Gesucht in Gottes Namen: Robuste Anführer
Die Zuneigung konservativer Christen zu nationalistischen Machos – in Russland wie in den USA
„Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut“, schrieb Lord Acton 1887 in einem Brief an einen anglikanischen Bischof. Dabei bezog er sich darauf, wie Religionshistoriker mit Verbrechen umgehen sollten, die von Kirchenführern begangen wurden. Seiner Ansicht nach müssen religiöse (und politische) Führungspersonen an einem höheren moralischen Maßstab gemessen werden als normale Menschen. Wenn die historischen Aufzeichnungen dies nicht leisten, dienten sie „den Schlimmsten mehr als den Reinsten“.
Wenn zukünftige Historiker die religiöse Rechte Amerikas und ihre momentanen Anführer bewerten, sollten sie sich an Actons Ratschlag erinnern.
Aus meiner Erfahrung in der Sowjetunion weiß ich, dass Kleriker von einem moralischen Urteil nicht ausgenommen werden sollten. Alexius II, während meiner Jugend Patriarch der orthodoxen Kirche, stand lang unter dem Verdacht der KGB-Mitgliedschaft und arbeitete freudig Hand in Hand mit dem sowjetischen und danach russischen Staat. Und heute zögert sein Nachfolger Patriarch Kyrill nicht, nach der Pfeife des ehemaligen KGB-Agenten Wladimir Putin zu tanzen – ob es darum geht, die Besatzung der Krim zu rechtfertigen oder den Hass gegen Homosexuelle anzufachen.
In Amerika sind Religion und Politik natürlich verfassungsrechtlich getrennt. Aber vielen der heutigen konservativen Christen in den Vereinigten Staaten bedeutet das Verbot im ersten Zusatz der Verfassung, das sich gegen alle „Gesetze bezüglich der Etablierung einer Religion” richtet, nur wenig. Außerdem entspricht das, was sie in den USA gesetzlich verankern wollen, nicht dem moralischen Kodex der christlichen Bibel. Laut der Historikerin Kristin Kobes Du Mez haben die modernen weißen Evangelikalen in den letzten 75 Jahren ihren Glauben überarbeitet und den liebenden Jesus des Evangeliums durch ein „Idol schroffer Maskulinität und christlichen Nationalismus“ ersetzt.
Heute wollen diese Evangelikalen ein „robusten maskulinen“ Anführer, der für das Verbot der Abtreibung kämpft. Dieses Ziel hat auch einem großen Teil der Hierarchie der US-amerikanischen katholischen Kirche Scheuklappen aufgesetzt. So versuchte eine große Gruppe katholischer Bischöfe in den letzten Monaten, neue Regeln einzuführen, mit denen Politiker, welche die Abtreibungsrechte unterstützen, von der Heiligen Kommunion ausgeschlossen werden sollen.
Damit verweigern sie Papst Franziskus ausdrücklich den Gehorsam. Ihr Ziel ist Präsident Joe Biden, Amerikas erster katholischer Präsident seit John F. Kennedy und ein regelmäßiger Kirchgänger.
Verschwörungstheorien von Kirchenführern
Unterdessen verherrlicht die religiöse Rechte der USA Bidens Vorgänger Donald Trump. Obwohl er sich zwielichtig und geschmacklos verhält, spricht er sich (zumindest öffentlich) gegen Abtreibung aus und pflegt das Image eines Machos. In einem offenen Brief vor der Präsidentschaftswahl von 2020 bezeichnete Erzbischof Carlo Maria Viganò, ein ehemaliger Botschafter des Vatikans in den USA, Trump („der das Recht auf Leben mutig verteidigt“) als Amerikas einzige Hoffnung gegen eine „höllische Täuschung“. Weiterhin schrieb Viganò von einem „biblischen“ Wettkampf zwischen den „Kindern des Lichts“ – der absurderweise von dem verlogenen Wüstling Trump angeführt wird – und den „Kindern der Dunkelheit“, die wir „leicht mit dem deep state in Verbindung bringen können“.
Dies klingt kaum nach einem führenden Vertreter der Kirche. Viganò nennt die COVID-19-Krise ein „kolossales sozialtechnisches Projekt“, bei dem „es Menschen gibt, die über das Schicksal der Menschheit entschieden haben und sich das Recht herausnehmen, gegen den Willen der Bürger und ihrer Vertreter in den Nationalregierungen zu handeln“. Das ist QAnon wie aus dem Lehrbuch. Manche Gläubige betrachten die amerikanische Gesellschaft als derart vom Bösen durchsetzt, dass sich David Fulton, ein katholischer Priester aus Nebraska, mit einem Exorzismus brüsten kann, den er während der Aufstände gegen das US-Kapitol vom 6. Januar durchgeführt hat, um einen Dämon namens Baphomet auszutreiben, der „das Land zersetzt“.
Der QAnon-Kult basiert auf dem Mythos, eine Clique satanistischer, liberaler Elitärer betreibe ein weltweites Netzwerk zum sexuellen Missbrauch von Kindern und nutze ihre Führungspositionen in der Regierung, den Medien und im Finanzwesen dazu, eine Weltregierung durchzusetzen. Trump, so glauben die QAnon-Anhänger, führe einen gerechten Kampf gegen diese Clique, und diese habe unermüdlich versucht, ihn zu Fall zu bringen.
Besonders empfänglich für diese Geschichte sind weiße Evangelikale. In einer Umfrage vom März kamen das Public Religion Research Institute und das Interfaith Youth Core zu dem Ergebnis, dass 15 Prozent der Amerikaner dem QAnon-Evangelium des manichäischen Kampfs Glauben schenken. Und laut einer Studie des American Enterprise Institute vom Januar ist diese Quote unter weißen Evangelikalen sogar fast doppelt so hoch.
Dass die QAnon-Prophezeihung, Trump werde am 4. März triumphierend ins Weiße Haus zurückkehren, nicht eingetreten ist, hat offensichtlich wenig dazu beigetragen, die Sekte zu diskreditieren. Dies sollte uns vielleicht nicht überraschen: Eine solche Art blinden Vertrauens ist genau das, was Evangelisten anstreben. Und tatsächlich waren es oft die Religionsführer, welche die QAnon-Verschwörungstheorien verbreitet haben.
Made in Russia: Die Protokolle der Weisen von Zion
Allerdings sind diese Ideen nicht neu. QAnon bereitet lediglich den Inhalt der „Protokolle der Weisen von Zion“ neu auf – eines Pamphlets, das 1903 aufgetaucht ist und behauptet, die vertrauliche Mitschrift eines Treffens mächtiger Juden zu sein, die sich verschwören, um die Weltherrschaft an sich zu reißen. Darin finden sich sämtliche klassischen antisemitischen Klischees: Juden entführen und schlachten Kinder und trinken dann ihr Blut, um besondere Kräfte zu erlangen. Sie kontrollieren hohe Positionen in der Regierung, im Finanzsektor und in den Medien. Sie unterstützen die Pädophilie, und sie wollen die weiße Rasse durch Vermischung schwächen.
Die russische Okhrana (die zaristische Geheimpolizei) hat wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ihr Machwerk von Antisemiten in aller Welt gefeiert würde – obwohl es wiederholt und eindeutig widerlegt wurde. Und sicherlich hätten sie nicht erwartet, dass die „Protokolle“ zum Holocaust beitragen würden. Aber tatsächlich hat das Pamphlet mit seinem Mythos in der Nazipropaganda eine entscheidende Rolle gespielt und das Denken von Hitler und Goebbels geprägt.
Ebenso haben die Urheber der QAnon-Verschwörung vielleicht nicht beabsichtigt, dass ihr Produkt zu einer vereinigenden Religion gewalttätiger Trump-Unterstützer wird. Und obwohl einige mit QAnon verbundene Politiker zweifellos Gläubige sind – wie die US-Repräsentantin Marjorie Taylor Greene, die behauptete, die kalifornischen Waldbrände von 2018 seien durch einen „jüdischen Weltraumlaser“ entzündet worden – sehen andere darin wahrscheinlich ein Reservoir möglicher Wähler.
Aber der versuchte Staatsstreich am US-Kapitol vom 6. Januar hat das tödliche Potenzial von QAnon enthüllt. Dieses Ereignis wirkte tatsächlich wie die Geburt einer religiösen Sekte, die im weißen Evangelismus wurzelt, von reaktionären Katholiken unterstützt wird und dazu dient, die Gläubigen in eine politische Apokalypse zu treiben.
Aber Lord Acton kann beruhigt sein: Die Anstifter dessen, was Joan Didion einmal „den dünnen Wein der Hysterie“ genannt hat, der nun über ganz Amerika schwappt, werden von zukünftigen Historikern sicherlich nicht verschont.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff / Copyright: Project Syndicate, 2021. www.project-syndicate.org