Europa war schon einmal größer

Orlando Figes und das Deutsche Literaturarchiv holen Russland in die gemeinsame Gegenwart zurück

#5 der KARENINA-Serie "Gehört Russland zu Europa?". Das schon, meint Johann Michael Möller, aber will Russland überhaupt noch zu Europa gehören?

Die alte, immer wiederkehrende Frage, ob Russland zu Europa gehöre, stellt sich mittlerweile neu: Will Russland überhaupt noch zu Europa gehören? Die Antwort fällt nur noch zögerlich aus. Jene Idee vom „Gemeinsamen Haus Europa“ jedenfalls, wie sie Michail Gorbatschow einst propagierte, gehört inzwischen der Vergangenheit an.

Vor allem das bevorzugte Verhältnis zu Deutschland hat dramatisch gelitten. Auf der Beliebtheitskurve der bevorzugten Nachbarvölker wandern wir Deutschen stetig nach unten. Dieser Vorgang lässt sich schon seit Jahren beobachten. Er bekam mit der Annexion der Krim seinen negativen Erinnerungsort und hat mittlerweile zu einer großen Sprachlosigkeit geführt.

Die Urteile stehen fest, die Bilder voneinander auch, und der politische Alltag ist zur lustlosen Routine verkommen. Keine Idee, kein Konzept, gar nichts. In diese Stimmung platzte dann noch der Fall Nawalny. Er war nicht einfach nur die Fortsetzung einer langen Reihe vergleichbar schrecklicher Vorkommnisse, sondern markiert den bisherigen Tiefpunkt in der deutschen und westlichen Öffentlichkeit; und in Russland ist das nicht anders.

Das Misstrauen auf beiden Seiten ist zu einer tiefen Vertrauenskrise geworden; mehr noch: Das Vertrauen scheint für lange Zeit irreparabel beschädigt zu sein. Der Westen gibt alle Illusionen preis, im Falle von Putins Russland noch auf einen Rest von Rechtstaatlichkeit hoffen zu können; und die russische Regierung sieht sich vor der ganzen Welt vorgeführt und der politischen Ächtung überlassen. Psychologen wissen, wie schwer es ist, eine solche Zerrüttung heilen zu können; zumal es um handfeste Diskrepanzen geht, die sich nicht einfach wegtherapieren lassen.

Gemeinsame Wurzeln

In dieser verfahrenen Situation fallen zwei Bücher auf, die kürzlich in Deutschland erschienen sind. Sie haben auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun und kreisen doch beide um das gemeinsame Erbe Europas, um den künstlerischen Kosmos, der Deutschland einst mit Russland aber auch den Westen Europas mit der Kulturwelt im Osten verband. Das eine Buch handelt von jener geheimnisvollen Heimat, die der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke in Russland fand. Das andere Buch ist der großangelegte Versuch des renommierten und nicht immer unumstrittenen Historikers Orlando Figes, zu zeigen, dass man nicht die gemeinsamen Wurzeln bemühen muss, um die geistige Einheit Europas zu finden, sondern dass es die beginnende Moderne im 19. Jahrhundert war, die russische Künstler, Literaten, Musiker, Theater oder Verlage ganz selbstverständlich umfasste.

Orlando Figes

Die Europäer

Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur

 

Hanser Verlag
640 Seiten
Hardcover
34 Euro
ISBN 978-3-446-26789-3
Zum Verlag

Es gab dieses größere Europa eben schon einmal, von dem viele Zeitgenossen immer noch träumen. Und der polyglotte, im Grunde ortlose Rilke verkörperte es ebenso wie der russische Dichter Iwan Turgenjew und sein Dreiecksverhältnis mit der französisch-spanischen Operndiva Pauline Viardot und deren Ehemann Louis, einem bedeutenden Kunstsammler und eine der Schlüsselfiguren des im Entstehen begriffenen europäischen Kunstmarkts.

Anhand dieses Beziehungsgeflechts dreier an unterschiedlichsten Orten in Europa beginnender Biografien zeigt Figes, wie jener moderne, die nationalen und staatlichen Grenzen überwindende Kulturraum entsteht, der sich nicht zuletzt den schnelleren Reisemöglichkeiten mit der Eisenbahn und einem sich rapide entwickelnden Warenaustausch verdankt. Mit dem größeren Markt, so die steile These, entsteht die moderne europäische Kultur. Für Figes jener Kanon von Werken, die bald überall in Europa gedruckt, gelesen, ausgestellt oder aufgeführt werden; mehr noch: die viele Künstler eigens für diesen Markt und den Massengeschmack produzieren. Europa, so möchte man spotten, im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Figes verzichtet fast ganz auf die üblichen kunsthistorischen Herleitungen oder mentalitätsgeschichtlichen Charakterisierungen. Es ist bei ihm weder von russischer Seele oder deutschen Wäldern noch von französischer Rationalität die Rede. Nationen sind überhaupt nur Erfindungen und die Volksseele ist ein sinistres Konstrukt. Allein der Markt dominiert das Geschehen und er generiert selbstredend auch die neuen ästhetischen Formen.

Das ist Trivialmaterialismus der banalsten Form. Der alte Marx würde sich im Grabe umdrehen.

Sicher, Figes beschreibt äußerst kenntnisreich die Anfänge des modernen Kunstmarkts mit seinen neuen Reproduktionstechniken und Absatzmöglichkeiten, aber schon zu den liebevoll und detailreich gezeichneten Hauptpersonen seines Buchs will dieses enge Korsett gar nicht passen. Von den Besonderheiten, Abirrungen und wunderbaren Ungleichzeitigkeiten dieses reichen Kontinents gar nicht zu reden. Man möchte dem Autor am liebsten den alten Studentenspruch aus der linken Szene der siebziger Jahre zurufen: „Die Basis sprach zum Überbau, Du bist ja heut schon wieder blau!“

Kein Väterchen Frost, keine russische Seele

Dass Figes seinen Materialismus auf mehr als sechshundert Seiten buchstäblich zu Tode reitet, macht sein Buch am Ende ermüdend, und man hat den Eindruck, dass er wieder einmal durch ein gewaltiges Aufgebot von Namen und Episoden zu überdecken versucht, wie dünn seine Begriffsbildung im Grunde doch bleibt.

Die Kritik in Deutschland hat ihm das auch vorgeworfen. Seine Detailversessenheit dient jedenfalls nicht der Genauigkeit der Darstellung, sondern entspringt eher der Obsession eines Schmetterlingssammlers.

Natürlich verhilft das Buch auch immer wieder zu verblüffenden Einsichten, wenn man etwa erfährt, dass es zu Turgenjews Zeiten in keinem anderen Land so viele Übersetzungen auf dem Buchmarkt gab wie in Russland und im Zarenreich selbstverständlich eine kosmopolitisch gebildete Elite bestand, die nicht nur auf dem internationalen Parkett zu Hause war, sondern neue Literatur las, Gemälde sammelte und in die Oper ging. Wie überall in Europa auch. Neben die aristokratische Welt trat eine neue wohlhabende Mittelschicht, die ihren Reichtum ganz selbstverständlich auch in Kultur investierte. Kein Wintermärchen also, kein Väterchen Frost, keine russische Seele!

Solche Schilderungen haben etwas sehr Erfrischendes. Sie holen Russland in die gemeinsame Gegenwart zurück, die dem Land bis heute ja auf unterschiedlichste Weise abgesprochen wird. Es wäre deshalb ausgesprochen spannend gewesen, wenn Figes deutlicher herausgearbeitet hätte, wie Russland zu jenem inneren Orient Europas werden konnte, der den Westen so lange beunruhigte.

Seine moderne Physiognomie Russlands macht jedenfalls plausibel, warum Russland im Zuge der Revolution plötzlich an der Spitze der künstlerischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts treten konnte. Noch heute sehen wir mit Erstaunen, welch enormer Beitrag zu einer sich ausformulierenden ästhetischen Moderne damals aus dem europäischen Osten kam.

Viel bemerkenswerter als solche Facetten ist freilich der Umstand, dass ein international ausgewiesener Kenner der russischen Geschichte sich dreißig Jahre nach dem Ende des kommunistischen Machtsystems noch einmal jener betont ökonomischen Sichtweise bedient, die im Laufe des Transformationsprozesses der ost- und ostmitteleuropäischen Staaten zu grandiosen Missverständnissen und tiefen sozialen Verwerfungen geführt hat: die Vorstellung, man könne eine Gesellschaft über alle historischen und politischen Umstände hinweg durch einen gemeinsamen Markt modernisieren und schließlich vereinigen.

Erst nach dem Scheitern des neoliberalen Projekts haben wir einsehen müssen, dass auch noch so drastische ökonomische Umwälzungen nicht zwangsläufig zu modernen, liberalen, demokratischen Verhältnissen führen. Doch solche Fragen stellt sich Orlando Figes erst gar nicht, obwohl doch gerade sein erstes mentalitätsgeschichtliches Buch über die Stalinzeit, „Die Flüsterer“, trotz mancher Mängel zu einem Schlüsselwerk für das Verständnis der sowjetischen Gesellschaft wurde.

Das Verschwinden der Erinnerung

Was sich hinter dem marktgängigen Kanon der Moderne bis heute an Traditionsbeständen und kulturellem Eigensinn verbirgt, kommt ihm nicht in den Blick, was wohl nicht zuletzt eine Endkonsequenz jener neuerdings so beliebten transnationalen Geschichtsschreibung ist, die ihren Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit dekonstruiert und dabei partout nicht verstehen will, warum der sich plötzlich zu wehren beginnt.

Die Rückkehr der Nationen und des Nationalismus war jedenfalls auf diesem Tableau gar nicht mehr vorgesehen. Denn sie sind in dieser Betrachtungsweise schon vom Grundsatz her alle verdächtig.

Natürlich wehren sich die Gesellschaften Osteuropas gegen das Verschwinden ihrer eigenen Erinnerung, was das deutsch-russische Verhältnis besonders betrifft. Man müsse die Betrachtung des Zweiten Weltkriegs endlich globalisieren, heißt so eine Forderung der jüngeren Historiker. Doch das rührt eben nicht nur an Fragen der Geschichtswissenschaft, sondern immer noch an das kollektive Selbstverständnis des postkommunistischen Russlands. Dessen Erinnerungen kann man verstehen. Globalisieren kann man sie nicht.

Rilke und Russland

Das gilt auch für das deutsch-russische Verhältnis im Besonderen. Russland habe zwar mit vielen Nationen Europas im kulturellen Austausch gestanden, meint die Historikerin Irina Scherbakowa. Aber mit Deutschland sei das anders: „Die Deutschen waren schließlich immer schon da.“ Womit sie natürlich die deutsche Kultur und die deutsche Sprache meinte, die für Russland lange Zeit als eine lingua franca erschien.

Umgekehrt war Russland auch ein deutsches Sehnsuchtsland, ein Zufluchtsort vor der Moderne, ein „nie erlöstes Land“, wie Rilke es nannte. Das lässt sich in einer wunderbaren Dokumentation nachlesen, die jetzt aus der wichtigen Ausstellung über „Rilke und Russland“ hervorgegangen ist, die das Deutsche Literaturarchiv zusammen mit dem Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Föderation und dem Schweizerischen Literaturarchiv vor zwei Jahren veranstaltet hat.

Jene Ausstellung war damals ein trinationales Projekt gewesen, das doch einer einzigartigen Beziehung gewidmet war: die eines Lyrikers der aufscheinenden Moderne, der auf Deutsch und Französisch schrieb und den Hugo von Hofmannsthal volks- und heimatlos genannt hatte, zu Russland; man möchte hinzufügen: zu jenem ewigen Russland, das Rilke als seinen vertrautesten Ort empfand, obwohl er nie lange dort gewesen war.

„Was verdank ich Rußland“, schrieb er 1920 aus Locarno an Leopold von Schlözer. Russland „hat mich zu dem gemacht, was ich bin, von dort ging ich innerlich aus, alle Heimat meines Instinkts, all mein innerer Ursprung ist dort!“

Rilke hat Russland nur zweimal besucht, 1899 mit Lou Andreas-Salomé und ein Jahr später allein. Es wurde sein Erweckungserlebnis. Es war ihm, als hätte er Gott bei der Schöpfung zugesehen.

Sein ganzes Werk ist durchzogen von diesen „russischen Dingen“. Doch zu einem „Russlands-Buche“, auf das die Freundin Marina Zwetajewa so sehr gehofft hatte, ist es nie gekommen.

Thomas Schmidt

Meine geheimnisvolle Heimat

Rilke und Russland

Insel Verlag
448 Seiten
Taschenbuch
16 Euro
ISBN 978-3-458-36293-7
Zum Verlag

Fast hundert Jahre hat es gebraucht, bis der Kurator der Rilke-Ausstellung, der Literaturwissenschaftler Thomas Schmidt, diese „russischen Dinge“ durch Rilkes gesamtes Leben hindurch zusammengetragen hat – basierend auch auf den umfassenden Arbeiten des Petersburger Germanisten Konstantin Asadowski, der 1986 mit seiner Anthologie „Rilke und Russland“ vor allem die zahlreichen Spuren in russischen Archiven freigelegt hat (erw. russ. Ausgabe: Moskau 2003).

Entstanden ist daraus eines der schönsten Dokumente einer heute kaum noch vorstellbaren Nähe, das man in der langen und zuweilen bitteren Beziehung zwischen Deutschland und Russland finden kann. Es ist ein Klopfzeichen geworden, dass es diese Beziehung einst gab. Man sollte es auf Vorrat lesen. Für den Fall, dass diese Zeit vielleicht doch wieder kommt.

 

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