Russlands Ziele auf dem Balkan
Russland stützt nationalistische Kräfte, um die EU-Integration des Westbalkans zu verhindern
„Das serbische und das russische Volk kämpften im Lauf der Geschichte auf derselben Seite, sogar im 20. Jahrhundert in beiden Weltkriegen“, sagte der serbische Sozialistenführer Ivica Dačić im Juni 2021 vor der Russischen Staatsduma. „Das serbische Volk hat großen Respekt vor dem russischen Volk und anderen Völkern der Sowjetunion, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben opferten.“
Die Russische Föderation versteht sich auch heute als traditioneller Schutzpatron der Serben. Vordergründig wird beiderseitig oft der christlich-orthodoxen Glauben als verbindendes Merkmal betont. Die historischen Beziehungen der beiden slawischen Völker gehen aber noch viel tiefer, und sie waren und sind stets mit machtpolitischen Ordnungsfragen auf dem Balkan verbunden.
Erst mit russischer Rückendeckung erreichten die Serben im Rahmen der Unterzeichnung des Berliner Vertrags 1878 ihre Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich sowie massive Territorialgewinne. Die beiden Balkankriege 1912 und 1913 ordneten den Westbalkan neu. Das serbische Staatsgebiet erfuhr mit Hilfe russischer Unterstützung eine territoriale Ausdehnung.
Auch in der aktuellen Kosovo-Problematik steht Russland an Serbiens Seite. Als ständiges Mitglied der Vereinten Nationen betont Russland stets die territoriale Unversehrtheit Serbiens und spricht damit dem kosovarischen Staat jegliche Daseinsberechtigung ab. Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigte in seiner Rede den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation mit dem auf NATO-Einsatz im Kosovo als Präzedenzfall. Die NATO hingegen betrachtet die humanitäre Intervention im Kosovo 1999 als Ausnahmefall ihres militärischen Eingreifens.
Nationalisten attackieren die Ordnung auf dem Balkan
Die ohnehin schwierigen EU-Integrationsprozesse im Westbalkan werden mit russischer Hilfe in den Siedlungsgebieten christlich-orthodoxer sowie pro-russischer Bewohner in Serbien, in der Serbischen Republik („Republika Srpska“) in Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Nordmazedonien hintertrieben. Die politisch-nationalistischen Fraktionen dort verkünden lautstark, einseitig und oft sachlich falsch ihre Parolen und positionieren sich damit als Gegenpol und vermeintliche Alternative zur Europäischen Union.
Dabei geht es weniger um Argumente und Fakten als vielmehr um Emotionen. Insbesondere in Bosnien-Herzegowina steht die mühsam installierte, hochfragile Nachkriegsordnung im Fadenkreuz dieser Kräfte.
Der serbische Vertreter im bosnischen Staatspräsidium, Milorad Dodik, droht regelmäßig mit der Abspaltung der serbischen Republik vom bosnischen Gesamtstaat. Im November 2021 propagierte er eine eigene Armee.
Serbien als Russlands Proxy
Russlands Interesse ist es, eine EU-Integration des Westbalkans zu verhindern. Deshalb agiert Moskau in dieser Region auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Feld. Es positioniert sich in diesem Raum als geopolitischer Konkurrent zur EU, dem man auf Augenhöhe begegnen muss, um das existierende Konfliktpotenzial in der Region nicht weiter eskalieren zu lassen.
Russland ist inzwischen ein unverzichtbarer Partner für die Energieversorgung in der Region, weil Serbien sich im Januar 2021 mit dem Pipeline-Ableger Balkan Stream an die Turkish Stream-Pipeline angeschlossen hat, mit der Erdgas aus Russland nach Ungarn und damit in die EU transportiert wird. Und als Wahlkampfhilfe für den serbischen Präsidenten Vučić liefert Russland sechs Monate bis kurz nach den Wahlen Gas zum Discount von 270 US-Dollar pro Kubikmeter. Der Marktpreis liegt derzeit bei 1000 US-Dollar.
Außerdem wirbt Moskau für den Ausbau der Rüstungszusammenarbeit mit Serbien. Im Oktober 2021 absolvierten Streitkräfte beider Staaten im Rahmen von „Slawisches Schild 2021“ umfangreiche militärische Übungen, in denen die Zusammenarbeit der Luftverteidigungskräfte und der Einsatz von Flugabwehrraketensystemen erprobt wurden.
In einem etablierten Klientelsystem hat Serbiens Präsident Vučić seine Anhängerschaft gezielt in mächtige Schlüsselpositionen platziert. Das gilt auch für die Medien, die letztlich objektive und ausgewogene Berichterstattung im Zusammenhang mit der Russischen Föderation verhindern.
Zwar ist Serbien als EU-Kandidat dazu verpflichtet, der Außenpolitik der EU zu folgen und damit auch die geltenden Sanktionen gegen Russland mitzutragen. Dies lehnt Belgrad jedoch offen ab und betont stets das besondere und traditionelle Verhältnis zu Russland.
Heikel: neue Grenzziehungen
Je länger der Prozess der Beitrittsaufnahme verzögert wird und sich die geopolitischen Herausforderer auf dem Westbalkan – Russland, China, die Türkei und Saudi-Arabien – weiter positionieren können, desto wahrscheinlicher erleben „Alternativoptionen“ à la „Großserbien“, „Großkroatien“ oder „Großalbanien“ vermehrten Zulauf. An dem Revival dieser politischen Denkfiguren ist die EU nicht unschuldig.
Die Überwindung der Trennung von Territorialität und ethnischer Zugehörigkeit gilt seit 1991 als der politische Leitsatz der Internationalen Gemeinschaft und bildet seitdem die Grundlage westlicher Friedenspolitik auf dem Westbalkan. Um den festgefahrenen Normalisierungsprozess zwischen Serbien und Kosovo wieder in Gang zu bringen, entstand jedoch 2018 in Absprache mit der damaligen Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Frederica Mogherini sowie ihrem EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn die „Korrektur der administrativen Linie“. Sie beinhaltete einen Gebietsaustausch zwischen Serbien und Kosovo. Zudem sollten gleichzeitig weitere offenstehende Grenzstreitigkeiten in den umliegenden Republiken des ehemaligen Jugoslawiens gelöst werden.
Der Vorschlag wurde erstmals am 25. August 2018 vom serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und dem damaligen kosovarischen Präsidenten Hashim Thaçi im Rahmen des Europäischen Forums in Alpach (Österreich) uverkündet. Bei der Tagung der EU-Außenminister (Gymnich-Treffen) am 30./31. August 2018 in Wien stieß dieser Vorschlag hingegen auf breite Ablehnung.
Ob die EU damit eine realistische Chance als impulsgebender Akteur für nachhaltige Friedensvereinbarung verspielt hat, ist strittig. Vom Tisch jedenfalls scheinen Überlegungen nicht zu sein, die Territorialfrage als Geist aus der Flasche zu lassen.
So berichteten zahlreiche Medien im April 2021 von einem „Non-Paper“ des slowenischen Regierungschefs Janez Janša, in dem neue Grenzziehungen entlang ethnischer Kriterien thematisiert werden. Am auffälligsten äußert sich dazu der kroatische Präsident Zoran Milanović, der unter anderem mit Relativierungen des Genozids vom Juli 1995 und mit rassistischen Metaphern wenig versöhnliche Signale in Richtung Bosnien-Herzegowina sendet und der multi-ethnischen Realität seines Nachbarn inzwischen mit offener Ablehnung begegnet.
In ihrem machtpolitischen Kampf gegen die alten korrupten Machteliten werden die Reformkräfte in den Westbalkanstaaten ohne ernsthafte und effektive Unterstützung der EU das Nachsehen haben. Der gegenüber den autoritär regierenden Politikern des Westbalkans („Stabilokratien“) seit Jahren praktizierte Appeasement-Ansatz der EU spielt der russischen Strategie der Destruktion gezielt in die Hände.