Russland, Ukraine: Was ist schiefgelaufen?

Putins kaltblütiger Plan für eine gewaltsame Rekolonialisierung des ehemals sowjetischen Raum

von Tobias Münchmeyer
Der Kipppunkt: Jelzins Auflösung des Parlaments und Beschießung der Duma 1993

„Mit eurer Hochzeit ist für mich 1999 der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen“, hat meine Kiewer Schwiegermutter einmal gesagt. Seit voriger Woche wohnt sie im Luftschutzkeller. 1941 war sie mit ihrer Mutter vor der Wehrmacht nach Russland geflohen. Diesmal bleibt sie in Kiew, wo jetzt Raketen einschlagen.

Putin hat die ganze Welt an den Abgrund geschoben, in einem stetigen Prozess, Millimeter für Millimeter, über mehr als 22 Jahre lang, vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Wir alle erleben eine tragische historische Zäsur. Alles deutet darauf hin, dass die Ukraine erst am Anfang von massenhafter Vertreibung, Zerstörung, Leid und Tod steht. Und politisch stehen wir schon jetzt vor einem Trümmerhaufen.

Matthias Platzeck, einer der treuesten Verteidiger des bedingungslosen Dialogs mit Putin, hat wegen seiner Fehleinschätzung Putins den Vorsitz des Deutsch-Russischen Forums aufgegeben. Die meisten Russland-Experten im Petersburger Dialog haben sich getäuscht, vor allem die „Russland-Versteher“, aber eben auch die „Kreml-Kritiker“ wie ich selbst. Denn Ursache für die jetzige Eskalation ist nicht ein Mangel an Dialog zwischen Russland und dem Westen gewesen, sondern Putins kaltblütiger Plan für eine gewaltsame Rekolonialisierung des ehemals sowjetischen Raums. Wie konnte es so weit kommen?

Wo ist sie hin, die Freiheit der 1990er?

Im Dezember 1991 lebte ich als Russisch-Student in Moskau und sah im Fernsehen Michail Gorbatschows letzte Ansprache: „Ich beende meine Tätigkeit auf dem Posten des Präsidenten der UdSSR. Unsere Völker werden in einer blühenden und demokratischen Gesellschaft leben. Ich wünsche Ihnen allen das Allerbeste.“

Ich fuhr mit der Metro ins Zentrum, betrat den Roten Platz und traute meinen Augen nicht: Am Flaggenmast auf dem Kremlpalast hing nicht mehr, wie 74 Jahre lang, die rote Fahne, sondern die russische Trikolore. Ein unwirklicher Anblick.

Und auf dem Platz gab es weder eine jubelnde Menge noch wütende Proteste: Im Schneeregen standen, etwas verloren, vor dem Lenin-Mausoleum etwa zwanzig Rentner in schäbigen Mänteln und schwenkten schweigend kleine Flaggen der Sowjetrepubliken; auch eine ukrainische – rot, mit Hammer und Sichel und einem breiten hellblauen Streifen – war dabei. Prosa­ischer hätte das Ende eines Imperiums kaum aussehen können. Der Letzte macht das Licht aus.

Das Moskau der Neunziger war skrupellos, schnell, aber auch aufregend und frei. Wo ist sie geblieben, diese Freiheit?

Anfang 1991 gingen in Moskau 800 000 Menschen auf die Straße, um für (!) die Unabhängigkeit Litauens zu demons­trieren, mit Losungen wie „Wir erlauben keine Okkupation Litauens“. Wo sind diese Menschen heute, wenn Raketen in Wohnblocks in Mariupol einschlagen? Warum sind die Demonstrationen in Moskau 2022 so winzig klein? Was ist bloß so fürchterlich schiefgelaufen in der demokratischen Entwicklung Russlands?

Die Sehnsucht nach der harten Hand

Einen Kipppunkt bildete schon Jelzins Beschießung der Duma 1993. Es folgten weitere mit dem Tschetschenien-Krieg 1994 bis 1996 und der unfairen Präsidentschaftswahl 1996. Ich traf damals am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Nischni Nowgorod den Gouverneur und jungen Hoffnungsträger Boris Nemzow (der Jahre später ermordet werden sollte). Er drang darauf, es müsse „mit allen Mitteln“ erreicht werden, dass der Demokrat Jelzin Präsident bleibe und dass nicht der Kommunist Sjuganow an die Macht komme. Aber genau der Einsatz „aller“ und auch undemokratischer Mittel untergrub die staatliche Glaubwürdigkeit und Stabilität und schuf damit erst die Sehnsucht nach der harten Hand.

In den späten Neunzigerjahren suchte der immer hinfälligere Jelzin in einer Art Aschenputtel-Verfahren einen Nachfolger. Innerhalb seiner letzten anderthalb Jahre im Amt machte er zuerst den Energieminister zum Regierungschef und entließ ihn nach wenigen Monaten wegen mangelnder Härte, dann den Außenminister, dann den Innenminister, bis er schließlich den Geheimdienstchef zum Regierungschef ernannte, einen gewissen Wladimir Putin – er passte perfekt zum gewünschten Profil der Härte.

Mit dieser Thronfolgersuche, diesem dynastischen Verständnis von Politik, wurden Wahlen in Russland wieder zu dem, was sie in der Sowjetunion waren: eine Farce. Und Putins Entwicklung zum lupenreinen Diktator führte das Land zielgenau in diesen Krieg.

Heute bombardieren Russen Kiew. Im September 1998 war ich noch mit ukrainischen und russischen Freunden gemeinsam beim Fußball-Länderspiel Ukraine gegen Russland (3:2) im Kiewer Olympiastadion, einem von nur zwei Spielen zwischen diesen Staaten. Ein fröhliches Fußballfest – und das Publikum genoss die gegenseitigen Frotzeleien, so harmlos, als hätte Österreich gegen Deutschland gespielt.

Natürlich gab es auch vor Putin zwischen Menschen in der Ukraine und Russland nicht nur Sympathie, sondern auch Ablehnung: Kollektive Traumata wie auf der einen Seite der Holodomor, die 1933 künstlich geschaffene Hungersnot in der Ukraine, sowie auf der anderen Seite die mörderische Allianz zwischen dem ukrainischen Partisanenführer Stepan Bandera und der Wehrmacht haben ihre Spuren in nationalen Narrativen hinterlassen.

Aber der gesellschaftliche Mainstream in den Nachkriegsgenerationen? Der empfand die jeweils andere Seite als gute Nachbarn, mit denen man hunderttausendfach verwandtschaftlich und freundschaftlich verbunden war. Und hatte meine Schwiegermutter denn nicht gemeinsam mit russischen Großmüttern und Großvätern Hitler besiegt?

Die Büchse der Pandora ist erst jetzt geöffnet worden, vor gerade einmal acht Jahren, durch die Annexion der Krim. Seither sind viele dieser Verbindungen verkümmert. Und die, die geblieben sind, werden gerade in diesen Stunden zerschossen.

Die Utopie des Maidan

Im Winter 2013/14 in Kiew: Barrikaden aus Schnee, aus Eissäcken, Brettern und Autoreifen, vier Meter hoch, direkt vor dem Haus, in dem ich dort wohnte. Ich betrat den riesigen Maidan-Platz mit seiner großen Bühne. Und davor stand: der Maidan.

Häufig hörte man Sätze wie: „Der Maidan fordert dies.“ Oder „Das akzeptiert der Maidan niemals.“ Der Maidan, der die Ukraine und ganz Europa drei Monate lang in Atem hielt, war ein amorphes gesellschaftliches Wesen. Je nach Tageszeit und Anlass schwoll es auf mehrere Hunderttausend Köpfe an, um dann wieder auf wenige Tausend zusammenzuschrumpfen. Es verkörperte eine demokratische oder sogar anarchistische Utopie.

Der Historiker Wadim Skuratowksi, Freund meiner Schwiegereltern, hielt eine Rede bei einer der größten Kundgebungen vor knapp einer Million Menschen. Darin zitierte er Hegel, der, als er mit eigenen Augen Napoleon Bonaparte auf den Straßen von Jena gesehen hatte, begeistert geschrieben hat, er habe „den Weltgeist zu Pferde“ gesehen. „Der Weltgeist, das seid jetzt ihr, der Maidan!“, rief Wadim. Und der Maidan jubelte.

Aus dem Freiheitswillen der Maidan-Revolutionäre, aus diesem Weltgeist, entwickelt sich vor unseren Augen ein breiter Widerstand, wie Russland ihn noch nie gesehen hat. Der Maidan war ein Labor für gelebte Solidarität und Selbstorganisation.

Die Ukrainer und Ukrainerinnen sind dazu bereit, ihr Leben in die Waagschale zu werfen, um ihre Freiheit zu verteidigen. Und außerhalb der Ukraine ist es nicht nur die europäische Politik, die sich vereint. Es sind vor allem einfache Menschen, die Zivilgesellschaften in vielen Ländern, die zusammenhalten und Menschen in der Ukraine unterstützen, mit der Aufnahme von Flüchtlingen, mit Spenden oder Lieferungen von Schutzwesten, Funkgeräten, Medikamenten und Generatoren.

Was fehlt, sind schmerzhafte Sanktionen. Erwähnt sei hier, dass die Pipeline „Freundschaft“ russisches Öl direkt bis zur PCK-Raffinerie in Schwedt pumpt, die mehrheitlich Rosneft gehört, wo Gerhard Schröder Aufsichtsratsvorsitzender ist und Putins Freund Igor Setschin CEO.

Die EU hat im vorigen Jahr aus Russland Erdöl und Erdgas im Wert von 90 Milliarden Euro importiert. Russlands Militärbudget betrug im selben Jahr 62 Milliarden Euro.

Ich denke an meine tapfere, geliebte Schwiegermutter, wie sie im Halbdunkel auf ihrer Matratze vor den Heizungsrohren sitzt und mit ihren Enkelinnen in Berlin telefoniert. Und ich glaube ganz fest daran: Sie wird auch diesen Krieg überleben.

Tobias Münchmeyer ist Geschäftsführer des Caucasus Nature Funds (CNF) und lebt in Tbilissi. Er ist Mitglied des Petersburger Dialogs und Mitbegründer der Kiewer Gespräche. Sein Text ist ursprünglich erschienen am 7.3.2022 in der Frankfurter Allgemeine.

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