Die rote Fahne auf dem Reichstag

Ein Auktionshaus nimmt Chaldejs Foto aus dem Sortiment, es habe nun einen „Beigeschmack“

von Ernst Volland
Rote Fahne überm Reichstag 2 5 45 Jewgeni Chaldej
Eine historische Aufnahme: Die rote Fahne am Reichstag, gehisst am 2. Mai 1945

Das Foto vom Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Reichstag von Jewgeni Chaldej ist eines der meistreproduzierten Bilder des 20. und 21. Jahrhunderts. Es konkurriert in der Akzeptanz und Häufigkeit nur noch mit dem jesusgleichen Che-Guevara-Porträt des kubanischen Fotografen Alberto Korda.

Die unbestrittene Bedeutung dieses Fotos liegt in der Qualität der fotografischen Aufnahme und im entsprechenden historischen Kontext. Das am 2. Mai 1945 gemachte Foto symbolisiert das Ende des Zweiten Weltkriegs, das Ende des Faschismus und das Ende Hitlers.

Als Jahrhundertfoto, als Ikone in der Geschichte der Fotografie ist es ein begehrtes Objekt in Sammlungen, Museen und auch für Privatsammler. Kürzlich lieferte ein Sammler das Flaggenmotiv bei einem renommierten internationalen Auktionshaus ein. Die Auswahl für ein Motiv kann sich über Monate hinziehen, bei der Einlieferung des Flaggenmotivs wird erfahrungsgemäß nicht gezögert.

Doch diesmal wurde es zwar akzeptiert, jedoch bei Beginn des Ukrainekrieges wieder aus dem Sortiment genommen. Man muss die Entscheidung des Auktionshauses respektieren, aber die dem momentanen Zeitgeist angepasste Absage ist mehr als verstörend bei einem Foto dieser historischen Dimension, zumal der Sammler darauf hinwies, dass Jewgeni Chaldej ein Ukrainer war.

Das Argument zündete nicht, denn umgehend kam die Antwort, man wisse, Chaldej stamme aus der „Ost-Ukraine“, in der „jetzigen aktuellen Situation“ sei es jedoch angebrachter, das Motiv vom Reichstag zurückzusenden. Das Motiv habe momentan einen „merkwürdigen Beigeschmack“.

Warum das Bild zur Ikone wurde

Das Foto der Flagge wurde zuerst am 13. Mai 1945 in der Zeitschrift Ogonjok veröffentlicht. Niemand konnte voraussehen, dass es sich zu einer Ikone entwickeln würde, denn es gab andere Fotografen, die ebenfalls spontan rote Tücher, eine Flagge imitierend, auf dem Reichstag hissten. Doch deren Motive setzten sich nicht durch.

Der Reichstag war das Ziel aller sowjetischen Soldaten. Das Reichstagsgebäude wurde von vielen Rotarmisten, wohl wegen des imposanten Baus und seiner zentralen Lage neben dem Brandenburger Tor, für das politische Zentrum Nazideutschlands gehalten.

Bei seinem ersten Besuch in Berlin später wünschte Chaldej, auf das Dach des Reichstags zu steigen, um die Stelle zu zeigen, an der er das berühmte Foto aufgenommen hatte. Es war seine erste Wiederkehr an diesen historischen Ort. Eine Genehmigung für das Betreten des Daches zu bekommen, gestaltete sich kompliziert, da der Reichstag renoviert und umgebaut wurde. Es war nur mit einer speziellen Genehmigung möglich, auf das Dach zu kommen. Diese Gelegenheit wurde Chaldej gewährt. Chaldej stellte sich genau an die Stelle, an der er die Flagge aufgenommen hatte.

Er berichtete, wie die Flagge gehisst worden war: „Als ich zum Reichstag kam, wurde noch geschossen, Soldaten liefen herum. Ich nahm die Fahne, die ich bei mir hatte, und sagte zu den drei jungen Soldaten: Lasst uns nach oben gehen und die Fahne hissen. Also gingen wir los und kamen bis zur Kuppel. Unten im Reichstag brannte es noch und auf die Kuppel zu klettern, war einfach unmöglich, wenn man sich nicht räuchern lassen wollte. Wir suchten eine Stelle, die etwas tiefer lag.

Auf der anderen Seite war der Tiergarten – hier gab Berlin keinen guten Hintergrund ab. Ich habe nach einer optimalen Komposition gesucht. An der Stelle, die ich schließlich aussuchte, war eine Blutlache. Das Blut war noch warm. Offenbar hatte dort jemand sein Leben verloren. Ich ging um die Blutlache herum, bat die Jungs, die Fahne zu nehmen und zu hissen. So habe ich das Foto gemacht. Später, als ich unten war, schaute ich nach oben, und mir wurde schwindelig.“

„Ich fühle mich nicht als Sieger“

Dann mokierte er sich darüber, dass der Reichstag ohne Kuppel nur ein Torso sei: „Reichstag ohne Kuppel ist wie Mann ohne Eier“, sagte er in fließendem Deutsch zum begleitenden Fotografen und schmunzelte.

Nach der Aufnahme ging er einige Schritte auf dem Dach entlang.

„Bin ich Sieger? Was ist Sieg? Ich fühle mich nicht als Sieger, eher als Verlierer. Eure Rentner fliegen nach Mallorca und ich kann mir nicht einmal fünf Kopeken leisten für eine Tramfahrt ins Zentrum Moskaus.“

Tränen standen in seinen Augen.

Chaldej hatte mit seiner Leica eine Serie von 24 Bildern fotografiert, von deren Negativen die Agentur Tass Moskau heute einige besitzt, andere befinden sich in der Hand der Familie von Chaldej. Alle Negative sind entsprechend der Technik der Kamera in einem Kleinbildformat aufgenommen.

Nach den Aufnahmen, die historisch werden sollten, war Chaldej nach Moskau zurück geflogen. Die Aufnahmen wurden noch am selben Tag entwickelt und Stalin vorgelegt. Dieser bestimmte, welches Foto an die Presse geht und wer die drei Soldaten sind, die die Flagge hissen. Der auf dem Sockel die Flagge haltende Soldat musste ein Georgier sein wie Stalin. Chaldejs Kommentar dazu: „Das sind die drei Soldaten, die die Fahne auf dem Reichstag hissten. Jegorow, Kantaria und Samsonow. Kantaria war Georgier. Sie kamen alle drei zu Ruhm und Ehre, erhielten eine lebenslange üppige Zuwendung.“

Diese drei Soldaten waren an der Erstürmung des Reichstags am 30. April dabei, hatten jedoch keine Flagge gehisst. Sie gehörten zu den verschiedenen Stoßtrupps, bestehend aus fünf Soldaten, die zuerst den Reichstag erreichten. Auch waren diese drei Soldaten nicht die, die auf dem Foto von Chaldej abgebildet sind. Das waren ganz andere Personen, die in der Anonymität verschwanden. An ihre Stelle traten die drei offiziell Geehrten, die Stalin aussuchte.

Stalins Schatten über Chaldejs Leben

Der Schatten Stalins schien Jewgeni Chaldej ein Leben lang zu verfolgen. So wie er berichtet, hatte er den Auftrag von Stalin, über die Entstehung des Fotos und die Forderungen Stalins mit niemandem zu sprechen. Und daran hielt er sich.

Es blieb nicht bei einem berühmten Foto. Der 28-Jährige wurde von der Tass nach Potsdam zur Konferenz mit Churchill, Truman und Stalin geschickt. Wiederum konnte er an einem wichtigen historischen Ereignis teilnehmen und mit seiner Leica entsprechende Bilder mit nach Hause bringen.

Kurze Zeit später fotografierte er bei den Nürnberger Prozessen. Dort traf er seinen amerikanischen Kollegen Robert Capa. Sie freundeten sich an und Capa schenkte Chaldej eine Speed-Kamera. Er konnte sie gut gebrauchen. In den Innenräumen des großen Gerichtsgebäudes, das von den Bomben der Engländer verschont geblieben ist, war es schwierig, ohne Blitzgerät zu fotografieren. Bei der Speed-Kamera ist der Blitz in die Kamera integriert und wichtigster Bestandteil. Das Modell ist sehr bekannt, es taucht in vielen Filmen aus den 1950er- und 1960er-Jahren auf.

Durch die Perestroika und damit die Öffnung zum Westen gelang es Jewgeni Chaldej in seinen späten Jahren noch Berühmtheit und Anerkennung weltweit zu erlangen. Auch in Deutschland wurden einige Ausstellungen seiner Werke gezeigt. Er versuchte trotz seines hohen Alters die Ausstellungseröffnungen mitzugestalten und als Zeitzeuge zur Verfügung zu stehen.

Im schwarzen Anzug, die Leica um den Hals, am Revers zwei bis drei Verdienstorden des Großen Vaterländischen Krieges saß er vor dem zahlreichen Publikum, den Gehstock griffbereit, im Gesicht eine überdimensionale Brille, die Gläser dick wie Weckgläser. Kaum waren die letzten Sätze des Eröffnungsredners beendet und noch bevor die Diskussion mit Chaldej überhaupt begann, kamen schon Stimmen und erhobene Zeigefinger aus dem Publikum. „Eine Frage, das Foto ist doch inszeniert, da bin ich ganz sicher.“ „Das Foto ist doch eine Fälschung, habe ich gehört ...“

Chaldej saß ganz ruhig da, wartete, bis die Erregung abflaute und sagte dann nur einen Satz. „Ist gutes Foto, nächste Frage bitte.“

Fälschung? Ein harter Vorwurf

Am Foto waren kurz nach dem 2. Mai zwei Veränderungen vorgenommen worden. Zum einen hat Chaldej die Szene durch zwei aufsteigende Rauchwolken dramatisiert. Zum anderen entfernte er in den Räumen der Agentur Tass in Moskau, für die er arbeitete, eine der beiden Armbanduhren auf den Handgelenken des stützenden Soldaten.

Beuteobjekte auf einem so wichtigen historischen Foto, das durfte nicht sein. Die Korrekturen sind keine Fälschungen des ganzen historischen Vorgangs. Chaldej war zum Ende des Kriegs auf dem Reichstag. Er war an dem historischen Ort in Berlin. Die Szene ist nicht vor einer Kulisse in einem Studio aufgenommen.

Der einmal in Umlauf gebrachte Vorwurf der Fälschung ist nicht aufrechtzuerhalten. So hatte sich das Gerücht auch seinerzeit bis nach Freiburg auf der Ausstellungseröffnung herumgesprochen und Chaldej wurde damit direkt konfrontiert. Es hält sich auch weiterhin hartnäckig.

Ich ließ mich eines Tages aus großem Interesse am Thema von einem DDR-Dokumentarfilmer in sein Haus am Kollwitzplatz locken, der behauptete, er besitze einen Abzug mit drei Uhren an den Handgelenken. Das wäre eine kleine Sensation gewesen.

Er präsentierte mir ein Foto mit zwei Uhren, jeweils eine an jedem Handgelenk. Das war nichts Neues für mich, zumal ich diverse Abzüge mit zwei Uhren kenne. Der Mann wollte sicherlich einfach nur eine kostenlose Expertise. Weitere Fotos wurden mir vorgelegt.

Ich gab bereitwillig Auskunft. Der Filmer war vor Jahren an das Material gekommen, als er in den 60er-Jahren einen Dokumentarfilm über eine Handvoll russischer Kriegsfotografen für die Defa drehte. Damals stellten ihm die Fotografen, darunter Chaldej und Dimitri Baltermans, ein weiterer sehr bedeutender russischer Fotograf aus dieser Generation, die Abzüge selbstverständlich für das Projekt zur Verfügung. Die Frage ist berechtigt: Ist der Dokumentarfilmer der rechtmäßige Besitzer der Fotos?

Der Bitte, seinen Film einmal zu zeigen, kam er nicht nach. Im Gegenteil, er wollte ihn mir nicht zeigen, weil es angeblich keine Kopie mehr davon gab. Ein halbes Jahr später bot ein Berliner Auktionshaus seine Sammlung russischer Kriegsfotografie zum Verkauf an.

Grundsätzlich geben die Auktionshäuser die Namen der Einlieferer nicht preis. In diesem Fall erkannte ich jedoch einige der mir beim Tee vorgelegten Abzüge. Die Zeit für die Auktion war gut gewählt, denn wenige Monate zuvor wurde eine Chaldej-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlin eröffnet. Sie erhöhte natürlich den Wert der Sammlung, der Verkauf war jetzt einfacher.

Ich schaute mir nach der Auktion noch einmal das von der Direktion des Gropius-Baus ausgelegte große rote Gästebuch an, das eine Fülle an Kommentaren enthielt, aus den unterschiedlichsten Ländern und in den verschiedensten Sprachen. Darunter Zeilen bitterster Trauer. Eine Frau schrieb, sie habe vor den Aufnahmen Chaldejs zum ersten Mal ihren Mann weinen gesehen.

Ich entdeckte dabei auf der ersten Seite als allerersten Gästebucheintrag eine schriftliche Bemerkung des teetrinkenden Dokumentarfilmers. Er schrieb, dass er der eigentliche Entdecker Chaldejs sei.

In der UdSSR kannte jedes Kind das Motiv

Für die Russen besitzt das Bild eine andere ikonische Bedeutung als für Fotokenner und Sammler. In der Sowjetunion kannte jedes Kind das Motiv. Auch heute noch, 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, kennt es jedes Kind in Russland. Am 9. Mai, am Tag des Sieges über Hitler, am Tag des Großen Vaterländischen Krieges, dem höchsten Feiertag des Landes, wird es wieder landesweit reproduziert und ausgestellt. Die Zeitzeugen sind fast alle gestorben, das Gedenken an den Krieg bleibt lebendig.

Die Schätzungen über die Zahl der sowjetischen Toten durch den barbarischen Angriff, von den deutschen Militärs als „Unternehmen Barbarossa“ bezeichnet, am 22. Juni 1941, schwanken und sind nicht genau. Bei einer Zahl von 30 Millionen Toten ist das auch nicht möglich, darunter Millionen Zivilisten, Frauen, Kinder.

Auch der Begriff Tote, statistisch, abstrakt, trifft nicht genau. Es handelt sich um Menschen, die auf unterschiedlichste Weise grausam, barbarisch umgebracht worden sind. In jeder Familie des großflächigen Reichs war ein Toter zu beklagen.

Die nächste Frage an Chaldej aus dem Publikum war: „Sie sind jetzt in Deutschland, im Land der Täter. Wie fühlen Sie sich?“ Seine Antwort: „Wissen Sie, mein Vater und zwei meiner Schwestern sind im Donbass, in der Ukraine, in der Nähe meiner Heimatstadt bei lebendigem Leibe in eine Kohlengrube geworfen worden. Zusammen mit 70 000 anderen Juden. Das waren nicht nur Deutsche, dabei waren auch viele Ukrainer, die geholfen haben.“

Stille im Raum.

Ernst Volland ist Künstler, Fotograf, Karikaturist, Galerist, Kurator und Autor und lebt in Berlin. Dieser Beitrag ist im Rahmen der Open-Source-Initiative der Berliner Zeitung erschienen. Wir danken Verlag und Autor für die Erlaubnis, den Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.

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