Kochen wie der Klassenfeind
Wie die UdSSR versuchte, der proletarischen Küche Glanz zu verliehen
#14– Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Prächtige Bände. Goldprägung auf glänzender Leinenbindung in Lederimitat. Die offiziellen Kochbücher der UdSSR, die von 1939 an erschienen, sollten etwas hermachen, den Proletarier zum Gentleman erziehen.
Da werden gestärkte Stoffservietten eingedeckt, funkelnde Kristallschliffgläser auf dem Tisch angeordnet und Champagner oder grusinischer Wein in zaristisch-barocken Metall-Coolern eingekühlt. Blumengestecke schmücken festliche Tafeln. Ganze Störe werden mit säuberlich tourniertem Gemüse und Mustern aus Mayonnaisetupfern dekoriert. Pasteten und Aspiktürme erinnern an die grosses pièces der französischen Hochküche. Und selbst warme Würstchen mit Bier werden elegant als minimalistisches Arbeiter-Stillleben fotografiert.
Auch sonst weht ein frischer Wind. Nach den aufzählenden Kochvorschriften-Wälzern der Zarenzeit verfolgt man nun einen innovativen Ansatz. Die Autorenkollektive umfassen Mitglieder der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften statt praxiserprobter Hausfrauen. Rezepte werden jetzt naturwissenschaftlich analysiert und ernährungsphysiologisch bewertet.
Die Einleitungen preisen nicht nur die Neuerungen der Lebensmittelversorgung durch das Sowjetregime, sondern präsentieren auch Produkte. So strahlen diese Kochenzyklopädien den pädagogischen Anspruch aus, die Kochkunst einschließlich Materialkunde als moderne Wissenschaft zu vermitteln.
Kochen mit der sowjetischen Lebensmittelindustrie
Den Bibliophilen freut‘s. Die Werke stecken voller didaktischer Farbtafeln, mit denen man sein kulinarisches Russisch verbessern kann: Fleischzuschnitte, Pilze, Kräuter, Fischsorten und oft exotisches Obst und Gemüse. Dazu kommen stolz präsentierte Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft: Geflügelfarmen mit Sowchosarbeiterinnen, die mit vollen Eierkörben durch die Käfigreihen spazieren oder Bilder von Traktoren bei der Getreideernte. In übervoll versorgten Supermärkten stapeln sich pyramidenartig Gurkengläser und Dosen voller Fisch- und Krabbenfleisch.
Überhaupt sind die Rezepte geschickt mit Erzeugnissen der sowjetischen Lebensmittelindustrie verknüpft – Abbildungen zeigen, wie man aus Dosenfleisch und Dosenerbsen ein leckeres Mittagsmahl zubereiten soll. Schließlich war die Sowjetfrau berufstätig und schätzte schnelle Kost.
Dekor einer vergangenen Epoche
Die nachkolorierten Food-Fotographien strahlen einen eigentümlich nostalgischen Reiz aus. Das liegt an den verschossenen Farben, der Positionierung der Teller, die teilweise an Gemälde der neuen Sachlichkeit erinnert und am überbordenden Dekor einer vergangenen Epoche. Armenische Schaschlik-Spieße werden zu einem rosengeschmückten Grillfleischzelt zusammengesteckt. Unter glänzenden Sülzen glitzern Fischmäuler und sowjetsternartig ausgeschnittene zackige Zitronenscheiben.
Viele Gerichte sind auf eine Weise drapiert, dass man eher an Staatsempfänge als an alltagstaugliche Serviervorschläge denkt. Die Präsentation folgt einem Klassizismus, der an den imperialen Zuckerbäckerstil des Stalinismus erinnert.
Kochen wie die kapitalistische Konsumwelt
Versorgungsprobleme oder Nahrungsmittelengpässe scheinen in dieser schönen Scheinwelt nicht zu existieren. Damit wird eine Verfügbarkeit von Produkten vorgegaukelt, die auf skurrile Weise mit der werbefixierten Konsumgesellschaft des kapitalistischen Westens konkurriert.
Allerdings gibt es da einen großen Unterschied. Diese Sowjetküche wirkt selten innovativ, sondern eher bemüht, flämische Stillleben und französische haute cuisine nachzuahmen. Die Fotos fetter Würste und mit Bonbons überdekorierter Teetische wirken heute so sehr aus der Zeit gefallen, dass sie fast schon wieder kultig sind.
Auch wenn manche Rezepte für den normalen Sowjethaushalt utopisch gewirkt haben dürften, passen Titel wie Buch vom schmackhaften und gesunden Essen (kniga o wkusnoj i sdorowoj pischtsche) oder Kulinarija, die in den 1950ern in millionenfacher Auflage erschienen, dennoch zum Zeitgeist der UdSSR. Der bescheidene Nachkriegswohlstand, die Abschaffung der Lebensmittelkarten, die von Stalin geförderte Champagnerproduktion und die Wiederhinwendung zur Familienküche ließen die Edition eines Staatskochbuchs als politisch sinnvoll und planwirtschaftsgemäß erscheinen.
Heute wirken diese Kochfolianten wie skurrile Dokumente einer weitgehend an ihren eigenen Ansprüchen gescheiterten Anstrengung, zumindest theoretisch mit der kulinarischen Strahlkraft und vor allem Produktfülle des Westens gleichzuziehen und die werktätigen Massen zu kultivierten Feinschmeckern zu bilden.