Der Zerfall des Sowjetreichs
Das Referendum über den Erhalt der Sowjetunion vom 17. März 1991 leitete das Ende der Sowjetunion ein
Vor dreißig Jahren sollten die Sowjetbürger über folgende Frage abstimmen: „Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken zu erhalten, in der die Menschenrechte und Freiheiten jeder Nationalität voll gewährleistet sind?“ Das Ergebnis des Referendums am 17. März 1991 war mehrheitlich zustimmend. Dennoch wurde die Sowjetunion am Ende des Jahres aufgelöst. Oder war die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS) eben die „erneuerte Föderation“, für die sich die Sowjetbürger im März ausgesprochen hatten?
Um das Referendum und seine Folgen oder Folgenlosigkeit zu verstehen, muss es als einer der vielen Schritte in einer langen Kette von Ereignissen gesehen werden, die in den letzten Jahren der Sowjetunion über ihr Schicksal entschieden.
Die Explosion des Ethnischen
Schon 1988/89 waren die nationalen Zentrifugalkräfte in der Sowjetunion immer sichtbarer geworden. In einer damals als „Explosion des Ethnischen“ genannten Entwicklung bildeten sich im Vielvölkerreich unzählige nationale Bewegungen, die jeweils mehr Eigenständigkeit und größere Unabhängigkeit von Moskau forderten.
Voran gingen die drei baltischen Republiken Litauen (11. März), Lettland (30. März) und Estland (4. Mai) im Frühjahr 1990, die 1940 als Teil des Hitler-Stalin-Pakts gewaltsam annektiert worden waren. Nur wenig später, am 12. Juni 1990, erklärte der Kongress der Volksdeputierten der RSFSR auch die Russische Sowjetrepublik für „souverän“.
Weitere folgen, bis am Ende des Jahres alle 15 Sowjetrepubliken diesen Schritt vollzogen hatten. Die sowjetische Verfassung garantierte eigentlich allen Sowjetrepubliken ohnehin die Souveränität – eine Garantie allerdings, die, wie manch andere auch, in der sowjetischen Realität bedeutungslos geblieben war.
Letzter Rettungsversuch: Union der souveränen Staaten
Von den Ereignissen getrieben, sprach Gorbatschow bei einem Treffen mit den Präsidenten der drei baltischen Staaten in Moskau im Juni 1990 erstmals davon, eine neue „Union souveräner Staaten“ anzustreben, in der alle Staaten gleichberechtigt sein sollten – eine Idee, die beim 28. (und letzten) Parteikongress der KPdSU im Juli bereits als Entwurf zirkulierte. Der Oberste Sowjet erhielt diesen Entwurf im Herbst 1990, übergab ihn im Dezember dem 4. Kongress der Volksdeputierten und setzte Anfang 1991 ein Ausschuss ein, um das Vertragsdokument abschließend mit den künftigen Mitgliedstaaten zu erarbeiten.
An den Verhandlungen Gorbatschows mit den Präsidenten der Republiken nahmen allerdings nur neun Sowjetrepubliken teil – die übrigen sechs wollten auch kein Teil dieser künftigen „Union der souveränen Staaten“ sein und verweigerten deshalb ihre Mitwirkung an diesem Prozess: neben den drei baltischen Staaten waren dies Moldawien, Armenien und Georgien.
Zugleich forderte Gorbatschow Litauen am 10. Januar 1991 auf, die sowjetische Verfassung zu beachten und die Unabhängigkeitserklärung zurückzuziehen. Am 13. Januar 1991 versuchten sowjetische Spezialeinheiten erfolglos, in Vilnius eine moskautreue Regierung an die Macht zu putschen.
Der Gewaltakt führte zu neuen Protesten. Am 9. Februar 1991 organisierten die baltischen Staaten Unabhängigkeitsreferenden, die alle mit einem Votum für staatliche Unabhängigkeit ausgingen.
Einen Monat später, am 9. März 1991, wurde ein ausgehandelter Vertragsentwurf über die „Union souveräner Staaten“ veröffentlicht. Das Dokument sollte den Gründungsvertrag der Sowjetunion von 1922 ersetzen und sah eine Konföderation vor, deren Mitgliedstaaten auch eine eigene Außenpolitik führen können.
Sechs Republiken für Erhaltung der Sowjetunion
Das Referendum geht auf den 4. Kongress der Volksdeputierten vom Dezember 1990 zurück. Der Kongress hatte am 24. Dezember eine Resolution „Über die Erhaltung der Sowjetunion als erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken“ ausgesprochen. Auf Drängen Gorbatschows verabschiedete der Kongress eine weitere Resolution für ein Referendum „über die Erhaltung der erneuerten Union als Föderation gleichberechtigter souveräner sozialistischer Sowjetrepubliken“. Es war das erste derartige Referendum in der Sowjetunion – und sollte auch das einzige bleiben.
Die Ergebnisse waren eindeutig: Insgesamt stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent mehr als 77 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion „als eine erneuerte Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken“. Die größte Zustimmung kam aus den zentralasiatischen Staaten, die sich mit mehr als 90 Prozent für die Erhaltung der Sowjetunion als Föderation aussprachen; die geringsten Zustimmungswerte kamen aus der russischen (71 %), ukrainischen (70 %) und weißrussischen (82 %) Sowjetrepublik. In den sechs Republiken, die das ganze Projekt eines neuen Unionsvertrags ablehnten, wurde die Abstimmung boykottiert.
Den Verhandlungsführern der übrigen neuen Republiken mag das klare Votum eine gewisse demokratische Legitimität bei ihrem weiteren Vorgehen gegeben haben. Aber konkrete juristische Folgen hatte das Referendum nicht. Und wofür hatten die Menschen auch eigentlich gestimmt? Primär für die „Erhaltung“ der auseinanderdriftenden „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ oder vor allem für eine „Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken“, die die Souveränitätserklärungen der Einzelrepubliken nochmals bestätigte und bekräftigte?
Der neue Unionsvertrag wurde im Text der Referendumsfrage nicht expliziert angesprochen. Die sehr offene Formulierung der Frage machte die Zustimmung für ganz unterschiedliche Interessen und Erwartungen leicht.
Nach dem Referendum begann im April der sogenannte Nowo-Ogarjowo-Prozess, der zu weiteren vertraglichen Klärungen führte. Der neue Unionsvertrag wurde am 23. April und am 17. Juni paraphiert, einer finalen Bearbeitung unterzogen, und am 15. August 1991 veröffentlicht.
Unionsvertrag – „sowjetisch“ = Putsch
Inzwischen war auch der von Gorbatschow ursprünglich gewünschte Namensbestandteil „sozialistisch“ aus der Bezeichnung des Vertrags gestrichen. Vier Tage später – und einen Tag, bevor der neue Unionsvertrag feierlich unterzeichnet werden sollte – setzten die Putschisten des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ der Unterzeichnung ein Ende.
Für die sowjetischen Hardliner war der Unionsvertrag der zentrale Auslöser für den Putsch. Er war für sie unannehmbar, weil er das Imperium zerstörte. Und tatsächlich – die durch ihn zu schaffende Konföderation, ein Staatenbund mit supranationalen Institutionen – schien dem Modell der damaligen Europäischen Gemeinschaft näherzukommen, als der vormals machtpolitisch extrem zentralisierten Sowjetunion.
Doch die alten Gralshüter des Sowjetreichs lebten schon damals in der Vergangenheit. Ihr Putsch scheiterte kläglich. Und mit diesem Schrecken in den Knochen zerfiel das Gerippe des Sowjetstaat noch schneller, weiter und tiefer in seine Bestandteile, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre.
Aber insofern die neugeschaffene „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“ auch eine „Föderation gleichberechtigter souveräner Republiken“ war, „in der die Menschenrechte und Freiheiten jeder Nationalität voll gewährleistet“ werden sollten, bekamen die nun ehemaligen Sowjetbürger doch noch, wofür sie am 17. März 1991 mehrheitlich votiert hatten.