Gorbatschows historisches Erbe
Was viele Russen heute vergessen: Auch ihr Land hat durch Gorbatschow gewonnen
Das heutige Russland tut sich schwer mit dem historischen Erbe von Michail Gorbatschow. Denn seine Heldentaten waren nicht territoriale Eroberung, sondern Rückzug; nicht Ausweitung, sondern Begrenzung der politischen und militärischen Macht; nicht ideologische Unterwerfung, sondern Befreiung von Ideologie. Dies alles führte logischerweise zum Zerfall der Sowjetmacht.
Es hätte aber nicht gleichzeitig zum Zerfall des gesamten Vielvölkerstaats der ehemaligen Sowjetunion führen müssen. Dieses Geschäft haben andere nach ihm betrieben.
Doch genau dieser Zerfall wird ihm heute angelastet. Somit ist Gorbatschow an seinem 90. Geburtstag der tragische Held der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Denn in den Augen vieler Russen kamen seine Heldentaten anderen Völkern zugute, nicht aber Russland.
Doch die wirkliche Geschichte von Gorbatschow ist noch nicht geschrieben, wenngleich es Hunderte von Biografien und zeitgenössischen Büchern zur Phase von Glasnost und Perestrojka gibt, verfasst von seinen Anhängern wie von seinen Gegnern.
Die Deutschen wissen, dass sie ohne Gorbatschow nicht die staatliche Einheit im 20. Jahrhundert erreicht hätten. Die Esten, Litauer und Letten haben erlebt, dass erst unter Gorbatschow die verbannte Elite und deren Nachkommen aus dem fernen Sibirien in ihre Heimat zurückkehren durften. Die Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn haben mit der Auflösung des Warschauer Pakts ihre eigentliche Souveränität zurückerhalten.
Doch welches Erbe bleibt für Russland? Ein Russland, das nach der Auflösung der Sowjetunion sogar noch um ein Viertel kleiner geworden ist als es das russische Zarenreich zur Zeit der bolschewistischen Revolution war.
Auch Russland hat durch Gorbatschow gewonnen. Die weißen Flecken der Geschichte wurden getilgt. Nach mehr als drei Jahrzehnten wurde Chruschtschows „Geheimrede“ veröffentlicht, mit der er auf dem XX. Parteitag die Entstalinisierung eingeleitet hatte. Verbotene Romane wie „Dr. Schiwago“ von Boris Pasternak oder „Leben und Schicksal“ von Wassilij Grossman, das beschlagnahmte künstlerische Spätwerk des Malers Kasimir Malewitsch oder verbotene geistliche Kompositionen von Sergei Rachmaninow fanden ihren Weg zurück in die russische Gesellschaft.
Zahlreiche Stalinopfer aus Politik, Kunst und Wissenschaft wurden posthum rehabilitiert. Politische Gefangene wie Andrei Sacharow wurden aus der inneren Verbannung befreit. Zwangsausgebürgerte Künstler wie die Schriftsteller Alexander Solschenizyn und Wladimir Woinowitsch, der Cellist Mstislaw Rostropowitsch und seine Gattin, die Primadonna des Bolschoi Theaters, Galina Wischnjewskaja erhielten durch Gorbatschow ihre Heimat zurück.
Gorbatschow förderte den Dialog mit der russischen Kirche, die ihren gesellschaftlichen Stellenwert ebenso wie Klöster und Kirchengebäude zurückerhielt.
Mit einem Satz: Gorbatschow hat es mit seiner Politik ermöglicht, dass das wirkliche Russland zu sich zurückgefunden hat.
Doch das, was man als Ausdruck der neu gewonnenen Freiheit ansehen sollte, wurde schon nach wenigen Jahren nicht mehr als bedeutende Errungenschaft, sondern als etwas Selbstverständliches betrachtet. Genau in diesem Punkt liegt das wirklich große Verdienst von Gorbatschow: Er hat Selbstverständliches wieder möglich gemacht nach Jahren der Unterdrückung und Bevormundung.
Heute jedoch läuft Russland Gefahr, diese selbstverständlichen Freiheiten von Meinung, Gegenmeinung und Meinungsvielfalt einem neuen autokratischen Staatsverständnis zu opfern. Dabei täte Russland gut daran, sich gerade jetzt der wirklichen Verdienste von Michail Gorbatschow zu erinnern.
Schachmatt
Michail Gorbatschow und die letzten Jahre der Sowjetunion