Blasse Brühe oder Sterletsuppe?
Wladimir Giljarowskis Reportagen zeigten die Klassengegensätze in der russischen Küche
#12 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Und so kam es vor, daß aus einem Bastsack neben dem Zobelpelz einer Millionärin ein Schinken herausguckte und quer über der Schlittendecke aus Bärenfell ein pudschwerer gefrorener Stör in seiner ganzen Schönheit lag.
Die fettbeschmierten, schmutzigen Marktweiber, diese weggeworfenen Abfallprodukte des Lebens, saßen auf ihren Töpfen, hielten mit ihrem Körper das Essen warm und schrien wie wild: „Bregen! Schweinefleischreste! He, mein Herr, probier‘n Sie mal fü‘n Groschen Schlund, ich schneid Ihn‘n 'n Stück ab!“
Wer sich für russische Malerei interessiert, dem ist dieser Charakterkopf mit dem prächtigen herabhängenden weißen Schnurrbart aufgefallen. Ein stämmiger Kosak in Seidenkaftan und hoher Lammfellmütze biegt sich vor dröhnendem Lachen, so dass er puterrot anläuft und die Arme gegen seinen bebenden Bauch stemmt. Die Figur ist der Eyecatcher in Ilja Repins Historiengemälde Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief, das in Petersburg hängt. Als Modell wählte der Künstler seinen Freund Wladimir Giljarowski, in dessen Adern tatsächlich Kosakenblut floss.
Giljarowski war ein urwüchsiges Kraftpaket, konnte Münzen verbiegen und ungesattelte Pferde reiten. Nach Gelegenheitsarbeiten als Wolgaschlepper, Steppenhirt, Zirkusartist, Bleiarbeiter, Soldat und Schauspieler fand er 1881 seine Berufung als investigativer Moskauer Gesellschaftsreporter.
Wladimir schrieb, wie er aussah. Aus seinen Texten sprüht ungestüme Urgewalt, unerschöpfliche Neugierde und eine biographisch bedingte Sympathie für die Ärmsten der Armen, für die Gestalten, die die Wodkaabsturzkneipen und Nachtasyle im Elendsviertel Chitrowka bevölkerten. Vorsorglich mit einem Schlagring bewaffnet, erkundete Giljarowski den Bauch und noch intimere Zonen Moskaus und berichtete mit Zola-haftem Impetus darüber.
Seine Reportagen erschienen 1926 und überarbeitet 1934 als Moskwa i Moskwitschi. Der Ostberliner Verlag Rütten & Loening machte daraus den reißerischen Titel Kaschemmen, Klubs und Künstlerklausen. Sittenbilder aus dem alten Moskau.
Chronist der Küche, Speisen, Düfte
Ein Buch, das an die Nieren geht, nach dem man schlecht schläft. Die Entwürdigung der „Krebse“, bettelarmer Schneidergesellen, die ihr letztes Hemd versaufen und vor Kälte zitternd in ekelhaften Löchern Akkord nähen müssen, vergisst man so schnell nicht. Da sind die Studenten, die nicht zur Vorlesung gehen können, weil das einzige Paar Schuhe der WG gerade ein Kommilitone aufträgt, eher harmlos.
Mit seinem naturalistischen Zupacken ist Giljarowski auch ein Chronist der Küche, der Speisen, der Düfte. Er durchstreift Märkte, zecht mit Schauspielerkollegen und hat Zutritt zu piekfeinen Diners in Adelsclubs und Kaufmannscasinos, wo er kulinarische Russifizierung konstatiert.
„Die herrschaftlichen Säle wurden von den Kaufleuten eingenommen und die herrschaftlichen Manieren durch kaufmännische ersetzt, wie auch die auserlesene französische Küche durch althergebrachte russische Gerichte abgelöst wurde: Sterletsuppe ... Hausen in Salzwasser; Bankett-Kalbfleisch; mit Walnüssen gemästete Puten, die weiß wie Sahne waren; Pasteten mit gemischter Füllung aus Sterlet und Aalquappenleber; Ferkel mit Meerrettich; Ferkel mit Grütze“.
Klassengegensätze auf dem Tisch
Moskau und die Moskauer ist eine wahre gastrosophische Fundgrube. Giljarowski kennt alle Moskauer Gaststätten und Lebensmittelläden und fängt wie ein moderner Restaurantkritiker aktuelle Trends und gesellschaftliche Entwicklungen ein. Er mokiert sich über die modische Bezeichnung restoran. Er beobachtet, welche Kreise welche Lokale besuchen. Er verbindet Theaterklatsch mit kulinarischen Anekdoten. Er beschreibt Trouvaillen wie ein sibirisches Restaurant, in dem Unmengen von Pelmeni in rosa Champagner geköchelt werden, um dann demonstrativ rustikal mit Holzlöffeln verspeist zu werden.
Welch Gegensatz zur Ernährung des Moskauer Proletariats auf dem Trödel- und Diebesmarkt Sucharewka: „Verdorbene Wurst in eisernen Kohleöfen, Brühe, Fleischabfälle, rostfarbene Heringe.“
Solche literarische Ekel-Stillleben machen klar, welch riesige Klassengegensätze die russische Küche prägten. Vielleicht fällt es auch deswegen heute noch schwer, nach italienischem Vorbild eine russische cucina povera schmackhafter Gerichte des einfachen Volks zu konstruieren.
Die Lektüre eines sozial und kulinarisch engagierten Journalisten wie Giljarowski macht trotz aller Elendsschilderungen klar, welch Potenzial, welche Spannbreite, welche Originalität der russischen Küche innewohnt. Und welche Freude oder welchen Trost das zugegebenermaßen meistens alkoholgeschwängerte Zusammensein bei Tisch bieten kann.
Lesen Sie weitere Beiträge unseres Gastrosophen Peter Peter in der Rubrik Leben/Kulinarisches.