Wenig Aufmerksamkeit für Belarus

Pawel Romankow, 39, Gomel, Ex-Grenzbeamter in Belarus: In Berlin lernt er Programmieren

"Ich denke, dass die belarussische Situation im Moment zu wenig Beachtung findet." (Pawel Romankow)

Ich kam 2021 nach Deutschland. Davor lebte ich in Belarus, in Gomel. Ich habe an der dortigen staatlichen Francisk Skorina Universität Mathematik studiert, danach leistete ich meinen Grundwehrdienst ab und blieb anschließend bei der Armee. Ich war beim Belarussischen Grenzdienst.

2020, als die Wahl vorbei war, hatte ich noch nicht vor, zu kündigen. Ich habe gelegentlich daran gedacht, aber nur flüchtig. Es lief eine kleine Entlassungswelle bei den Silowiki, aber man ahnte noch nichts Böses. Es gab die dumpfe Hoffnung, dass die Proteste doch siegen würden. Man hofft immer das Beste.

Ich diente weiter in der Armee, fuhr immer noch auf Dienstreisen. Auf der Arbeit wurde über alles gesprochen, alle äußerten ihre Standpunkte, man tauschte sich aus, ohne zu verheimlichen, dass man dagegen war. In meinem Umkreis war keiner einverstanden. Es gab nur ein paar Einzelne, die tatsächlich meinten, dass Lukaschenko gewonnen hatte. Andererseits könnte man annehmen, dass sich jeder Mensch seinen Bekanntenkreis selbst aussucht, und wahrscheinlich wirkt sich das aus. Aber ich kannte niemanden, der tatsächlich für Lukaschenko gestimmt hatte.

Lügendetektortest in der Armee

Ich diente weiter in der Armee, und eines schönen Tages ließ man mich einen Lügendetektortest machen. Ich habe bestanden. Das ist eine vollkommen irre Prozedur. Von Seiten meines Vorgesetzten lief das sehr unschön, er war einfach zu feige und hatte Angst, es mir direkt ins Gesicht zu sagen. Er ließ es so aussehen, als sollte ich auf eine Dienstreise gehen, und dann landete ich am Lügendetektor.

KARENINA-Serie
Flucht und Exil

Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Vielleicht wollten sie herausfinden, ob ich irgendwelche Staatsgeheimisse ausgeplaudert hätte und mich sofort ins Gefängnis stecken. Gott sei Dank war ich immer ein sehr wachsamer Geselle, und sogar 2020 versuchte ich mit allen Mitteln, die Menschen davon zu überzeugen, dass die Proteste friedlich verlaufen müssen, und dass man sich an die Gesetze halten muss.

Ich habe Überzeugungsarbeit geleistet. Obwohl ich absolut nicht gutheiße, was die Sicherheitskräfte zu dieser Zeit machten. Sie haben direkt gegen die Gesetze verstoßen. Ich habe den Lügendetektortest bestanden.

Aus der Armee entlassen

Die Chefs sagten sofort, es sei alles in Ordnung und ich könne bei der Armee bleiben. Aber dann gab es eine Hundertachtziggradwende, und eine Woche später wurde ich entlassen.

Ich wurde mit dem Dienstgrad eines Hauptmanns entlassen. Normalerweise ist es für Offiziere kaum möglich, vor Ablauf ihres Vertrags zu kündigen. Der Vertrag läuft fünf Jahre. Bei Auflösung des Vertrags zahlt man eine Vertragsstrafe. In Belarus hat man sich solche Knebelverträge ausgedacht, damit die Offiziere nicht kündigen können. Wenn du den Vertrag schließt, zahlt man dir einmalig ein sogenanntes Vertragsgeld, ungefähr 3000 Dollar. Wenn du den Vertrag vorzeitig kündigst, musst du das Geld zurückzahlen.

Sie entließen mich quasi in gegenseitigem Einvernehmen. Sie fragten, wie ich entlassen werden will. Ich hatte auf der Arbeit zu allen ein sehr gutes Verhältnis, deshalb beschloss ich, kein Theater zu machen. Wie die Praxis jetzt zeigt, hätte ich das wohl tun sollen. Wenn andere sich schlecht verhalten, kann man sich eigentlich auch aktiver zeigen. Andererseits, hätte ich mich aktiver gezeigt, wäre ich wohl nicht rechtzeitig weggekommen. Dann wäre ich wahrscheinlich längst im Knast gelandet.

„Ich bin über Russland gereist“

Als ich entlassen wurde, forderte man mich in der Personalabtteilung auf, ich sollte mir einen Kündigungsgrund überlegen. Vielleicht wollten sie ihren Arsch retten, keine Ahnung. Eine interessante Geschichte: Der Grund für meine Kündigung war, dass meine Frau zum Arbeiten nach Deutschland ging und ich sie begleitete. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt schon einen Arbeitsvertrag. Ich brachte ihnen sogar eine Kopie davon mit, und sie hefteten sie in irgendeine Akte ab.

Das Witzige dabei ist, als ich entlassen war, bekam ich einen Brief, dass mir die Ausreise aus Belarus für fünf Jahre untersagt sei. Das heißt, ich konnte das Land die nächsten fünf Jahre nicht verlassen. Danach fing ich an zu überlegen, was ich jetzt machen sollte. Jetzt wird allen Silowiki, die entlassen werden, die Ausreise für fünf Jahre verboten.

Meine Frau reiste aus. Ich habe sehr viel darüber nachgegrübelt, wie ich ihr folgen könnte. Ich sage mal so, ich habe nicht gegen belarussische Gesetze verstoßen, aber im Endeffekt bin ich jetzt in Deutschland. Es hat lange gedauert. Meine Abreise aus Gomel und der Umzug nach Berlin dauerten etwa einen Monat. Ich bin über Russland gereist.

„Meine Bekannten sitzen im Gefängnis“

Auf die Meetings war ich gegangen, als die ganze Stadt auf die Straße ging. Alle waren da. Aus meinem Umkreis kenne ich keinen, der nicht dort war. In Gomel waren die Proteste, im Unterschied zu Minks, lokal sehr begrenzt. Aber einige Zeit, auf dem Gipfel der Proteste im August, gingen die Offiziere mit Schutzschilden auf den Exerzierplatz, um zu trainieren, wie man die Menschen auseinandertreibt. Ich bin da nicht hingegangen. Ich habe gesagt, wenn man mich zwingt, kündige ich auf der Stelle.

Es gab nicht sehr viele Fälle, dass Milizionäre gekündigt haben und sich auf die Seite der Protestierenden schlugen. Lukaschenko setzte 80 Personen auf eine erste Liste und 80 Personen auf eine zweite, entzog ihnen den Dienstgrad. Viele von ihnen sitzen im Gefängnis. Von meinen Bekannten aus der Armee ist keiner im Gefängnis, von den Zivilisten schon.

„Ich arbeite in Berlin und lerne IT“

Als wir nach Berlin kamen, kannten wir zunächst niemanden. Die ersten Bekanntschaften schlossen wir in der „Botschaft des unabhängigen Belarus“. Das war ein kleiner Waggon, der vor der offiziellen Botschaft stand. Er stand dort von Beginn der Proteste an. Jetzt wird dort die Straße instandgesetzt, und wir mussten ihn ein Stück weiter weg aufstellen. Dort finden regelmäßig Veranstaltungen statt, Literaturabende, auf denen die Werke belarussischer Schriftsteller gelesen werden. Sehr viele Belarussen sind zur belarussischen Sprache übergegangen. Untereinander versuchen wir auch Belarussisch zu sprechen. Ich spreche die Sprache sehr gut.

Ich lebe jetzt schon eineinhalb Jahre in Berlin. Anfangs nahm ich als Gastarbeiter jeden Job an, den ich bekommen konnte. Das war beim Bau, Wohnungen renovieren. Ich bin handwerklich geschickt, und ich hatte Glück mit meinem Partner, einem Moldawier, der mich ziemlich gut eingearbeitet hat.

In meiner Freizeit versuche ich, den Belarussen bei der Organisation von Ausstellungen oder Veranstaltungen zu helfen, beim Umbau unseres Raums, der sich im Erdgeschoß des Hauses der Statistik befindet. Dort habe ich einen anderen Belarussen kennengelernt, der auch hier in der Baubranche arbeitet, er ist Hausmeister. Er hat sich meiner angenommen. Jetzt arbeite ich bei einer deutschen Firma.

Ich habe von Anfang an Deutschkurse besucht und A2 abgeschlossen. Jetzt lerne ich parallel Englisch und IT. Mein Umfeld hier besteht praktisch nur aus ITlern. Wir haben einen Telegram-Chat mit freiwilligen Helfern, und dort schrieb irgendwann jemand, dass ein deutsches Programm kostenlose Lehrgänge für Emigranten organsiert. Das war eigentlich für Ukrainer gedacht, aber ich habe da hingeschrieben und meine Situation geschildert. Dann hatten wir online ein Vorstellungsgespräch auf Englisch. Zu diesem Zeitpunkt war mein Englisch sehr schlecht, aber irgendwie habe ich das Gespräch überstanden. Jetzt besuche ich diese Lehrgänge, ich mache ein Diplomprojekt.

Witze über Rente in Spanien, nicht in Belarus

Deutsch konnte ich früher gar nicht, ich habe es nie gelernt, jetzt kann ich ein wenig, würde es aber gern besser beherrschen. Gegenwärtig liegt mein Fokus mehr auf dem Englischen, weil die ganze Ausbildung auf Englisch läuft. Aber mit dem Deutschen gebe ich mir auch Mühe. Mir gefällt die Programmierausbildung, aber dazu noch zwei Sprachen, das schränkt die Freizeit sehr sein, und manchmal wird man dabei ein wenig irre.

Jetzt machen wir Witze über die Rente in Spanien. Aber über die Rente in Belarus machen wir keine Witze. Wir hoffen, dass nicht alle unsere Anstrengungen umsonst waren, sind und sein werden. Aber wie die Situation und das Gespräch mit anderen Menschen zeigt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass wir zurückkehren werden.

Noch vor einem Jahr hätte ich gesagt, dass ich bestimmt nach Belarus zurückgehe, wenn der Protest siegt. Aber jetzt will ich nicht aus Berlin weg. Mir gefällt Berlin irre gut. Das ist eine märchenhafte, eine traumhafte Stadt. Von den europäischen Städten gefällt mir auch noch Prag, aber mehr in architektonischer Hinsicht. Dort kann man gut spazierengehen und sich am schönen Anblick erfreuen, aber mein Zuhause ist in Berlin.

Die Diaspora vereint sich

Ich denke, dass die belarussische Situation im Moment zu wenig Beachtung findet. Aber das ist vollkommen verständlich, und ich denke, es ist auch in Ordnung. Denn seit dem 24. Februar hat sogar das belarussische Publikum, das zu den Protestveranstaltungen kommt, seine ganze Aufmerksamkeit auf das ukrainische Programm umgeschaltet.

Als der Krieg angefangen hatte, sind wir hier mit den Ukrainern und mit den Kasachen zu ihren Protestveranstaltungen gegangen. Wir versuchen, unsere Diaspora zu einen. Das gelingt ziemlich gut, wir stehen in engem Kontakt mit anderen Ukrainern. Wir helfen ein wenig, wenn jemand aus der Ukraine kommt und für ein paar Tage untergebracht werden muss.  Wir haben eine große Wohnung, wir nehmen sie für ein paar Tage auf.

Mit Pawel Romankow sprach Tatiana Firsova am 5.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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