History telling in Charlottengrad

Angela Kreller führt ihre Gäste durch das russische Berlin, wo einst 360 000 Menschen lebten

History telling in 'Charlottengrad': Stadtführerin Angela Kreller in Schöneberg

#7 – Für die KARENINA-Reihe „Zwischen den Welten“ entdeckt Gemma Pörzgen bemerkenswerte Menschen, die mit Russland und Deutschland eng verbunden sind.

„Ick bin Angela, aber ohne Merkel“, begrüßt die Stadtführerin die bunte Truppe, die sich zu ihrer Tour „Charlottengrad“ angemeldet hat. Es sind überwiegend Berliner, die aus anderen Stadtteilen der Hauptstadt nach Charlottenburg kommen und neugierig sind, mehr davon zu hören, warum dieser Teil von West-Berlin eine russische Geschichte hat.

„Ich komme vom Prenzlauer Berg und war hier noch nie“, sagt eine Frau in der Gruppe. Einige Touristen haben die Hauptsehenswürdigkeiten schon alle gesehen und wünschen sich deshalb eine besondere Kieztour durch das russische Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre.

Angela Kreller weiß darüber viel zu erzählen, ihre eigene Lebensgeschichte ist eng mit Russland verwoben. Ihr deutscher Vater kam Anfang der 1960er-Jahre aus der DDR zum Studium nach Moskau und verliebte sich bald danach in ihre russische Mutter.

Bei deren Familie stieß das auf großes Unverständnis, denn der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg gegen die Deutschen gekämpft und später in der Kriegsgefangenschaft gelitten. Den Schwiegersohn aus der DDR akzeptierte er deshalb über viele Jahre nicht.

Weil aber das Studentenleben im Wohnheim schwer mit einem Baby zu bewältigen war, nahmen die russischen Großeltern die kleine Angela zu sich. „Ich war das Versöhnungskind“, sagt sie heute über diese ersten Kindheitsjahre bei Oma und Opa, wo sie zunächst mit Russisch aufwuchs.

Als die Eltern als fertige Ingenieure zum Arbeiten in die DDR gingen und eine Schwester geboren wurde, zog auch Angela erst nach Eberswalde, dann nach Ostberlin hinterher. Die russischen Großeltern besuchte sie weiter während der Schulferien. Die ganze Familie übersiedelte 1975 wieder nach Moskau, weil die Eltern an der DDR-Handelsvertretung zu arbeiten begannen.

Sechs Jahre später kehrten sie nach Ostberlin zurück, wo Angela die Schule abschloss. Zum Studium der Veterinärmedizin zog es sie aber erneut in die Sowjetunion. Ihr Leben war bis dahin ein ständiges Pendeln zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen, die ihr beide Heimat waren.

Nach der Wende: Russisch als Türöffner

Der große Einschnitt für die Familie kam mit der Wende 1990, sagt Angela. Die Eltern verloren ihre Arbeit, ihr frischer sowjetischer Studienabschluss fand im vereinten Deutschland keine Anerkennung mehr. Der Traum von einem Berufsleben als Tierärztin war geplatzt. Die Bitterkeit darüber ist bis heute zu spüren, wenn sie von dieser schweren Zeit des völligen Umbruchs erzählt.

Als Glück im Unglück sollte sich erweisen, dass Angela während der Semesterferien immer wieder als Reiseleiterin in Ost-Berlin regelmäßig sowjetische Reisegruppen betreute. So gelang es ihr, sich mit Dolmetschen und als freiberufliche Stadtführerin durchzuschlagen. „In Berlin entwickelte sich der Tourismus immer mehr, die Stadt galt als hipp“, erinnert sich Angela. „Und Russisch war immer wieder für mich der Türöffner.“

Seit mehr als 20 Jahren arbeitet sie für den Verein „Stattreisen“, der besondere Berlin-Touren anbietet. „Nach Corona ist die Nachfrage nach Touren jetzt besonders groß.“ Während des Lockdowns waren Stadtführungen zeitweise ganz verboten. Auch jetzt muss Angela noch mit Maske gegen den Autolärm anschreien, wenn sie ihre Gruppen durch den Kiez führt.

360 000 Russen in Charlottengrad

Die Tour „Charlottengrad“ beginnt am Wittenbergplatz, wo die Stadtführerin die Erinnerung an die 1920er-Jahre in vielen Anekdoten wieder aufleben lässt. Dabei zeigt sie zwischendrin historische Fotos, die sie in einem roten Aktenordner bei sich trägt.

Untermalt wird die Erzählung von zahlreichen literarischen Zitaten der russischen Schriftsteller, die damals in dieser Gegend lebten, sei es Andrej Belyj oder Vladimir Nabokov. „Rund 360 000 Russen lebten hier in diesem Dreieck zwischen Bahnhof Zoo, Nollendorfplatz und Prager Platz“, berichtet Angela der staunenden Gruppe. Immer wieder bleibt die temperamentvolle Stadtführerin gestikulierend stehen, um an einen früheren russischen Buchladen, ein Restaurant, Café oder die vielen russischen Verlage zu erinnern. Wo früher ein Delikatessengeschäft war, ist heute ein Bioladen, aber vor dem geistigen Auge entsteht ein Bild von jener fernen Zeit.

Wenn Russen Nabokovs Elternhaus besuchen

Angela führt an anderen Tagen auch russische Besucher. „Da vertiefe ich dann den literarischen Teil“, sagt sie. Aber auch mit den russischen Gruppen zieht sie auf dem Weg zu Nabokovs Elternhaus durch Schöneberg, das als schwul-lesbischer Kiez bei den Russen manchmal für Irritationen sorge. Aber Angela verändert ihre Tour nicht, wenn sie an den Cafés voller männlicher Paare, den vielen bunten Regenbogenfahnen und Fetischläden vorbeigeht, sondern erzählt auf Russisch von den Freiheiten der 1920er-Jahre und den Parallelen zu heute.

Auch in der Gegenwart leben im westlichen Teil der Stadt wieder viele Menschen aus Russland, die in verschiedenen Emigrationswellen zugezogen sind. „So gesehen ist meine Tour auch hochaktuell“, sagt Angela, die demnächst noch eine Fortsetzungstour „Charlottengrad II“ anbieten will. Sie hofft, dass ihr die vierte Corona-Welle im Winter da nicht dazwischenkommt.

Link zu Stattreisen: https://www.stattreisenberlin.de/stadtfuehrungen-berlin/

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