Der sinnloseste Krieg der Geschichte
Der Schriftsteller Sergei Gerasimow ist in Charkiw geblieben, um die Kriegswahrheit festzuhalten
Eine Frage stelle ich mir schon, seit ich Ihr Tagebuch in der NZZ lese: Warum bleiben Sie in Charkiw? Die Gräueltaten russischer Soldaten in Butscha sind bekannt, Mariupol wurde gnadenlos zusammengebombt, und Russland scheint eine zweite Großoffensive in der Ostukraine zu planen. Was hält Sie zurück?
Sergei Gerasimow: Ich bleibe in Charkiw aus demselben Grund, aus dem ich schon seit achtundfünfzig Jahren hier wohne: Weil es mein Zuhause ist und ich mich hier so wohl fühle, wie ich es nirgendwo anders je tun werde. Außerdem glaube ich, dass wir diesen Krieg gewinnen werden. Ich weiß, dass wir ihn gewinnen werden, egal, was passiert, denn das Gute besiegt zuletzt immer das Böse.
Bevor es so weit ist, können aber noch viele schreckliche Dinge geschehen. Deshalb beobachte ich die Kriegssituation genau, und ich denke, ich werde Charkiw verlassen müssen, falls es physisch unerträglich wird. Bomben, Granaten und Raketen sind erträglich, wenn man nicht zu sehr an sie denkt.
Haben Sie manchmal Angst? Haben Sie immer Angst? Und wovor genau?
Ich habe immer Angst, wenn die Explosionen zu nah sind. Ich habe natürlich immer Angst, dass Menschen, die ich liebe, verletzt werden könnten. Ich habe Angst vor Atombomben und chemischen Waffen. Ich habe immer Angst, wenn ich jemanden anrufe und am anderen Ende niemand den Hörer abnimmt.
Wie ist die Situation in Charkiw im Moment?
Die Versorgungslage verbessert sich. Wir haben alles, was wir täglich brauchen, außer vielleicht Streichhölzer. Manchmal haben wir tagelang kein trinkbares Wasser, so wie jetzt, das ist ein bisschen ärgerlich. Die Stimmung in der Bevölkerung ist überwiegend positiv: Fünfundneunzig Prozent der Menschen, die in der Stadt leben, das sind etwa eine Million Menschen, zweifeln nicht daran, dass wir gewinnen werden.
Denken Sie über das Leben nach dem Krieg nach, oder ist dafür keine Zeit?
Dafür gibt es keine Zeit. Die meisten Menschen leben im Augenblick. Die Hauptaufgabe besteht darin, einen Tag zu überleben, ohne getötet zu werden. Wenn uns das gelingt, können wir uns eine Zukunft aufbauen, wie wir wollen.
Was machen Sie den ganzen Tag? Eine Aktivität, die unvermeidlich zu sein scheint, ist das Schlangestehen.
Eine andere unvermeidbare Tätigkeit ist das Schauen der Nachrichten. Die Situation kann sich sehr schnell ändern, also gibt es viele Nachrichten. Leider wird in den Nachrichten oft gelogen oder dem Wunschdenken gefrönt, so dass wir andere Informationsquellen finden müssen. Das braucht Zeit.
Ich übersetze Gedichte von Charkiwer Dichtern ins Englische, weil die Charkiwer Dichter, die genauso entsetzt sind wie alle anderen, angefangen haben, gute Gedichte über den Krieg zu schreiben. Ich unterrichte weiterhin meine Schüler, die aus Charkiw geflüchtet sind und sich in verschiedenen Ländern niedergelassen haben, aber immer noch Englisch lernen wollen. Ich lese, weil ich immer lese.
Warum schreiben Sie ein Kriegstagebuch? Ist das Schreiben für Sie eher eine zusätzliche Belastung, oder hat es im Moment sogar eine Art therapeutische Funktion?
Ich schreibe, weil die Wahrheit über diesen Krieg irgendwie bewahrt werden muss. Ich kann natürlich nicht sagen, dass ich die Wahrheit kenne. Das Einzige, was ich weiß, ist meine subjektive Wahrheit, also das, was ich in einem bestimmten Moment sehe, fühle und denke. Aber ein oder zwei Tage nachdem etwas Wichtiges oder Schreckliches passiert ist, entgleiten viele Details dem Gedächtnis und werden vergessen, wenn sie nicht aufgeschrieben werden.
Ich denke, dass die Details dieses Kriegs historisch wichtig sind, denn wenn man es genau nimmt, ist es der sinnloseste Krieg der Geschichte, es ist nur die Projektion eines verzerrten Geistes auf die Realität. Es ist ein Fall für die Psychiatrie. Deshalb muss dieser Krieg unter allen möglichen Gesichtspunkten untersucht und seziert werden, damit sich das, was ich sehe, nie wiederholt. Ich hoffe, dass mein Schreiben dazu ein klein wenig beitragen kann.
Und wenn das, was ich schreibe, auch nur eine Handvoll Menschen dazu bringen kann, mehr oder besser über mein Land nachzudenken, dann war meine Arbeit nicht umsonst.
Wenn ich Ihre Tagebücher lese, habe ich immer den Eindruck, es mit einem Menschenfreund zu tun zu haben. Sie schreiben zum Beispiel, dass Sie Mitleid mit den Angreifern haben und sie lieben, „auch wenn ihre Panzer auf meine Stadt schießen und ihre Granaten über meinen Kopf fliegen“. Wie ist das möglich, wie kann man in Ihrer Situation nicht zum Hasser werden?
Ich denke, dass Hass eine angenehme, aber irreführende Sache ist, insbesondere Hass während eines Kriegs, Hass ist die primitivste mögliche Reaktion. Sogar eine Fruchtfliege kann hassen. Ich habe einmal in einem Supermarkt zwei Flusskrebse in einem Becken gesehen, einen grauen und einen grünen. Sie hassten sich, weil sie verschieden waren, und sie kämpften gegeneinander und versuchten, sich gegenseitig zu töten, ohne zu wissen, dass sie die letzten lebenden Krebse waren.
Dann fischte ein Verkäufer sie mit einem Netz heraus und verkaufte sie, damit sie gekocht und gegessen werden konnten. Ich glaube, wenn man sich dem Hass hingibt, sieht man die Wahrheit nicht mehr, sieht man das echte Netz über dem Kopf nicht mehr.
Egal, was ich schreibe, die nächsten zwei oder drei Generationen von Ukrainern werden die Russen hassen. Es lässt sich nicht ändern. Es kann nicht anders sein. Meistens haben die Ukrainer, die Russen hassen und in Zukunft hassen werden, recht. Aber nicht immer, denn Hass macht blind. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass es richtig ist, ein Puschkin-Denkmal abzureißen. Es ist der Tunnelblick, den uns der Hass verleiht.
Wir führen diese Konversation per Mail. Wie kommt es, dass Sie Ihr Tagebuch in perfektem Englisch schreiben und gleichzeitig sagen, dass Sie kein Englisch sprechen?
Das ist ganz einfach. Ich habe in meinem Leben tonnenweise Bücher auf Englisch gelesen, und ich glaube, dass es gute Bücher waren, aber ich hatte nie die Gelegenheit, mit einer wirklich englischsprachigen Person zu sprechen. Sprechen ist eine Frage der Übung. Alexander Selkirk, der Prototyp von Robinson Crusoe, lebte fünf Jahre lang auf einer einsamen Insel und blieb geistig gesund, verlor aber die Fähigkeit zu sprechen. Ich befinde mich in einer ähnlichen Situation.
Sie wurden auch als Science-Fiction-Autor bekannt. Können Sie sich vorstellen, wieder Science-Fiction zu schreiben, oder gibt es kein Zurück mehr, weil der Schrecken des Krieges die Vorstellung von allem Dystopischen übertrumpft?
Dieser Krieg übertrumpft die Idee von fast allem Dystopischen. Ich habe Science-Fiction aber nicht geschrieben, weil ich mir etwas unwahrscheinlich Schreckliches vorstellen wollte, sondern weil ich das Gefühl habe, dass die menschliche Vorstellungskraft in der Enge des reinen Realismus erstickt wird. Meine Lieblingsgenres sind magischer Realismus, Absurdismus und Surrealismus. Ich glaube, dass der Surrealismus in der Literatur eines Tages mindestens so populär sein wird wie in der Kunst. Er hat Potenzial.
Vieles, was ich früher geschrieben habe, war nur als Science-Fiction getarnt, dabei handelte es sich um magischen Realismus oder sogar „metaphorischen“ Realismus. Reine Science-Fiction habe ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr geschrieben, und ich glaube nicht, dass ich das jemals wieder tun werde.
Eine wunderbare Figur in Ihren Tagebüchern ist Ihr Nachbar. Ein Maler, wie Sie schreiben, der ebenso stur wie freiheitsliebend ist. Wenn ihn jemand bittet, ein Porträt zu malen, malt er etwas anderes. Wenn er gebeten wird, etwas anderes zu malen, malt er ein Porträt. An anderer Stelle schreiben Sie, dass eigentlich alle Ukrainer so tickten wie Ihr Nachbar. Und dass sie für ihr Recht, dies zu tun, sterben würden. Woher kommen dieser Freiheitsdrang und diese kuriose Sturheit?
Aus der Geschichte. Wir sind immer unterdrückt worden und haben für die Freiheit gekämpft. Der jahrtausendelange Kampf für die Freiheit wird sich in den Genen niedergeschlagen haben. Aber ich denke, es rührt vor allem daher, dass der moderne ukrainische Staat zu schwach war, um seine Bürger in die Schranken zu weisen, wie es der russische Staat tat. Viele wollten, aber niemand war dazu in der Lage, und so konnte sich eine Generation frei entfalten. Außerdem liegen wir geografisch viel näher an der freien Welt als Russland.
Wer sind die Russen? Lieben sie die Freiheit nicht ebenso sehr wie die Ukrainer?
Es gibt gute Russen und schlechte Russen. Aber ich denke, ein durchschnittlicher Russe liebt und braucht die Freiheit weniger als ein durchschnittlicher Ukrainer. Das ist ein modernes Phänomen, das durch die zwei Jahrzehnte stetig zunehmender Unterdrückung verursacht wurde.
Wenn die Unterdrückung eine kritische Schwelle überschreitet, beginnen die Menschen in einer Situation des permanenten Stockholm-Syndroms zu leben. Das bedeutet, dass viele Menschen anfangen, ihre Eliten zu lieben und an jede Propaganda zu glauben, die diese Eliten erfinden. Deshalb liebten die Menschen in der Sowjetunion Stalin, so viele Menschen im modernen Russland lieben Putin, und die Nordkoreaner lieben ihre Kims.
Sie schreiben, dass die Russen in der Vergangenheit die Ukrainer als „geistig minderwertige Verwandte“ betrachtet hätten. Woher rührt die Geringschätzung?
Nicht nur in der Vergangenheit. Sie glauben immer noch, manche heimlich, andere offen, dass alle anderen Nationen ihnen geistig unterlegen seien. Sie machen gerne Witze über „dumme Amerikaner“ und verwenden abfällige Bezeichnungen für Menschen anderer Nationen. Ihr Satz „Benimm dich nicht, als wärst du kein Russe“ bedeutet „Benimm dich nicht wie ein Idiot“.
Ich glaube, ihre Verachtung gegenüber anderen Nationen wurde über Jahrhunderte kultiviert. Sie beruht auf der Tatsache, dass Russland ein großes Land ist, mit sehr großen Ressourcen und einem großen menschlichen Potenzial, das leicht vergeudet und wieder erneuert werden kann.
Inzwischen sehen viele Russen die Ukrainer als „Nazis“ an. Die russische Propaganda funktioniert. Sie schreiben einmal über eine putinophile Nachbarin, die Putin weiterhin liebt, obwohl sie in Charkiw von ihm bombardiert wird.
Es gibt zwei Arten von Putinophilen in der Ukraine. Die Menschen des ersten Typs sind sehr alt, etwa achtzig oder sogar neunzig Jahre alt. Sie sehnen sich nach der Sowjetunion, dem Land ihrer Jugend, und haben deshalb jahrelang russisches Fernsehen gesehen, das sie mit dem sowjetischen Fernsehen verwechseln. Aus den Lügen, mit denen sie gefüttert werden, konstruieren sie ein falsches Weltbild. Sie können ihr Weltbild jetzt nicht durch ein neues ersetzen, weil sie keine Zeit dafür haben. Die andere Art von Putinophilen sind Menschen, deren Gefühle durch etwas oder jemanden in der Ukraine schwer verletzt wurden.
Ich denke, der Krieg hat die Vorlieben der Menschen nicht verändert, sondern vertieft. Diejenigen, die Putin liebten, lieben ihn jetzt noch mehr. Die Menschen, die die Ukraine liebten, sind viel patriotischer geworden. Nationalisten sind immer noch Nationalisten. Anständige Menschen sind immer noch anständig. Schlechte Menschen sind immer noch schlecht. Die Grundwerte der Menschen lassen sich nicht in zwei Monaten ändern.
Sie sind Psychologe. In Ihrem Tagebuch schreiben Sie, die Sucht nach Propaganda könnte eines Tages als psychische Störung eingestuft werden. Sind Russen, die an die Kreml-Propaganda glauben, in Ihren Augen psychisch krank?
Ich denke, dass sie sich nach einer längeren Entziehungskur erholen werden. Einige Arten von Informationen wirken wie Cannabis oder Heroin. Sie verändern das Bewusstsein und machen süchtig, sie schädigen Körper und Geist. Diejenigen, die an die Kreml-Propaganda glauben, sind in gewisser Weise denjenigen ähnlich, deren Leben durch Drogen zerstört wurde.
Was beobachten Sie an sich selbst, was macht der Krieg mit Ihnen?
Dieser Krieg hat mich nicht sehr verändert, er hat mir nur ein konstantes, zwanghaftes Verlangen gegeben: Ich will, dass er aufhört. Jeder Mensch hat eine einzigartige, unnachahmliche Welt voller Schönheit und Wunder in sich. Die Natur brauchte Milliarden von Generationen von Amöben, Fischen und Dinosauriern, um jeden von uns zu erschaffen. Wenn einer von uns stirbt, hinterlässt er oder sie ein klaffendes Loch im Gefüge von Raum und Zeit, das niemals geheilt werden kann. Dieser Krieg tötet Zehntausende von Menschen, die niemals wiedergeboren werden, und deshalb möchte ich, dass er aufhört.
Können Sie schlafen?
Ja, aber die nächtlichen Bombardierungen und der Artilleriebeschuss sind wirklich lästig.
Was ist für Sie Heimat?
Heimat wird traditionell mit einer Mutterfigur assoziiert: jemand, der dir das Leben schenkt, der dir Regeln beibringt und dich wahrscheinlich bestraft, wenn du dich schlecht benimmst. Aber ich sehe meine Heimat eher als einen erwachsenen Sohn oder eine Tochter. Man kann sich mit seinen Kindern streiten und nicht einverstanden sein mit dem, was sie tun, man kann wütend sein, wenn sie nicht auf einen hören, aber man verlässt sie nie, wenn sie in Gefahr sind. Man lässt sie nicht im Stich, auch wenn man ihnen nicht wirklich helfen kann.
Sie erwähnen in Ihrem Tagebuch oft Ihre Frau. Liest sie Ihre Texte, und ist sie mit Ihren Darstellungen einverstanden?
Wir sind fast nie einer Meinung, was toll ist. Sie ist im Allgemeinen pessimistisch, während ich optimistisch bin. Zusammen sind wir realistisch. Sie ist eine Perfektionistin. Ich für meinen Teil glaube, wenn eine Kugel ins Schwarze trifft, ist es egal, wenn andere Kugeln es nicht tun. Heute geht alles zu schnell, und meistens hat sie keine Zeit, meine Texte zu lesen. Sie wird sie später lesen und eine Million Dinge finden, bei denen ich mich geirrt habe.
Darf ich fragen, warum Sie ständig zur Apotheke gehen müssen?
Weil es gefährlich ist, in einer zerbombten Stadt zu leben, in der es keine bezahlbare medizinische Versorgung gibt. Ein einfacher Kopfschmerz kann Ihr Leben zur Hölle machen, wenn Sie kein Aspirin oder Ibuprofen haben.
Ich war vor etwa achtzehn Jahren in Charkiw. Würde ich die Stadt noch erkennen?
Sie werden einige Orte wiedererkennen und die anderen nicht. Vielleicht werden Sie aber auch die anderen Orte wiedererkennen, wenn Sie Picassos „Guernica“ gesehen haben und sich daran erinnern. Einige Gegenden in Charkiw sehen genau wie „Guernica“ aus, im geistigen Sinne, auch wenn die zerbombten Gebäude nicht wie deformierte Pferde oder Stiere aussehen.
Ist es Ihnen wichtig, dass Ihr Tagebuch im Westen gelesen wird, oder ist das eine Nebensächlichkeit?
Ich denke, es ist wichtig. Schreiben und gelesen werden sind meine Art, für mein Heimatland zu kämpfen.
Wie lange werden Sie noch schreiben?
Solange der Krieg andauert. Ich dachte, ich hätte mein Kriegstagebuch schon beendet, aber die Dinge entwickeln sich weiter, und ich schreibe darüber, um nicht zu vergessen.
Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich etwas anderes schreiben. Es könnte Fiktion sein. Es wird kein fader Realismus sein, denn die Menschen, die von den realen Schrecken der heutigen Zeit die Nase voll haben, werden irgendwie immun gegen die realistische Erzählung. Es könnte ein Schritt weg von der Realität sein, um einen besseren Blick auf sie zu werfen.
Sergei Wladimirowitsch Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er ist Bürger der Ukraine. In den frühen neunziger Jahren studierte er in seiner Heimatstadt Psychologie und verfasste später ein Psychologie-Lehrbuch für Schulen sowie ein Buch über Psychologie in Beziehungen. Er ist Autor mehrerer wissenschaftlicher Artikel über kognitive Aktivitäten. Daneben ist er Romancier und übersetzt Gedichte. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Von dort aus sendet er der NZZ seine „Notizen aus dem Krieg“, solange es die Internetverbindung zulässt. Dieses Interview ist in der NZZ erschienen am 29.4.2022.