Corona: Die Deutschen machen wenig falsch
Hilfreich in der Coronakrise: politisches Handeln, kollektive Disziplin, hohe Testkapazitäten, funktionierender öffentlicher Gesundheitsdienst
Die Corona-Pandemie hat die gesamte Welt erfasst. Einige Länder haben die Pandemie bisher gut bewältigt, andere weniger gut. Für viele Beobachter gehört Deutschland zu den Ländern, die bisher vergleichsweise gut durch die Pandemie gekommen sind.
Nach den Daten der Johns Hopkins Universität liegt Deutschland bei der absoluten Zahl der bisher infizierten Menschen international an 13. Stelle und bei der Zahl der an Corona verstorbenen Menschen an 18. Stelle. Setzt man – was immer geboten ist – die Zahlen ins Verhältnis zur Einwohnerzahl, so scheint die Sache noch besser für Deutschland auszusehen. In Deutschland sterben unter den positiv Getesteten 1,5 %. Damit liegt Deutschland unter 170 Ländern an 106. Stelle (Russland: 90. Stelle). Bei der Zahl der an oder mit Corona Verstorbenen pro 100.000 Einwohner liegt Deutschland mit 15,8 Toten pro 100.000 Einwohnern unter 170 Ländern an 67. Stelle der Länder (Russland an 50. Stelle).
Auch ökonomisch liegt Deutschland im Mittelfeld. Unter den 38 Staaten, zu denen Daten in Bezug auf das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal 2020 im Vergleich Vorjahresquartal 2019 vorlagen, lag Deutschland mit einem Minus von 11,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an 20. Stelle und damit im Mittelfeld. Auch wenn all diese Zahlen mit Vorsicht betrachtet werden müssen, können manche Beobachter sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich bei der Corona-Pandemie wiederholt, was man schon oft festgestellt hat: Die Deutschen machen wenig falsch. Das Deutschlandbild scheint bestätigt zu werden.
Was machen die Deutschen anders?
Manche fragen sich: Was machen die Deutschen anders? Die Liste der möglichen Erklärungen ist lang. Sie lässt sich aber in zwei Bereiche aufteilen: die Präventions- und die Krankenversorgungsliste. Die These lautet kurz: Der deutsche Weg ist das Ergebnis guter Prävention plus guter Krankenversorgung.
Auf der Seite der Prävention reicht die Liste von konsequentem politischen Handeln über kollektive Disziplin der Deutschen bei der Einhaltung der Lockdown-Beschlüsse bis hin zur hohen Zahl an Testkapazitäten und einem funktionierenden öffentlichen Gesundheitsdienst. Zudem waren früh auch Kennzahlen vorhanden, die es der Bevölkerung selbst erlaubten, das Geschehen in der Umgebung einzuschätzen und das Verhalten anzupassen. So entstanden dezentrale Orte des kollektiven Lernens.
Viele Beobachter sehen aber nicht nur in der erfolgreichen Prävention den Grund für das relativ gute Abschneiden Deutschlands, sondern auch in der Krankenversorgung. Es gibt in Deutschland auf die Bevölkerung gerechnet mehr Ärzte, mehr Krankenhausbetten und mehr Intensivbetten als in vielen anderen OECD-Ländern. Die Ärzte in Deutschland sind in der Breite hervorragend ausgebildet und gewohnt, neue internationale Erkenntnisse schnell aufzunehmen.
Fast die gesamte deutsche Bevölkerung ist entweder gesetzlich oder privat krankenversichert, dadurch konnte jeder COVID-19-Patient eine Behandlung bekommen, unabhängig von seiner finanziellen Situation. Deutschland hatte auch das Glück, dass es von der ersten Welle der Pandemie später erfasst wurde als andere Länder und aus deren Erfahrungen lernen konnte, etwa indem die Kliniken früh die COVID-19-Patienten von den anderen Erkrankten separierten.
Bröckelt die Konsensgesellschaft?
Manche Beobachter der deutschen Situation werden nun trotzdem einwenden, dass nicht alles Gold ist, was in Deutschland glänzt. Sie werden darauf hinweisen, dass das gute Deutschlandbild Risse zu bekommen scheint. Der Konsensgesellschaft Deutschland scheint ihr bestes Pfund, das kollektive Solidaritäts- und Zusammenhaltgefühl, langsam abhanden zu kommen. So wächst der Anteil der Menschen in der Bevölkerung, die nicht mehr voll hinter der Corona-Politik der Bundesregierung stehen (Allensbach-Studie; FAZ v. 17.11.2020). Und erst Mitte November hat Bundeskanzlerin Angela Merkel feststellen müssen, dass die Ministerpräsidenten der Bundesländer zumindest zeitweise nicht mehr bedingungslos hinter ihrer Corona-Politik stehen. Bröckelt in der Krise die Konsensgesellschaft?
Was wir in Deutschland zurzeit erleben, kann als der Beginn sowohl einer Vertrauens- als auch einer Wissenschaftskrise interpretiert werden. Als Folge dieser Krisen bahnt sich die Rückkehr von zwei verloren geglaubten Dingen an: die Rückkehr des Experten und die Rückkehr des Clans.
Wir stehen am Beginn einer Vertrauenskrise, die, wenn sie sich verschärft, fatale Folgen für eine Gesellschaft haben kann. Gegenseitiges Vertrauen ist der Grundbaustein jeglicher Interaktion und wirtschaftlicher Transaktion. Das ist ein Grundgesetz der Sozialwissenschaften. In der Soziologie unterscheiden wir Systemvertrauen, Gruppenvertrauen und Individualvertrauen.
Die übergroße Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat ein Systemvertrauen in das Staatssystem. Eine Minorität, die Gegner der staatlichen Pandemie-Bekämpfung, haben dieses Systemvertrauen nicht mehr und bekunden offen, dass sie weder der Bundeskanzlerin noch dem Staatssystem oder den etablierten Medien vertrauen. Sie bezichtigen diese der Lüge. Was wir beobachten, ist eine Verlagerung des Vertrauens von dem Systemvertrauen weg in Richtung Gruppenvertrauen.
Rückkehr der Experten
Aber auch das Individualvertrauen ist zurück. Das beste Beispiel hierfür ist die Rückkehr des Experten als wissende und vertrauenswürdige Person. Vor der Corona-Pandemie war der Status der Experten ein anderer. Der Experte galt zum Beispiel in der alten Medizin viel. An seine Stelle trat in der modernen Medizin der wissenschaftliche Beleg (Evidenz) und das systematische Zusammenfassen von hochwertigen wissenschaftlichen Studien. Expertenwissen war gewissermaßen „out“. Durch die Corona-Pandemie aber ist der Experte – in Form des Virologen – wieder zurück.
In der Krise vertrauen Politik und Bevölkerung den Experten. Sie haben die Deutungshoheit übernommen und zeigen uns allen, wie man die Corona-Pandemie zu sehen hat. Experten sind Wissensführer. Sie steuern das Verhalten der Menschen über ihre Definition der Situation.
Die Vertrauenskrise betrifft auch die Wissenschaft. Ihr wird immer weniger geglaubt. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden immer weniger danach beurteilt, ob sie an sich wahr oder falsch sind, sondern mehr danach, ob diese Erkenntnisse in das Weltbild der eigenen Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, passen oder nicht. Passt eine Erkenntnis in das eigene Weltbild, wird sie als für die Gruppe wahr angesehen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und die Erkenntnisse von Gruppen müssen jedoch nicht identisch sein. Dies wird umso wichtiger, wenn das Vertrauen in die Gruppe das Vertrauen in das Wissenschaftssystem ablöst. Es entsteht ein Phänomen, das man in der Sozialpsychologie als Gruppendenken bezeichnet.
Jede Gruppe schafft sich mit der Zeit ihre eigene Welt, ihre eigene Weltsicht und ihr eigenes Weltbild. Gruppen mit festem, unumstößlichen Gruppendenken lassen in der Regel nicht zu, dass Informationen in die Gruppe kommen, die das eigene Weltbild in Frage stellen. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich bei der Information um eine wissenschaftliche Erkenntnis auf höchstem Niveau handelt oder nicht.
Gelangen doch störende Informationen in die Gruppe werden diese oder ihre Übermittler diskreditiert. Auf diese Weise wird das Weltbild der Gruppe verstärkt statt geschwächt. Beschafft sich die Gruppe noch ihren eigenen Wissensführer, so entwickelt sie sich allmählich zu einem Clan, einer geschlossenen Gemeinschaft.
Die Rückkehr der Clans
Dies ist der Punkt, an dem der Clan ins Spiel kommt. Alte Gesellschaften waren durch Clans und Glaubensgemeinschaften gekennzeichnet. Moderne Gesellschaften glaubten, die Clans abgeschafft zu haben. Doch die geschlossenen Gemeinschaften in Form von virtuellen Clans sind zurück, und zwar nicht nur in Form der Gegner der Regierungspolitik, sondern auch in Form der Merkel-Anhänger, der „Merkelianer“.
Das besondere an den virtuellen Clans ist, dass sie neben dem „Wissensführer“ den „Clanführer“ brauchen. Es gibt viele Staatslenker heute, die in diese Rolle geschlüpft sind. Deren Botschaft an den „eigenen Clan“ lautet: Ich beschütze euch, dazu müsst ihr mir aber folgen. Clanführer debattieren nicht, zumindest nicht in Zeiten, in denen aufgrund eines exponentiell sich verbreitenden Virus, schnelles Handeln erforderlich ist. Dies erwartet die Clan-Gemeinschaft auch vom Clanführer.
Das Problem ist: Die moderne Debattenkultur der Demokratie verträgt sich nicht mit dem Clan-Gedanken. Im Clan gibt es Gruppendenken, kein unabhängiges Einzeldenken. Das Individuum geht in der Gruppe auf, dem Clan. Zusammenhalt und Solidarität geht im Clan vor Selbstverantwortung und Diskussion. Dafür gelten im Clan gemeinsame Werte und gegenseitiges Vertrauen. Diese beiden Dinge sind der Kitt der Gemeinschaft.
Die Rückkehr des Clans bedeutet jedoch für die Corona-Pandemie, dass das „abschottende Gruppendenken“ zurück ist. Anzeichen dafür findet man in Deutschland auf beiden Seiten, auf der Seite derjenigen, die sich hinter den Worten der Bundesregierung scharren, wie im Lager der Gegner der Regierungspolitik.
Wer nicht für uns ist, ist gegen uns
Bezeichnend ist, dass beide Gruppen die jeweils andere Gruppe der Lüge bezichtigen. Man vertraut sich nicht mehr. Es gilt: Wer nicht für unsere Weltbild ist oder Informationen liefert, die unser Weltbild stören, gehört zum feindlichen Lager, zum feindlichen Clan. Die Reihen werden geschlossen. Durch dieses schleichende Gift der Lager- und Clanbildung könnte eine der großen Errungenschaften der deutschen Gesellschaft schleichend verloren gehen: die Schaffung von Konsens durch Zuhören, Diskussion und gegenseitigem Verständnis.
Was ist zu tun? Der Tendenz zur Abschottung kann nur durch Zuhören und Dialog begegnet werden. Konsens muss hart erarbeitet werden. Dazu gehört auch das Akzeptieren von wissenschaftlichen Erkenntnissen, auch wenn diese der jeweils anderen Gruppe als Argument dienen könnten. Die wissenschaftliche Erkenntnis darf dem Gruppendenken nicht geopfert werden.