Krieg in der Ukraine

Frieden, bevor es zu spät ist

Vernünftig wäre, Eskalation zu verhindern. Steht der Kampf um globale Vorherrschaft im Weg?

von Michael von der Schulenburg
Atomkrieg Ukraine
Bevor es zum Schlimmsten kommt: "Der Krieg scheint in der Tat ein Stadium erreicht zu haben, in dem eine Friedensregelung für alle Kriegsparteien die bessere Lösung sein könnte."

Während ich diesen Artikel schreiben, geht der Krieg Russlands gegen die Ukraine mit all seiner Grausamkeit in die vierte Woche und ein Ende der Feindseligkeiten ist nicht in Sicht. Täglich sehen wir herzzerreißende Bilder von entsetzlichem menschlichem Leid, von der Tötung von Zivilisten, von der Verschlechterung der grundlegenden Lebensbedingungen und von der enormen Zerstörung des menschlichen Lebensraums und der Infrastruktur. Die Ukrainer bezahlen für diesen Krieg mit ihrem Blut.

Aber es deutet sich eine weitere Bedrohung an. Dieser Krieg könnte sich zu einem weitaus gefährlicheren Konflikt zwischen den mächtigsten Atommächten Russland, Vereinigte Staaten und zunehmend auch China ausweiten.

In diesem Fall würde dieser Krieg die gesamte Menschheit bedrohen. Nicht nur für die Ukrainer, sondern für uns alle brauchen wir jetzt dringend Frieden. Der Ukraine-Krieg könnte sich zu einem Kampf der Atommächte um die globale Vorherrschaft entwickeln.

Geografisch gesehen waren die weiten Ebenen der Ukraine schon immer von höchstem strategischem Interesse: Wer die Ukraine kontrolliert, kontrolliert das zentrale Gebiet zwischen dem europäischen und dem asiatischen Kontinent. Das war schon so im Ersten und Zweiten Weltkrieg.

Aufgrund dieses strategischen Werts birgt dieser Krieg auch heute das Risiko, sich in ein Schlachtfeld zwischen den heutigen Atommächten zu verwandeln, in dem es darum geht, wer die Oberhand in ihrem Wettbewerb um regionale und globale Vorherrschaft behält.

Die Vereinigten Staaten könnten in der Ukraine eine Gelegenheit sehen, Russland, einen relativ schwachen, aber lästigen Konkurrenten, zu besiegen und zu demütigen, während sie in der Ukraine einen militärischen Brückenkopf schaffen könnten, um den Zugang nach Asien zu kontrollieren und Europa unter ihren Fittichen zu halten. Nach dem Verlust Afghanistans könnte dies zu einer der höchsten Prioritäten geworden sein.

Auch China sieht seine Interessen bedroht

China würde sich nur widerwillig an diesem Wettbewerb um die Kontrolle der Ukraine beteiligen. Als Verteidiger nationaler Souveränität ist Russlands überaus riskante militärische Intervention in der Ukraine sicher nicht nach Chinas Geschmack.

Aber China könnte es sich nicht leisten, Russland verlieren zu lassen. Es wäre mit ziemlicher Sicherheit der nächste Kandidat auf der Liste Amerikas in dessen Kampf um die globale Vorherrschaft.

Angesichts der jüngsten militärischen Aufstockung der US-Streitkräfte im Südchinesischen Meer und des Verkaufs von Atom-U-Booten an Australien muss China befürchten, von den USA nun auch aus der Ukraine her militärisch bedroht zu werden. Seine beiden lebenswichtigen Handelsrouten, eine durch das Südchinesische Meer und die andere über die so genannte Seidenstraße, wären beide in Gefahr, blockiert zu werden.

China müsste sich daher aus reinem Selbsterhaltungstrieb auf die Seite Russlands schlagen. Das jüngste Telefongespräch zwischen US-Präsident Biden und Chinas Präsident Xi, in dem Biden China mit harten Konsequenzen drohte, sollte es Russland unterstützen, unterstreicht nur, wie viel in diesem Konflikt auf dem Spiel steht.

Für Russland ist dieser Krieg fast zu einem Überlebenskrieg geworden, den es nicht verlieren kann, ohne letztlich alles zu verlieren. Es ist sogar denkbar, dass Russland, ein Land mit riesiger Landmasse und einer kleinen, schrumpfenden Bevölkerung, im Fall einer Niederlage ins Chaos abgleiten könnte. Es ist die politische und wirtschaftliche Schwäche Russlands in Verbindung mit seiner nuklearen Stärke, die jegliche US-Pläne zur Zerschlagung Russlands so ungeheuer gefährlich, ja potenziell für die USA selbst zerstörerisch machen würde.

Keine roten Telefone mehr, aber gewaltigere Waffen

Die Verschärfung des Kriegs in der Ukraine kommt zu einem denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Fast alle Rüstungskontroll- und vertrauensbildenden Verträge, die gegen Ende des Kalten Kriegs mit Russland ausgearbeitet wurden, sind entweder gekündigt oder nicht verlängert worden – zumeist von den USA, die der Meinung sind, dass sie über einen so entscheidenden militärischen Vorteil gegenüber Russland verfügen, dass sie solche Verträge nicht mehr brauchen.

Zwischen den USA und China wurden solche Verträge nicht einmal in Erwägung gezogen. Nach Jahren der Spannungen und Feindseligkeiten muss jegliches Wohlwollen und Vertrauen zwischen den drei Atommächten inzwischen völlig erodiert sein.

Gleichzeitig hat die Entwicklung moderner Massenvernichtungswaffen beängstigende Fortschritte gemacht. Zusammen verfügen die USA, Russland und China über fast 12 000 nukleare Sprengköpfe, das sind etwa 90 Prozent aller Atomwaffen der Welt. Experten zufolge könnte die Detonation von nur etwa 100 solcher Atomsprengköpfe ausreichen, um einen nuklearen Winter auszulösen, der alles Leben auf der Erde vernichten würde.

In den letzten Jahren sind diese Waffen erheblich „modernisiert“ worden, was nur bedeuten kann, dass sie ihre Zerstörungskraft erhöht haben. Noch beunruhigender ist, dass dies bei einigen US-Strategen die Illusion geweckt haben könnte, ein Atomkrieg sei zu gewinnen. Es gibt jetzt Hyperschall- Raketensysteme, die mehr als fünfmal schneller sind als der Schall. Zum ersten Mal werden Waffensysteme im Weltraum eingesetzt, und Cybertechnologien und künstliche Intelligenz treiben einen Großteil des Wettrüstens voran.

Alles zusammen sind die militärischen Angriffssysteme so komplex und schnell geworden, dass es heute undenkbar ist, dass ein mutiger Mensch, wie es während des Kalten Kriegs noch der Fall war, einen Atomkrieg aufhalten könnte, wenn er einmal – gewollt oder ungewollt – in Gang gesetzt worden ist. Schon jede Information, die von einer künstlichen Intelligenz falsch interpretiert wird, könnte uns alle in die Hölle schicken.

Es gibt keine roten Telefone mehr, mit denen Präsidenten einen Atomkrieg verhindern könnten, sie wären ohnehin zu langsam. Ob ein Atomkrieg aus Verzweiflung oder aus militärischer Überlegenheit ausgelöst wird, würde in der Folge keine Rolle mehr spielen.

Gefahr des nuklearen Armageddon

Könnte der Ukraine-Krieg mit all den Emotionen, der kriegerischen Sprache und dem Hass, den er ausgelöst hat, den Funken auslösen, der eine Kette von Ereignissen in Richtung eines nuklearen Armageddon in Gang setzt?

Diese Gefahr besteht, und sie wird mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, größer. Russland könnte sich durch die massiven Lieferungen westlicher Waffen so sehr in die Enge getrieben fühlen, dass es zur Vergeltung einen Raketenangriff über die Grenze hinweg auf ein Nato-Land startet. Es hat bereits eine Militärbasis nahe der polnischen Grenze sowie den Flughafen von Lwiw angegriffen, offenbar als Reaktion auf westliche Waffenlieferungen und die angebliche Ausbildung irregulärer und ausländischer Kämpfer durch US-Ausbilder.

Je länger der Krieg andauert, desto stärker wird der Druck auf die westliche Führung, sich stärker in die Kämpfe einzumischen. Der polnische Präsident ging bereits so weit, eine Nato-Intervention zu fordern. Leider ist er mit seinem Wunsch nach einem Einsatz der Nato-Truppen im Westen nicht allein.

Sollte es dazu kommen, wäre es das dritte Mal, dass in Europa ein Weltkrieg entfacht wird – nur dass es dieses Mal wahrscheinlich das letzte Mal wäre.

Mit aller Besonnenheit sollten alle Seiten darauf hinarbeiten, den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden. Und wenn es noch so etwas wie einen Funken Verstand gibt, sollten man nicht nur eine vorübergehende Lösung anstreben, sondern nach einer umfassenden Friedensregelung suchen.

Es ist noch nicht zu spät, diesen Krieg zu beenden, bevor er völlig aus dem Ruder läuft. Auf der Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates am 17. März stellten die Vereinten Nationen fest, dass der Krieg bisher 726 Zivilisten das Leben gekostet hat, darunter 52 Kinder.

Das sind 726 Tote zu viel. Aber selbst wenn dies wahrscheinlich eine unvollständige Zählung der zivilen Todesopfer ist, wäre dies immer noch eine relativ niedrige Zahl für einen Krieg zwischen den regulären Armeen von zwei der größten europäischen Länder, von denen eine von den USA und dem Vereinigten Königreich ausgebildet und ausgerüstet wird und die andere das größte stehende Heer in Europa mit einem Atomwaffenarsenal im Rücken ist.

Allein in den USA werden jeden Monat im Durchschnitt doppelt so viele Menschen durch Waffengewalt getötet. Und während der Militäroperation zur Vertreibung des sogenannten Islamischen Staats aus der Stadt Mossul im Jahr 2017 wurden mehr als 10 000 Zivilisten, einigen Berichten zufolge sogar mehr als 20 000 Zivilisten, getötet, zumeist durch Luftangriffe der US-angeführten westlichen Koalition.

Die Verschärfung der Kämpfe um die Kontrolle von Großstädten, darunter Kiew, die Bewaffnung von Milizen und Bürgerwehren und – einigen Berichten zufolge – die Rekrutierung ausländischer Söldner könnten diesen Krieg jedoch schnell noch brutaler werden lassen, so dass die Zahl der getöteten Zivilisten drastisch ansteigen könnte. Einigen Berichten zufolge übersteigen die gesamten westlichen Waffenlieferungen bei weitem den Militärhaushalt der Ukraine.

Die sukzessive Einführung dieser westlichen Waffen auf dem Schlachtfeld wird nicht nur die Zahl der getöteten russischen Soldaten erhöhen, sondern auch den Krieg für die Ukrainer tödlicher machen. In dem Bewusstsein, dass ihnen die Zeit davonläuft, könnten die russischen Streitkräfte zunehmend ihre Luftwaffe, Artillerie und Raketenwerfer massiv und wahllos einsetzen. Der Krieg könnte ein Ausmaß an Gemetzel und Verbitterung erreichen, dass es dann schwieriger machen würde, ihn zu schnell zu beenden.

Höchste Zeit für eine Friedenslösung

Wenn die Weltmächte in der Lage wären, sich von ihren eigenen strategischen Interessen zurückzuziehen und sich stattdessen mehr auf die Interessen der Ukrainer konzentrieren, könnten ernsthafte Friedensgespräche möglich sein. Der Krieg scheint in der Tat ein Stadium erreicht zu haben, in dem eine Friedensregelung für alle Kriegsparteien die bessere Lösung sein könnte.

Für Russland ist dieser Krieg alles andere als gut verlaufen. Es war nicht in der Lage, einen schnellen und entscheidenden Sieg zu erringen, und noch wichtiger ist, dass die russische Armee – mit Ausnahme der von prorussischen Separatisten gehaltenen Gebiete – nirgendwo als Befreier willkommen geheißen wurde. Es ist nun klar, dass Russland sich verkalkuliert hat und seine
Armee sich als viel schwächer erwiesen hat als bisher angenommen.

Ein ernsthafter Versuch, Kiew oder eine andere Großstadt zu erobern, könnte mit einem schockierenden Massaker unter der Zivilbevölkerung enden. Auch für die angreifende russische Armee wäre dies mit hohen menschlichen Kosten verbunden.

Die Rückführung tausender getöteter russischer Soldaten in Särgen könnte die Unterstützung, die diese Invasion in Russland noch hat, schnell untergraben. Auch wenn Russland vielleicht hofft, noch große unbesiedelte Gebiete einnehmen und sich eingraben zu können, muss es jetzt ernsthaft nach einem Ausweg suchen.

Für die Ukraine ist dieser Krieg trotz aller Berichte über Heldentum ukrainischer Kämpfer eine menschliche, soziale und wirtschaftliche Katastrophe, wie sie Europa seit den Jugoslawienkriegen nicht mehr erlebt hat. Auch wenn die Ukrainer einen moralischen Sieg errungen haben, ist es unwahrscheinlich, dass dies auch zu einem militärischen Sieg führen wird.

Nachdem Russland die Invasion begonnen hat, steht zu viel auf dem Spiel, als dass es aufgeben könnte, ohne etwas erreicht zu haben. Großmächte geben selten auf. Die Nato brauchte fast zwölf Wochen, um Serbien in die Knie zu bomben, und dies, obwohl Serbien ein viel kleineres Land ist und die Nato militärisch weit überlegen war.

Russland könnte die Erstürmung Kiews oder anderer Großstädte aufgeben und sich stattdessen darauf konzentrieren, immer größere Teile der Ostukraine als Verhandlungsmasse zu besetzen. Es könnte sogar in der Lage sein, die ukrainischen Streitkräfte in der Ostukraine einzukesseln und die Verbindungen der Ukraine zum Schwarzen Meer vollständig zu kappen. Um einen Zusammenbruch seine Armee zu vermeiden, muss auch die Ukraine nach einem schnellen Ausweg auf dem Verhandlungsweg suchen.

Verantwortung des Westens

Auch für den Westen ist dieser Krieg nicht gut verlaufen. Viele westliche Länder, insbesondere in Europa, leiden selbst unter den Sanktionen gegen Russland.

Aber was noch wichtiger ist: Nicht nur Russland, sondern auch der Westen verliert an internationaler Unterstützung. Die jüngste Resolution der UN-Generalversammlung, in der die russische Invasion mit großer Mehrheit verurteilt wurde, mag das Gegenteil vermuten lassen. Aber die meisten kleinen und mittleren Länder dürften diese Resolution nur unterstützt haben, weil sie darin eine letzte Chance sehen, die UN-Charta und ihren Grundsatz des Verbots aller Militäraktionen aus politischen Gründen zu wahren.

Bevor Russland dies in der Ukraine tat, haben ja bereits die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich, drei weitere ständige Mitglieder des Sicherheitsrats, die UN-Charta mehrfach ignoriert und illegale Kriege geführt. Und dann sind da noch die 35 Länder, die sich der Stimme enthielten. Dazu gehören nicht nur China, sondern auch Indien, Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka und so gut wie alle zentralasiatischen Länder. Zusammen repräsentieren sie fast die Hälfte der Weltbevölkerung.

Wir wissen auch, dass die zehn ASEAN-Länder und Indonesien die Resolution der UN-Generalversammlung nur widerwillig unterstützt haben. Tief sitzt das Misstrauen gegenüber den Bestrebungen der USA, wieder eine globale Vormachtstellung zu erlangen. In der Tat werden die USA in vielen Ländern als Hauptschuldige an diesem Krieg angesehen.

Außerdem haben nur westliche Länder und ihre üblichen asiatischen Verbündeten wie Japan, Australien und Singapur harte Sanktionen gegen Russland verhängt. Praktisch kein asiatisches, nahöstliches, afrikanisches oder lateinamerikanisches Land hat sich ihnen angeschlossen, unabhängig davon, ob sie die Resolution der UN-Generalversammlung unterstützt haben oder nicht. Nicht einmal das Nato-Mitglied Türkei oder der enge Verbündete des Westens, Israel, haben Sanktionen beschlossen.

Die verfeindeten Parteien des Westens und Russlands repräsentieren zusammen nur etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung, und ihr Anteil nimmt rapide ab. Es scheint, dass die anderen 90 Prozent der Weltbevölkerung sich nicht an diesem Krieg beteiligen wollen. Für die meisten von ihnen ist dies ein Krieg zwischen weißen Männern, der an die Konflikte während des Kalten Kriegs erinnert.

In The Guardian spekulierte David Adler, ob der Ukraine-Konflikt zum Wiederaufleben einer Bewegung der Blockfreien geführt hat. Heute haben diese blockfreien Länder jedoch an wirtschaftlichem und technologischem Gewicht gewonnen. Sie können nicht mehr, wie zuvor mit einer gewissen Überlegenheit und Arroganz behandelt werden, und ihre Ansichten über den Krieg in der Ukraine und nach der Schuldfrage können nicht mehr ignoriert werden.

Wer ist noch zum Frieden fähig?

Gegenwärtig gibt es keinen westlichen Politiker, von Putin brauchen wir gar nicht erst reden, der einen Vorschlag gemacht hat, wie dieser Krieg zu beenden ist. Der Westen ist im Kriegsrausch gefangen und unfähig, darüber hinaus zu blicken.

In seinem hohen Alter hat sich US-Präsident Biden gar noch zu einen Kriegsführer gewandelt, der jetzt sogar China droht, während der britische Premierminister Johnson kein Problem damit hat, über das frische Blut von 81 kürzlich in Saudi-Arabien hingerichteten Männern hinweg sich mit dem saudischen Kronprinzen bin Salman zu treffen, um, wie er meint, die Demokratie in der Ukraine gegen autokratische Herrscher zu verteidigen.

Die größte Enttäuschung ist jedoch die Europäische Union. Obwohl die Ukraine in Europa liegt und das, was dort passiert, Auswirkungen auf ganz Europa haben wird, gibt es einfach keine Ideen, wie dieser Krieg beendet werden kann und wie ein Frieden aussehen könnte. Stattdessen konzentrieren sich die EU-Größen von der Leyen und Borrell auf die Finanzierung von Waffen für eine Milliarde Euro, und Polen fordert gar einen Militäreinsatz der Nato, während Bundeskanzler Scholz F-35-Kampfflugzeuge kauft, um Russland atomar angreifen zu können.

Der ungarische Ministerpräsident Orbán wandelt bei der bevorstehenden Wahl auf einem schmalen Grat zu Russland. Draghi interessiert sich nur dafür, wie er andere für die italienischen Schulden zahlen lassen kann, während der Präsident des kleinen Litauens, Nausėda, sie alle übertrifft, indem er mit China über Taiwan streitet. Nur Macron scheint einen kühlen Kopf bewahrt zu haben, aber er ist mit seiner Wiederwahl beschäftigt.

Kann Selensky Frieden schaffen?

Wolodymyr Selensky, der ukrainische Schauspieler, der Präsident geworden ist, scheint nun die einzige Person zu sein, die Frieden mit Russland schließen und den Krieg beenden könnte. Er hat während des Kriegs erstaunliches politisches Gefühl und Führungsqualitäten bewiesen und ist heute wohl die überragende politische Figur unter ansonsten mittelmäßigen und ängstlichen Politikern geworden.

Er hat es gewagt und die Friedensverhandlungen mit Russland auch dann weitergeführt, als es keinen Waffenstillstand gab. Und er hat sich an den israelischen Premierminister und den türkischen Präsidenten und nicht die EU gewandt, die bei der Aushandlung eines Friedensabkommens helfen sollen.

Auch sein Vorschlag, Putin direkt zu treffen, während der Westen ihn missachtet, und sein Vorschlag, dies in Jerusalem – wiederum nicht in einem europäischen Land – zu tun, deutet auf einen recht unabhängigen politischen Geist hin, der ukrainischen Interessen an erste Stelle setzt. Immerhin wurde Selensky mit einer Mehrheit von über 73 Prozent im ganzen Land gewählt, und seine Unterstützung in den russischsprachigen Gebieten war sogar größer als in der übrigen Ukraine. Jüngsten Umfragen zufolge sollen seine Zustimmungsraten inzwischen auf 90 Prozent gestiegen.

Vor diesem Hintergrund erscheinen Medienberichte plausibel, wonach die ukrainische und die russische Delegation am 14. März mit der Erörterung eines konkreten 15-Punkte-Friedensplans begonnen haben, der Berichten zufolge Garantien für den neutralen Status der Ukraine enthält, einschließlich der Zusage, dass die Ukraine im Gegenzug für Sicherheitsgarantien der ukrainischen Verbündeten, einschließlich der Türkei, des Vereinigten Königreichs und der USA, keine Nato-Mitgliedschaft anstrebt und keine ausländischen Militärstützpunkte oder Waffen auf ihrem Staatsgebiet beherbergt.

Im Anschluss an dieses Treffen erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow, es gebe „konkrete Formulierungen, die kurz vor einer Einigung stehen“. Dies wäre ein bedeutender und unerwarteter Durchbruch – auch wenn dieser einer erklärten westlichen Politik gegenüber der Ukraine zuwiderläuft.

Dennoch sollte der Westen Selensky bei diesen Friedensbemühungen unterstützen. Vielleicht könnte Europa zumindest hier den Mut aufbringen und von einer Sprache des Kriegs zu einer Sprache des Friedens übergehen. Selensky wird diese Unterstützung brauchen, denn er wird sich mit vielen Hardlinern innerhalb und außerhalb des Lands auseinandersetzen müssen, die
versuchen werden, eine Friedensregelung, die eine neutrale Ukraine vorsieht, zu verhindern.

Sollte eine solche Friedensregelung jedoch erfolgreich sein, würde sie nicht nur die Ukraine vor einer möglichen Zerstörung und Zerschlagung des Lands, sondern auch Europa, wenn nicht gar die Welt, vor einem drohenden Konflikt zwischen Atommächten bewahren. Jeder Frieden hat seinen Preis, und dieser Frieden in der Ukraine ist diesen Preis wert.

Es wäre eine der herzerwärmendsten Erfolge der europäischen Geschichte, wenn ein junger ukrainischer Mann mit jüdischen Wurzeln es schaffen würde, der Ukraine in seiner größten Not den Frieden zu bringen, also einem Land, in dem einst die grausame Massenvernichtung von sechs Millionen Juden begann, als 1941 unter deutscher Besatzung 33 000 Juden in Babi Jar bei Kiew ermordet wurden.

Michael von der Schulenburg arbeitete 34 Jahre in vielen Ländern von Afghanistan bis Zentralasien für die UN. 2017 ist sein Buch „On Building Peace” erschienen.

Dieser Beitrag ist am 23.3.2022 im Wall Street International Magazine erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, ihn auf KARENINA zu veröffentlichen.

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