Russische Küche

Russisch Brot

Weshalb die süßeste Verführung zum Buchstabieren in Russland gänzlich unbekannt ist

Russisch Brot
Skandal! Russisch Brot gibt's nicht auf Kyrillisch.

#20 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.

Mnemotechnisch gibt es verschiedene Methoden, Lesen zu lernen. Der Iren-Apostel Columban soll sich die Lettern durch Verzehren einer Buchstabentorte eingeprägt haben. In einem polnischen Roman las ich von einem Landadligen, der die Legasthenie seines Sohnes dadurch kurierte, dass er ihn auf Buchstaben schießen ließ.

Friedvoller gehen es Waldorfschülerinnen und -schüler an, die ihren Namen tanzen, also jedem Buchstaben eine eurythmische Bewegung zuordnen. Dann gibt’s da noch die alphabetti spaghetti, die seit 1867 in den USA nachweisbar sind, Vorläufer unserer deutschen Buchstabensuppe. Und schließlich die süßeste Verführung zum Buchstabieren: russisch Brot!

Warum russisch? In der sächsischen Landeshauptstadt, die auch zu DDR-Zeiten eine Hochburg für dieses Gebildgebäck war, erzählen Produzenten gerne die Geschichte, dass der Dresdner Bäckergeselle Ferdinand Wilhelm Hanke während seiner Walz in St. Petersburg bukwy kennenlernte, süßes Buchstabenbrot. Wie ein anderer Handwerksbursche damals aus seiner Lehrzeit die Frankfurter Würstchen nach Wien brachte, so soll Hanke das „Moskowiter Brot“ in seiner 1845 eröffneten Deutsch-Russischen Bäckerei populär gemacht haben. Natürlich in lateinischen Lettern wie heute noch Original Dresdner Russisch Brot.

Und hier beginnen die historischen Probleme. Denn Russisch Brot ist, wenig überraschend, in Russland so gut wie unbekannt, auch unter anderem Namen. Dass die süßen Lektionen nicht mit kyrillischen Buchstaben gebacken sind, ließe sich ja noch damit erklären, dass die Dresdner Kundschaft eben nur ausnahmsweise des Russischen mächtig war. Und selbst für das polyglotte St. Petersburg, das sich etwas darauf zugute hielt, fließend Französisch zu parlieren, könnte lateinisches Buchstabengebäck einfach eleganter, elitärer gewirkt haben.

Wie kam Russisch Brot nach Deutschland?

Leider lässt sich die Anwesenheit Hankes in Sankt Petersburg bislang nicht anhand von Archivfunden belegen – er war ja auch nur als kleiner Geselle dort. So bleibt angesichts des offensichtlichen Fehlens dieses Gebäcktyps in Russland ein Zweifel, ob dieses Narrativ die ganze Wahrheit enthält.

Allerdings gibt es einen spannenden Link nach Groningen. Ein um 1615 von Peter Binoit gemaltes Stillleben im dortigen Museum zeigt lettergebak, mit juwelierhafter Konditorfinesse geformte süße Buchstaben. Sollte der Hollandschwärmer Peter der Große, der St. Petersburg nach niederländischem Vorbild hochzog und neben Architekten und Schiffsbauspezialisten auch holländische Köche in die neue Residenzstadt zog, auch „Holländisch Brot“ importiert haben?

Außerdem gibt ein deutsches Vorgängergebäck. Im Hohenloher Residenzstädtchen Lauenburg werden seit 1763 i-Punkt-große Geduldszeltle gebacken. Nicht die Form, aber das Rezept gleicht Russisch Brot, nur dass die auch Wibele genannten Knöpfchen heller ausgebacken sind. Da könnte die These der Hannoveraner Keksfabrik Bahlsen ins Spiel kommen, dass Russisch Brot einfach eine volkstümliche Verballhornung von rösches, also dunkel knuspriges Brot ist. Denn Dunkel und malzig ist ein Begriff, der gern mit russischen Backwaren assoziiert wird.

Zumal die Geduldszeltle, die in der Schweiz banal als Hosechnöpf tituliert werden, auch ihren Russland-Link haben. Vornehm als Patience-Gebäck tituliert, soll dieses feine Russisch Brot (in Buchstabenform?) im 19. Jahrhundert am österreichischen Kaiserhof russischen Gesandten kredenzt worden sein, eine Anspielung auf die slawische Sitte, Gastfreunden Brot und Salz zu reichen.

Kurzum, die Genese von Russisch Brot bleibt geheimnisvoll. Aber anstatt sich darüber zu mokieren, dass es trotz des Namens keine kyrillischen Buchstaben sind, scheint es mir kreativer, den Spieß umzudrehen. Die Anregung aufzunehmen. Backt kyrillische Buchstaben und nennt sie mit subtiler Revanche nemezkij chleb, deutsches Brot.

Das wäre zwar angesichts der 33 kyrillischen Buchstaben etwas mehr Arbeit als mit 26 lateinischen Lettern. Aber es würde zumindest auf dem Gebiet der Pâtisserie einen winzigen Beitrag leisten, den schleichenden Bedeutungsschwund der kyrillischen Schrift in unserer globalisierten Welt aufzuhalten.

Lesen Sie weitere Beiträge unseres Gastrosophen Peter Peter in der Rubrik Leben/Kulinarisches.