Der Zarin Sucht nach Rentierzungen
Zum Nachkochen: Tatjana Kuschtewskaja lässt uns über die Extravaganz der Zarenküche staunen
#6 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Solche Titel sind in Frankreich nicht ungewöhnlich: À la table des Tsars. Das Land hegt eine ungebrochene Begeisterung für die feinere russische Küche. Wir in Deutschland wissen hingegen wenig über die Hofküche der Romanows. Das hat Gründe.
Nach der Oktoberrevolution entfalteten unsere Exilgemeinden nie einen aristokratischen Prunk, der mit dem Auftreten der „weißen“ Diaspora in Paris oder Nizza vergleichbar wäre. Außerdem gab es in den Notzeiten der Weimarer Republik wenig Anlass, sich ausgerechnet mit der Nobelküche des einstigen Weltkriegsgegners zu beschäftigen. Und nach dem Wirtschaftswunder der 1960er-Jahren wollten wir zwar die Rezepte der Welt kennenlernen, aber wir schwärmten da eher für cucina povera, die „arme“ schmackhafte Küche des einfachen Volkes.
Die akademische Forschung konzentrierte sich lieber auf soziologische Ansätze, welche die Mangelernährung der Unterschichten anprangerte. Erst in jüngster Zeit beginnen wir hierzulande, uns auch für die elitäre Kochkunst der Residenzen und Höfe zu interessieren.
So füllt – Weihnachten 2020 erschienen – „Aus der Küche der russischen Zaren“ von Tatjana Kuschtewskaja eine Lücke. Das Cover des Kiewer Künstlers Ruslan Naida, gezeichnet in einem durch Ikonen und Art-Déco inspirierten altrussischen Märchenstil, betont durch kundige Details die nationale Eigenständigkeit des kulinarischen Zeremoniells. Zwei Bojaren warten dem alleinspeisenden Alleinherrscher auf, vor dem Schwan und Stör im Ganzen, Kascha-Grütze in silberner Schale und eine Ananasfrucht aufgetischt sind, auf deren Reifung in Petersburger Gewächshäusern man berechtigten pomologischen Stolz entwickelte.
Katharinas Stachelbeersucht, Peters Wodkafolter
Die Autorin, eine unermüdliche Mittlerin zwischen russischer und deutscher Kultur, geht chronologisch anekdotisch vor. Sie verrät Vorlieben und Marotten, etwa die Stachelbeersucht Katharina der Großen oder die Wodkafolter, die sich Peter der Große für Nichtbefolgung seines berühmten Erlasses ausgedacht hatte: „Alle Bojaren müssen ihre Bärte stutzen, deutsche Kleidung tragen, Gavotte tanzen lernen und sich bei Tisch gut benehmen.“
Aus der Küche der russischen Zaren
Kuschtewskaja hat Reiseberichte wie einen Empfang im Winterpalast studiert, die einfangen, dass der kulinarische Zivilisierungsprozess im 19. Jh. zu einer Eleganz führte, die auch einen verwöhnten Franzosen wie Théophile Gautier entzückte: „Kandelaber wechselten sich ab mit Pyramiden aus Früchten und hohen Gefäßen als Tafelaufsätzen für die üppig gedeckten Tische. Von oben war die funkelnde Symmetrie der Kristalleuchter, des Porzellans, des Silbers und der Blumenarrangements besser zu überblicken als von unten. Von dort sah man auch die beiden Reihen weiblicher Brüste, die sich entlang der Tischtücher aus zarter Spitze erhoben – vor Brillanten nur so funkelnd –, dem neugierigen Auge ihre Reize nur andeutend, wenn es über die Scheitel heller und dunkler Haare hinweg schweifte, die zwischen all den Blumen, Blättern, Federn und Edelsteinen aufschienen.“
Historische Speisen, nachkochbar
Vor allem hat Tatjana Kuschtewskaja historische Speisekarten ausgegraben und deren Gerichte nachkochbar gemacht. Spannend ist dabei, welche lukullischen Inspirationsquellen als würdig für den Zarengaumen erachtet wurden. Beim Festessen, das Fürst Potemkin im 18. Jahrhundert für Katharina gab, sind aufgelistet: Ochsenschwanz nach Tatarenart, Taube nach Art des polnischen Adelsgeschlechts Stanislawski und Filet nach Art des Sultans.
Die Dominanz der französischen Küche, die zu französischen Speisekarten führte, ist noch nicht ausgebildet. Sie wird erst nach dem kurzen Petersburger Intermezzo von Antonin Carême, dem Starkoch der Epoche, de rigueur. Andererseits haben französische Zaren- und Adelsköche auch bewusst altrussische Speisen wie Borschtsch in den höfischen Speisezettel integriert.
Spannend sind auch die Bemerkungen zur Kreml- und Glasnostküche, von Breschnews barocken Buffets bis zu Jelzins Bärentatzen, von Gorbatschows kulinarischer Italophilie bis zur Anekdote, dass die in Neuseeland kreierte Pavlova-Meringue schließlich doch den Sprung in die Heimat der Primaballerina geschafft hat.
Herausgebackene Robinienblüten, frittierte Austern
Man hätte historisch noch mehr auf der innigen Symbiose zwischen französischer und russischer Küche herumreiten können. Man hätte Eskapaden wie das superluxuriöse Dreikaisermahl 1867 in Paris oder den Alexander II. gewidmeten Champagner Roederer Kristall erwähnen und über den französischen „Dreizarenkoch“ Pierre Cubat schreiben können. Man hätte thematisieren können, inwieweit sich der Kulturkampf zwischen sapadniki (Westlern) und Slawophilen auch kulinarisch bei Hofe niederschlug. Und spielte die deutsche Herkunft vieler Herrscher und Herrscherinnen keine Rolle?
Aber letzten Endes handelt es sich hier nicht um ein ausgefeiltes Geschichtswerk, sondern um ein unterhaltsames und inspirierendes Kochbuch, das eine Menge nachkochbarer Rezepte wie herausgebackene Robinienblüten oder Moskauer Gelée anbietet und mit familiären Erinnerungen statt Hochglanzfotos würzt. Und um eine Fundgrube gastronomischer Details, die durch ihre Andersartigkeit, ja gerade durch im deutschen Mainstream verpönte Speisen das Interesse von Gourmets (und Historikern) kitzelt. Wie mögen gedörrte Rentierzungen, eine der Leibspeisen von Katharina der Großen, schmecken? Was halten wir von Petersburger Austern, frittiert in einem Sahne-Gänsefett-Wodka-Teig? Und wie apart ist doch die Idee, Eiscreme in Pokalen aus glasklarem Wassereis zu reichen!