„Putin will die Zeit anhalten“

Gleb Kalinin, Programmierer, Fotograf, 38, Moskau: „Putin führt einen Kampf gegen die Zukunft“

Ist sechs Tage nach Beginn der Mobilmachung aus Russland ausgereist: Gleb Kalinin.

Ich komme aus Petersburg, habe in Moskau gewohnt. Den größten Teil meines Lebens habe ich in der IT-Branche gearbeitet, in Start-ups. Ich hatte eine eigene Agentur für Interface- und Content-Management. Alles in Petersburg.

Ich habe mein Studium sehr schnell abgebrochen und gleich angefangen zu arbeiten. Damals war das der einzig mögliche Weg in die IT-Branche, denn es gab dafür keine Studiengänge. Dann bin ich nach Moskau umgezogen und habe bei einer Agentur für Service-Design gearbeitet. Wir projektierten das Service-Design für die „Russische Post“. Dann habe ich bei Start-ups gearbeitet. Vor zweieinhalb Jahren mit dieser Art von Arbeit aufgehört und angefangen, mich in einem anderen Bereich zu entwickeln.

Ich habe mich ziemlich ernsthaft mit Fotografie beschäftigt. Ich habe ein paar Jahre bei Sergej Maximischin studiert, das ist ein bekannter russischer Fotograf. Ich näherte mich nach und nach dem Thema Psychologie und Wahrnehmung. Ich brachte den Menschen angewandte Meditation bei, und dabei wurde mir klar, dass es mir an Kommunikationsfähigkeit mit Menschen mangelt. Deshalb habe ich eine Ausbildung zum Beratungspsychologen angefangen. Außerdem habe ich noch Coaching draufgesetzt. Das heißt, alles was ich jetzt mache, das ist, mit Menschen arbeiten.

Das lange Mühen um ein Visum

Ich hatte schon lange vor, nach Berlin zu gehen. Ein halbes Jahr lang habe ich auf ein Visum im Zuge der Familienzusammenführung gewartet. Am Anfang des Kriegs habe ich mich sehr darum bemüht, weil ich einfach Angst hatte. Vor dem Krieg war ich mir noch unschlüssig gewesen, aber nach Kriegsbeginn habe ich eiligst gesucht, wo ich diese Papiere bekommen könnte. Das war ein langwieriger Prozess.

KARENINA-Serie
Flucht und Exil
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Währenddessen hatte die Firma meiner Frau geschlossen, sie suchte Arbeit und konnte eine Zeitlang die Bescheinigungen nicht beibringen. Meine Frau ist schon vor dem Krieg ausgereist, wegen der Arbeit. Ich bin seit dem 16. Oktober in Berlin. Jetzt habe ich ein Zimmer gemietet.

Ausgereist wegen der Mobilmachung

Der Hauptgrund meiner Ausreise ist die Mobilmachung. Ich bin ausgereist an dem Tag, an dem ich meinen Pass bekam. Zwei Stunden später fuhr ich schon zur finnischen Grenze. Ich fuhr mit einer Mitfahrgelegenheit von der Primorskoe Chaussee aus bis nach Helsinki, und dort wartete ich noch zwei Wochen lang, bis mein Visum aktiviert wurde. Ich bin drei Tage, bevor sie die Grenze zumachten, nach Finnland eingereist, mit einem französischen Schengenvisum. Jetzt habe ich ein D-Visum, mit dem ich arbeiten darf. Aber es gilt nur drei Monate, ich muss es in einen Aufenthaltstitel umwandeln.

Von Finnland nach Berlin bin ich geflogen. Im Vergleich zu denen, die fünf Tage lang am Grenzübergang Werchni Lars standen, war das eine Urlaubsreise.

In Russland kaum politisch aktiv

In Russland war ich minimal politisch aktiv, ich ging nur zu genehmigten Demonstrationen. Zu den nicht genehmigten bin ich nicht hingegangen, weil ich gesehen hatte, dass es nichts bringt, außer dass die Leute verprügelt werden und im Gefängnis landen.

Ich habe in Russland tatsächlich auch nicht verstanden, was ich dort real machen könnte. Ich habe niemals Putin gewählt, nie „Einiges Russland“. Für mich war immer klar, dass man von einem, der für den KGB gearbeitet hat, nichts Gutes erwarten kann. Vor dreißig Jahren hat der solche wie mich ins Gefängnis gebracht. Die Stufe, die er jetzt erreicht hat, war früher nicht vorherzusehen. Obwohl, im Nachhinein gesehen hat er schon vor acht Jahren davon gesprochen.

Ich bin wahrscheinlich so ein Durchschnittsliberaler. Außerdem hat mein Beruf mit liberalen Werten zu tun. Man kann als Psychologe nur arbeiten, wenn man an den Wert eines Menschenlebens glaubt, an das Recht jedes Menschen auf Selbstverwirklichung, auf Entwicklung. Psychotherapie ist in Ländern wie Japan zum Beispiel unmöglich, weil sie dort sehr kollektivistische Werte haben, deshalb nimmt sie dort sehr spezifische Formen an.

Krieg ist Verderben, Tod, Hoffnungslosigkeit

Mir scheint, es ist eine sehr sowjetische Herangehensweise, wenn man über seine Traumata nicht spricht, sondern sie in sich verschließt. Und wir sehen dann, was das für Folgen hat. Wenn traumatisierte Menschen ihre Traumata nicht verarbeiten, führt das zu dem, was gerade passiert.

Natürlich ist die Verarbeitung der Traumata ein sehr beschwerlicher und schmerzhafter Prozess, man muss dazu fähig sein. Damit es einem besser geht, muss es einem oft erst einmal schlechter gehen. Das ist unvermeidlich. Viele Heilungsprozesse erfordern tiefgreifende Interventionen, die das Befinden zuerst verschlechtern. Und dieses „zuerst“ kann sich über Jahre hinziehen. Ich frage mich, wie man in Israel das Holocaust-Trauma verarbeitet. Es gibt dort mit Sicherheit große Versöhnungsprozesse.

Als Kind habe ich das Bild des Kriegs romantisiert. Wir liefen mit Gewehren herum, das war alles sehr spaßig und interessant. Aber Krieg ist, wie wir jetzt sehen, Zerstörung, Verderben, Tod und Hoffnungslosigkeit. Ich kann mir vorstellen, dass das in den Menschen, die jahrelang damit gelebt haben, nicht von allein heilt.

Putin romantisiert den Krieg

In Russland nutzt man gerade massiv das Klischee des Zweiten Weltkriegs für die Propaganda aus, weil es auch romantisiert wird. Putin will jetzt die Zeit anhalten oder sie zurückdrehen. Er führt im Grunde einen Kampf gegen die Zukunft. Ein Mensch, der 70 ist, der das Beste schon hinter sich hat, wischt der ganzen zukünftigen Menschheit ganz böse eins aus. In diesem Sinne habe ich verstanden, dass die Sowjetunion nicht tot ist.

Ich habe ein sehr großes soziales Umfeld. Anfangs tauchten da ein paar Menschen auf, die für den Krieg waren. Jetzt sehe ich solche Leute immer noch, aber das sind wirklich nur einzelne. Ich befinde mich eben doch in einer Blase von gut gebildeten Menschen, die in der IT-Branche arbeiten, in der Psychologie, in der Kunst. Aus diesen Blasen werden Leute, die für den Krieg sind, rausgedrängt. Die können da nicht sein.

Sechs Tage nach Beginn der Mobilmachung bin ich aus Russland ausgereist. Man konnte nicht mal mehr auf die Straße gehen, das war schrecklich. Ich hörte auf, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nutzen, und die Leute, die sie benutzten, erzählten, dass die U-Bahn während der Rush-hour einfach wie leergefegt ist. Es gab Hetzjagden.

Ich habe Kategorie B, das heißt „nicht verwendbar“, aber ich kenne persönlich Leute, die mit dieser Kategorie eingezogen wurden. In meinem Umfeld haben sehr viele Leute einen Einberufungsbefehl bekommen, sogar Promovierte. Sie waren alle nicht zu Hause, aber die Polizei suchte ihre Wohnungen auf und drohte den Eltern, dass sie zur Fahndung ausgesetzt würden. Solche Situationen kenne ich Dutzende.

Ich sehe für mich in der nächsten Zeit in Russland keine Zukunft. Ich werde mir Arbeit in Berlin suchen. Idealerweise würde ich gern in dem Bereich weiterarbeiten, in dem ich bisher gearbeitet habe. Ich weiß nicht, ob das hier klappt. Theoretisch kann ich auch wieder in der IT-Branche arbeiten.

Mit Gleb Kalinin sprach Tatiana Firsova am 31.10.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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