingeinfall einiger Schriftsteller im 19. Jahrhundert. Damit bediente man die Schwäche ausländischer Leser für Exotik ... die Verherrlichung des Landlebens ist ein tief im russischen Volk verwurzelter Irrglaube.“
Slawophile Erlebnisgastronomie
Der Oligarch und Geschäftspartner Michail – Anton arbeitet für den korrupten Boss eines Rohstoffkombinats – steht eher auf slawophile Erlebnisgastronomie:
Sobald man in den gepflegten Wald eintauchte, der gleich hinter dem Autobahnring begann, stellte sich die idyllische Atmosphäre ein, die über dem Territorium der größten Profiteure des Neuen Russland lag.
Der riesige Parkplatz vor dem Restaurant Zarenjagd war in gleißendes Flutlicht getaucht ...
Die Zarenjagd war ein bombastisches Blockhaus mit Bächen, Mühlrädern, scheußlichem Schnitzwerk, riesigen Holzfiguren und Kellnern in Folklorekostümen ...
Vor der breiten Treppe, die vom Parkplatz zur Pforte führte, wurden sie von einem Balalaikaspieler erwartet, der sie die Stufen hoch zu einem Hünen in Bojarentracht und mit Streitaxt begleitete. Drinnen nahm sie dann eine Kalinka-Karikatur mit Modellmaßen in Empfang, die eine zu dieser Uhrzeit kaum erträgliche Frische und Energie ausstrahlte. Fröhlich zwitschernd schritt sie voran durch das immer noch sehr gut besuchte Restaurant an einer Quelle vorbei, an einem Bächlein entlang und schließlich über einen gebogenen Steig, an dessen Ende sich ihr Tisch befand ...
Sie aßen marinierten Hirsch und tranken dazu einen 89er-Saint-Émilion.
Nach einer orgiastischen Saunaparty landen die beiden übernächtigt im schummrigen Flughafenrestaurant und erleben eine immer noch realsozialistische Servicewüste:
Eine Kellnerin kam, und die beiden bestellten Frühstück.
„Frühstück ist leider nicht möglich. Aber ich kann Ihnen Sushi bringen.“
„Sushi? Liebling, es ist acht Uhr morgens, und wir wollen sicher nicht den Mist von gestern Abend. Bring uns Kascha, Sauerrahm und eine Kanne starken Tee.“
Am Ende kamen nur zwei Teebeutel in etwas lauwarmem Wasser.
Doch der Strippenzieher Michail kennt auch die nicht so feinen Unterschiede, die protzigen Konsumcodes der Umsturzgewinnler: Als Anton im angesagten Nightclub Fellinis Wodka Tonic bestellt, eckt er an:
Michail verzog das Gesicht. In diesem Club wurde nicht mehr viel Wodka getrunken. Üblich waren Whisky, Champagner und Kognak im Gegenwert sowjetischer Gebrauchtwagen.
Die Treffen mit dem ehemaligen KGB-Mann Boris Petrowitsch strahlen hingegen UdSSR-Nostalgie aus. In Nikolajewna begnügen sich die beiden notgedrungen mit Soljanka und warmem Bier, während sie sich über den Zweiten Weltkrieg und Gorbatschows Glasnost unterhalten. Für den finalen Anwerbeversuch in Moskau hat sich der Geheimdienstler ein Separee im „Tifliser Hof“ ausgesucht, wo er georgische Nationalküche wie Kornelkirschsuppe, Fleisch mit Pflaumen und Walnüssen, Chatschapuri-Fladen und Stalins lieblichen Lieblingswein Khvanchkara auffahren lässt.
Und auch das ewige Russland mütterlicher Gastfreundschaft ist vertreten in der Art, wie die alleinerziehende Anja ihn liebevoll verköstigt oder in der „sanftmütigen, rundlichen“ Köchin seines Chefs, auf deren „rosiger Haut meist eine dünne Mehlschicht lag“ und die in einer „immer etwas nach Dill und Schmand“ duftenden Küche werkelt.
Charaktere, die sich durchschlagen
Der Autor, der ein Jahrzehnt im Land gearbeitet hat, hat keine Scheu vor Russlandklischees, ja er reiht sie lieber drehbuchartig aneinander. Da gibt es Diskussionen mit bestechlichen Verkehrspolizisten und ein findiges Schwarzmarktmädchen, Promis der Klassikszene, versoffene Künstler und provozierende Thesen: „Ein anderer antwortete noch lauter, die Wahrheit sei ein westliches Konstrukt, in Russland gäbe es stets mehrere.“
Da wird der Hochmut des Raubtierkapitalismus für die zurückgebliebenen „Kolchosentrampel“ der abgewickelten Sowjetunion deutlich und die zynische Menschenverachtung, mit der die Reste volkseigener Betriebe zerschlagen werden. In einer geistreichen Episode trifft Anton auf einen Wiedergänger Tschitschikows. Wie die berühmte Romanfigur Gogols mit dem Kauf „toter Seelen“ den Staat fiskalisch betrügen will, so geht’s diesmal um Frachtpapiere für nicht existente Lieferungen.
Und alle reden sie gern, auch wenn sie krude Thesen verbreiten. So wird Anton, der Egoist ohne Eigenschaften, in den Strudel des „Wilden Ostens“ hineingezogen, erlebt Demonstrationen und Bedrohungen, politische Umwälzungen und kleine Alltagsnöte und seine privilegierte große Freiheit.
Das Kaleidoskop von Charakteren, die sich irgendwie durchschlagen, die Diskrepanz zwischen Hochkultur und skrupelloser geldgieriger Niedertracht ergibt letzten Endes ein recht intensives Russlandbild. Man beginnt, zu verstehen, warum es die beste Zeit des Protagonisten war, als er diesen schrillen, aus westlicher Sicht unangepassten Menschen mit all ihren Schwächen nah war.
Dennoch bleiben viele Fragen offen. Wie kann jemand, der klassische Musik so liebt und der sich dermaßen poesieaffin zeigt wie Anton, so gefühlskalt handeln? Oder wollte der mit den Klassikern russischer Literatur vertraute Autor einfach eine Kunstfigur konstruieren? Einen lischnij tschelowek naschego wremeni, einen amoralischen und bindungsunfähigen „überflüssigen Menschen unserer Zeit?“ Ist das Porträt des Dichters Lermontow, das sich Anton aufgehängt hat, der Hinweis darauf?
Und hat die Entscheidung des unideologischen Helden, Russland zu Beginn der Ära Putins zu verlassen, politische Gründe, oder fürchtet er einfach, dass das sorglose Dahintreiben, die unerhörte Leichtigkeit seines Seins vorbei ist? Dass er nun ähnlich an die Kandare genommen wird, wie er das bei seinem Wallstreetjob erlebt hatte?
Detailfrage an Autor und Lektorat: Gibt es auch am Eaton Place ein Internat für russische Oligarchensöhne? Und zuletzt: Stimmt die Geschichte, dass die indigenen Völker Sibiriens das Fleisch von Mammuts verzehren, die nach Jahrtausenden aus dem abtauenden Permafrostboden auftauchen?
Blasse Helden