Genießen auf Russisch

Die Personen in Kustodijews Gemälden essen und trinken altrussisch mit Stil

Huldigung an die Zeremonie des Teetrinkens: Boris Kustodijews "Gattin des Kaufmanns"

#24 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach – diesmal in historischen Gemälden.

Eine pralle, eine rosige, eine tiefdekolletierte hübsche Rubens-Frau. An dem Gesicht der teetrinkenden „Gattin des Kaufmanns“ von Boris Kustodijew (1878 – 1927) bin ich hängen geblieben.

Ohne Zweifel, dieses durchkomponierte Gemälde mit seinem glühenden fauvistischen Kolorit, seinem altmeisterlichen Ess-Stilleben und seiner idyllischen Fülle russischer Details hat Cover-Qualität. Schon wegen des polierten Samowars. Kein Wunder, dass es immer wieder in Büchern über russische Küche gedruckt wird.

Was mich spontan ins Grübeln brachte, ist das in der Fachliteratur meistgenannte Datum: 1918. Wie kommt man dazu, in diesem Not- und Kriegsjahr, in dem die Autorin des berühmtesten russischen Kochbuchs Hungers gestorben sein soll, so ein Bild zu malen, ohne anzuecken?

Bei aller Friedenssehnsucht: Ist das nicht eine Provokation, diese bourgeoise Selbstzufriedenheit einer offensichtlich gut herausgefutterten und apart zurechtgemachten Kaufmannsfrau, die individualistisch auf einer Altane die Freuden des reich gedeckten Teetischs genießt. Die so wirkt, als habe sie nie hart arbeiten müssen?

Offensichtlich nicht. Oder deswegen nicht, weil der Künstler in der jungen Sowjetunion hohes Ansehen genoss. Schließlich hatte der Porträtmaler es 1905 gewagt, mit der Zeichnung eines die Volksmassen niedertrampelnden Skeletts das Massaker des Petersburger Blutsonntags anzuklagen und zaristische Minister durch Karikaturen lächerlich zu machen.

Kustodijew, der sich als Bühnenbildner und Kostümzeichner einen hervorragenden Ruf erworben hatte, entwarf die ersten Uniformen der Roten Armee. Und er war maßgeblich am Petrograder Festprogramm zur Feier des ersten Jahrestags der Revolution beteiligt.

Es könnte noch einen anderen patriotischen Grund geben. Kustodijews naive Gemälde wie die adventskalenderhafte „Butterwoche“ von 1919 mit ihren Pferdeschlitten, bunten Buden, Näschereien und dem heiteren Gewimmel dichtvermummter Pelzträgerinnen strahlen oft einen märchenhaften Charme aus, der an Volksbilderbogen (lubki) erinnert. Die heile Welt russischer Volksfeste in der Provinz ließ sich damals noch als politisch korrekt im bolschewistischen Sinne interpretieren. Noch herrschte nicht das stramme Sowjetideal von muskelbepacktem Stahlarbeiter und towarischtsch Kolchosbäuerin.

Das sollte sich Ende der 1920er-Jahre ändern. Nach seinem Tod wurde das Œuvre Kustodijews mehr als dreißig Jahre lang der Vergessenheit überantwortet. Heute erzielen seine Werke Millionenzuschläge. Das dezidiert Russische seiner Sujets wie z. B. die „Venus in der Sauna“, die an Matisse und den französischen Impressionismus erinnernde Farbigkeit, die Manet-hafte Eindringlichkeit seiner Bildfindung und sein humorvoller, humaner und sinnlicher Grundzug bestätigen postum das Urteil Anatoli Lunatscharskis, des ersten Volkskommissars für das Bildungswesen, er sei der führende russische Maler seiner Epoche. Zumindest was nichtabstrakte Malerei angeht.

Das Ritual des Essens

Das gilt auch für das kulinarische Russland. Kustodijew hat immer wieder das Ritual des Essens thematisiert und slawisches Lokalkolorit eingearbeitet. Die verschiedenen Fassungen seiner Kaufmannsfrau sind auch Huldigungen an die Zeremonie des Teetrinkens, die dem Familienmenschen Kustodijew, der seit 1916 gelähmt im Rollstuhl saß, offensichtlich besonders wichtig war.

Die frontal gesetzte Teetrinkerin, an die sich schmusend eine Katze schmiegt, ist nicht ganz allein in ihrem entspannten Tun. Im Hintergrund ist ein weiterer Balkon zu sehen, auf dem ein Paar auf beiden Seiten eines metallglänzenden Samowars sitzt. Dieses Requisit strahlt ebenso Geborgenheit, ja Muße aus wie die sorgfältig arrangierte Tischeindeckung.

Das Trinken aus einer feinen elegant zum Mund geführten Schale wird bei Kustodijew zu einem andächtigen, fast tiefenentspannten Moment der Selbstversunkenheit stilisiert, so auch in seinem eindrucksvollen „Moskauer Gasthaus“ von 1916. Sieben Männer in bodenlangen blauen Kaftanen, die sie als Kutscher kenntlich machen (in denen sie aber auf den unbefangenen Beschauer eher wie Popen wirken), sitzen würdevoll um einen Tisch. Sie haben die henkellosen Teeschalen zum Mund erhoben und schlürfen langsam das Heißgetränk mit einem feierlichen Gestus, als ob es sich um ein religiöses Zeremoniell handelte. Es wirkt fast, als ob sie auch im übertragenen Sinne Einkehr halten.

Im gewollten Gegensatz zur patriarchalischen Ruhe dieser Gesellschaft steht das diensteifrige Heraneilen von zwei folkloristisch gewandeten Kellnern, die ballettartig Tabletts mit buntbemalten Teekannen bugsieren. Der Patron im kragenlosen Bauernkittel unter der Weste posiert hinter einem Buffet, auf dem Flusskrebse und Gurken und als witziges Zitat der Moderne ein Grammophon zur Schau gestellt werden.

Die Personen in Kustodijews Gemälden essen und trinken russisch, ja altrussisch, aber es gelingt dem Maler, diesem Stil eine eigene Ästhetik abzugewinnen – man könnte seine Bilder als Design-Ikonen russischer Tafelkultur bezeichnen. Das geht los mit den folkloristisch bestickten Tischtüchern, erstreckt sich auf die vergoldeten Porzellantassen, die mit bäuerlichen Blumenmotiven bemalten Wasserkrüge, die Präsentation von Obst und Gebäck und sogar das innenarchitektonisch styling des tiefrot gestrichenen Moskauer Etablissements.

Weltläufig, national, also russisch genießen

Kann man service à la russe eleganter, weltläufiger und zugleich „nationaler“ darstellen als im 1920 entstandenen Aquarell eines Kellners, der – sein schnurrbärtiges Schauspielerhaupt stolz erhoben – dahinstürmt, dass die roten Kordeln seiner weißen Tracht nur so flattern, in der Rechten ein Tablett mit roten Krebsen und Wodkakaraffe, in der Linken zwei kobaltblaue Teekannen mit Golddeckel balancierend?

Auch die Kaufmannsdamen genießen russisch. Auf der Fassung von 1923 prangt ein kalatsch, ein slawischer Weizenkringel, der als teureres Feingebäck galt. Die Dame von 1918 bedient sich aus einem Brotkorb von Caravaggio-hafter Präzision, so dass selbst die einzelnen Mohnkörner der Hörnchen zu erkennen sind.

Als typisch südrussisch darf zur Entstehungszeit der Gemälde die Kombination von Tee mit Wassermelonen gelten. Das knallrote Fruchtfleisch der aufgeschnittenen Riesenfrüchte ist zweifellos ein Eyecatcher. Botaniker mögen rätseln, ob es sich um die Sorte „Olgas Schöne“ handelt, Kunsthistoriker, ob hier ein disguised symbolism erotischer oder theologischer Art vorliegt: Die Wassermelone wurde auch als Symbol für das Haupt von Johannes dem Täufer gesehen.

Ich persönlich bin der Meinung, dass es sich ganz schlicht um eine Kindheitserinnerung an die Geburtsstadt Boris Kustodijews handelt. Denn das tatarisch geprägte Astrachan gilt nicht nur als Kapitale des Kaviars, sondern auch als Hauptstadt der aus Zentralasien stammenden Wassermelone.

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