„Zu bleiben war zu gefährlich“

Alexander Kondratenko, 31, Sankt Petersburg, Mitarbeiter von Meduza: „Keine russophobe Stimmung in der EU“

Russland wurde für ihn zu gefährlich: Alexander Kondratenko
"Ich möchte in Berlin bleiben. Ich liebe die Stadt, ich war schon oft hier." Für Alexander Kondratenko ist Russland zu gefährlich.

Ich wohnte in Sankt Petersburg, ich habe dort an der Hochschule für Film und Fernsehen studiert. Irgendwann wollte ich etwas Neues machen und fuhr nach Kasan, um Programmieren zu studieren.

Der Krieg erwischte mich in Kasan. Als ich anfing, bei Meduza zu arbeiten, brach ich meine Ausbildung ab, aber ich arbeitete noch von Kasan aus und sollte nach Moskau umziehen. Aber dann fing der Krieg an und alles war plötzlich vollkommen ungewiss. Deshalb ging ich einige Tage nach Kriegsbeginn nach Petersburg zurück, wo ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe, weil dort meine Verwandten und Freunde waren. Ich fühlte mich ruhiger mit ihnen zusammen.

„Zu bleiben war für mich zu gefährlich“

Frühmorgens am 3. März fuhr ich mit dem Zug von Petersburg nach Helsinki, weil ich verstanden hatte, dass zu bleiben für mich zu gefährlich war. Ich fühlte mich sehr unwohl. Man wußte nicht, wie lange das dauern würde, was konkret passieren würde, ob es eine Mobilmachung geben würde, ob sie die Grenzen schließen würden. Deshalb beschloss ich, dass es sicherer für mich wäre, dass Land zu verlassen.

Zumal sich die Redaktion von Meduza in Litauen, in Riga befand, und ich die Möglichkeit hatte, dorthin zu gehen. Dort ist meine Arbeitsstelle, dort sind meine Kollegen, die mir immer helfen würden. Wäre ich in Russland geblieben, wo es, zum Beispiel, Gerüchte gab, sie wollten die Grenzen schließen und das Internet abschalten, dann hätte ich meinen Job verloren und stünde mit leeren Händen da.

Ausreise ohne Probleme

Zuerst wollte ich nach Italien zu Freunden fahren, weil sie mich erwarteten und ich bei ihnen wohnen konnte; ich dachte, ich könnte von dort aus arbeiten. Aber im letzten Moment überlegte ich mir, dass es doch einfacher wäre, in Riga zu arbeiten, und ich beschloss, für einige Zeit dort zu bleiben.

Ich konnte ohne Probleme aus Russland ausreisen, obwohl es zu dieser Zeit schon vorkam, dass man Leute verhörte und ihre Smartphones kontrollierte. Ich hatte Glück, vielleicht weil sie die Züge nicht festhalten können. Die Zollbeamten haben mich gefragt, wo ich hinfahre und für wie lange, das war’s, dann haben sie die Papiere gestempelt und fertig. Die finnischen Zollbeamten stellten keine Fragen.

Es gibt in Riga keine „Russophobie“

Ich bin mit einem Schengenvisum nach Riga gekommen, einem sogenannten Touristenvisum. Es war gültig bis Mitte April. Ich kam an, richtete mich bei meinen Kollegen ein, und wir machten uns daran, die erforderlichen Papiere zu besorgen, damit ich in Riga bleiben konnte. Ich mußte mich sofort in unserem Rigaer Büro anmelden, um in Riga steuerlich veranlagt zu werden.

Ein paar Tage vor Ablauf meines Visums stellte sich heraus, dass mein Antrag auf Niederlassung abgelehnt würde. Ich musste in aller Eile die Anträge für ein humanitäres Visum mit Arbeitserlaubnis einreichen – das bekam ich innerhalb von einer Woche. Es gilt ein Jahr, ursprünglich mit dem Recht auf Verlängerung. Aber im Sommer gab es in Litauen eine Protestwelle, und jetzt werden praktisch keine Visa für Russen mehr ausgestellt. So ganz durchschaubar ist das allerdings nicht, denn manche bekommen auch jetzt noch Visa, andere wieder nicht.

Russischer Mann:

KARENINA-Serie
Flucht und Exil
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

In Riga gibt es sehr viel Unterstützung für Ukrainer und Ukrainerinnen. Das ist großartig. Zwei oder drei Tage nach meiner Ankunft gab es in der Stadt einen sehr großen Marsch zur Unterstützung der Ukrainer, der bis zur russischen Botschaft führte. Ich habe daran teilgenommen, ich wollte sehen, was passiert.

Es gab keinerlei russophobe Stimmung, alles lief sehr glatt. Litauen ist eines der Länder der Europäischen Union, in denen am meisten russisch gesprochen wird, deshalb wäre es seltsam, wenn dort jemand gegen Russen wäre. Dort sprechen alle russisch, das ist normal. Es gibt keine schlechte Stimmung auf der Straße. Russland sagt, die Russen würden in Europa drangsaliert, aber das stimmt nicht, sicher nicht.

Umzug nach Berlin mit Meduza

Ich zog dann nach Berlin, weil Meduza beschlossen hat, die Redaktion ein wenig zu verteilen. Jetzt helfe ich den Kollegen, die Formalitäten zu organisieren, damit sie bequem umziehen und sich so rasch wie möglich einrichten können, eine Unterkunft finden, anfangen zu leben und zu arbeiten. Einstweilen bin ich noch mit meinem humanitären Visum hier, aber ich möchte eine Aufenthaltserlaubnis für Deutschland beantragen. Dafür brauche ich einen Arbeitsvertrag, der wurde mir noch nicht aufgesetzt, aber ich werde mich bald darum kümmern.

Ich möchte in Berlin bleiben. Ich liebe die Stadt, ich war schon oft hier. Ich habe hier Freunde und Bekannte, deshalb fühle ich mich wohl. Ich habe nicht vor, nach Russland zurückzugehen. Ich denke, allerhöchstens werde ich, wenn der Krieg zuende ist, wenn die Sicherheitsfrage geklärt ist, nach Russland fahren, um meine Verwandten und Freude zu besuchen, aber mehr nicht. Eine besondere Neigung oder ein Bedürfnis, dorthin zurückzukehren, habe ich nicht, schon gar keine Notwendigkeit.

Ich habe mich in Russland nicht sicher gefühlt, vor meiner Ausreise war ich extrem nervös, nach dem Kriegsbeginn hatte ich Konzentrationsschwächen, ich konnte mich nicht richtig konzentrieren, ich war sehr konfus, konnte nicht richtig denken. Aber nachdem ich weggegangen war, wurde mir gleich viel leichter. Wenn ich an diese Erfahrung zurückdenke, daran, dass man dort jetzt für jede Kleinigkeit im Gefängnis landen kann, dann ist mir völlig klar, dass ich nicht dorthin zurück will.

Meine Eltern sind in Russland geblieben. Meine Mutter macht sich Sorgen, ob mit mir hier alles in Ordnung ist. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass es mir hier erheblich besser geht, und dass sie sich keine Sorgen um mich machen soll. Wir reden miteinander, und ihr ist klar, dass ich nicht so bald zurückkomme, und wenn ich komme, dann nur zu Besuch.

Mit Alexander Kondratschenko sprach Tatiana Firsova am 29.8.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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