Kein Mitleid mit Russen
Xenija, 25, Designerin, Kiew. „Ich sehe keinen Widerstand der Russen gegen die Staatsmacht, ich erwarte nichts“
Ich habe mein ganzes Leben in Kiew gewohnt. Ich arbeitete in einer der besten Kreativagenturen der Ukraine als Designerin, ich war dort Art Director. Ich habe Werbefilme gedreht, Corporate Identity gemacht. In den letzten paar Jahren habe ich viel Zeit in der Kreativ-Szene verbracht, ich lebte in meiner eigenen Blase. Alles schien super, alles lief bestens, ich dachte, ich baue meine Karriere auf, steige die Karriereleiter weiter nach oben. Aber dann war das plötzlich alles vorbei, weil der Krieg angefangen hatte.
Der 24. Februar: „Steh auf, es ist Krieg.“
Am 24. Februar war ich zu Hause. Mein Vater weckte mich. Er sagte: „Steh auf, es ist Krieg.“ Mir war sofort klar, dass ich an diesem Tag nicht mehr zur Arbeit gehe.
Es war alles sehr chaotisch. Am ersten Tag schauten wir nur Nachrichten und lasen alle möglichen Beiträge in den sozialen Medien, kommunizierten mit Freunden, behielten die Situation im Auge, luden irgendwelche Apps herunter, für den Fall, dass das Internet abgeschaltet würde. Ich ging zum Bankautomaten, um Bargeld abzuheben. Der Automat gab mir 1000 Griwna heraus. Dabei lag die die Begrenzung eigentlich bei 3000. Vielleicht war ihnen schon das Geld ausgegangen, ich weiß es nicht. Viele Menschen gingen in die Geschäfte und versuchten, etwas zu Essen, Wasser und Medikamente zu kaufen.
Lange Tage und Nächte im Keller
Ich wohne in einem eigenen Haus. Wir haben einen Keller, wo wir Einmachgläser aufbewahren, Marmelade und so. Papa baute uns dort ein paar Bänke, damit wir nicht auf dem Betonboden sitzen mussten. Wir brachten Decken und Plaids nach unten, und unseren Kater in der Transportbox, wir haben einen riesigen Maine Coon.
Die erste Nacht verbrachten wir zu dritt in dem Keller, meine Eltern und ich. Am nächsten Tag ging mein Vater zum Wehramt, und sie nahmen ihn in die Territorialverteidigung. Sie haben ihn sofort genommen. Wahrscheinlich, weil er bei der Armee war.
Die zweite Nacht waren wir zu zweit in dem Keller, meine Mutter und ich. Ich weiß noch, es war ein riesiges Informationswirrwarr, es wurden ziemlich viele Falschinformationen geschrieben. Sogar sowas: „Heute wird alles, was noch da ist, auf Kiew abgefeuert.“
Ukrainische Frau:
Mama und ich lagen in dicke Jacken eingepackt im Keller. Wir hatten uns mit einem Teppich zugedeckt, damit wir nicht verletzt würden, falls Putz oder Glas auf uns herunterprasselt.
Papa war am Tag weggegangen, als es noch relativ warm war. Aber abends wurde es kühl, und er bat uns, ihm seine Daunenjacke zu bringen. Das war das erste Mal, dass ich auf die Straße ging. Das war ein seltsames Gefühl. Man kommt raus, hört irgendwo Explosionen, es ist dunkel auf der Straße, und du guckst ständig, wo du dich hinwerfen kannst, wenn was ist. Meine Mutter und ich kamen mit der Jacke zu meinem Vater, und da waren schon viele Leute, die trugen noch ihre Zivilkleidung, hatten aber schon Sturmgewehre. Frauen und Männer.
Man liegt da und zittert
Ich wohne nah am Stadtrand von Kiew, 30 Kilometer entfernt liegen Butscha und Irpin. Dort sind sie gleich in den ersten Tagen hingekommen, man hörte ständig Explosionen. Es gab manchmal Pausen von vielleicht fünf Minuten, vielleicht auch mal eine Stunde, mal zwei bis drei Stunden, aber dann ging es wieder los.
Gott sei Dank gab es in unserem Keller Internet, wir hatten Zugang zu Informationen. In den ersten Tagen schliefen wir, wie es gerade ging, wie der Körper es erlaubte. Man liegt da und zittert.
Ich war bis zum 4. März in Kiew, acht Tage lang. In dieser Zeit ging meine Mutter noch mehrmals zum Wehramt, brachte ihm Essen und irgendwelche Sachen. Nach zwei, drei Tagen begannen wir langsam wieder nach draußen zu gehen und mit den Nachbarn zu reden. Die Sonne schien, es war so schön, ganz warm.
Wir verklebten die Fenster mit Klebeband. Ich weiß nicht, ob das etwas genützt hätte. Aber die Menschen wollten wenigstens irgend etwas zu ihrer Sicherheit tun. Diese mit Klebeband verklebten Fensterscheiben, manchmal überkreuz, bei anderen sternförmig, waren eines der größten Symbole für den Kriegsbeginn. Meine Mutter und ich versuchten, bei Alarm immer in den Keller zu gehen. Aber das war mehr zur Beruhigung, denn es war kein richtiger Luftschutzraum, sondern nur ein alter kleiner Keller. Und wenn es den getroffen hätte, wären wir wahrscheinlich verschüttet worden.
Ich lag sieben Tage in diesem Keller, mir taten schon die Knochen an den Hüften weh. Wir hatten zwar die Decken ausgelegt, aber die Bretter waren trotzdem ziemlich hart. Ich las die Nachrichten über das Kernkraftwerk Saporischschja. An diesem Tag rückten die Russen darauf vor und fingen an, es zu beschießen.
Mama weigerte sich kategorisch, wegzufahren, weil sie bei meinem Vater bleiben wollte. Und ich wollte bei ihr bleiben. Aber als ich die Nachrichten über das Kernkraftwerk hörte, begriff ich, dass meine Grenze erreicht ist. Ich konnte unter diesen Umständen nicht mehr normal existieren.
Von Lwiw über Polen nach Berlin
Ich habe noch einen Bruder, er wohnt nicht bei uns. Er, seine Freundin und ich beschlossen, wegzufahren. Wir fuhren zu dritt nach Lwiw. Auf dem Bahnhof ging es schon ein wenig leichter als in den ersten Tagen. Aber trotzdem kamen wir in den ersten Zug nicht rein, es gab zu viele Menschen. Wir nahmen den zweiten. Wir fuhren in einem Liegewagen, saßen zu zweit auf der oberen Pritsche, in unserem Abteil waren wir 14 Personen und ein Kater. Auch der Gang war voller Menschen. Es war nicht einfach, zur Toilette durchzukommen. Es war sehr stickig.
In Lwiw war es ruhiger. Wir verbrachten drei Tage bei einem Freund meines Bruders, ich traf mich mit Bekannten. Dort gab es in drei Tagen nur fünfmal Alarm. Aber ich hatte noch Phantomsirenen im Kopf. Das ging nach ein paar Wochen vorbei. Obwohl sogar jetzt, wenn ich irgendwelches Getöse höre, wenn jemand staubsaugt, denke ich in den ersten Sekunden, das sind Sirenen.
Von Lwiw fuhren wir über Polen nach Berlin. Meine Freundinnen waren schon früher in Berlin angekommen und fanden für eine Woche eine Unterkunft für uns.
Man gewöhnt sich an alles
Nach dem 10. Oktober, nachdem Kiew nach langer Zeit wieder massiv beschossen worden war, fuhr mein Vater nach Osten. Jetzt sind die Umstände für ihn erheblich schlechter, die meiste Zeit hat er keine Verbindung, ich weiß nicht, wo er gerade ist und was er macht. Aber mir ist klar, dass er an den „Hotspots“ ist.
Bisher habe ich nicht vor, zurückzugehen. Ich bin im September für anderthalb Wochen hingefahren, habe sie überrascht. Papa war damals krankgeschrieben zu Hause. Die meisten aus meinem Freundeskreis sind in Kiew geblieben. Ich sehe mir ihre „Stories“ auf Instagram an und kommuniziere mit ihnen. Es scheint alles ganz normal, man gewöhnt sich an alles. Dort gehört es zum normalen Leben, dass regelmäßig der Strom abgeschaltet wird. Die Leute richten sich darauf ein, sie kaufen Generatoren und Gasbrenner. Und zusammen ist es wahrscheinlich auch leichter. Aber ich spüre in mir jetzt nicht die Kraft, unter diesen Bedingungen zurückzugehen.
In Berlin habe ich zehn ehemalige Kollegen, und ich habe eine Freundin. Mein Bruder ist damals nicht mit uns ausgereist, weil ihm klar war, dass er mit seinem Wehrpass nicht aus dem Land herauskommt. Er hat es nicht einmal versucht. Ich bin zusammen mit seiner Freundin gefahren. In Berlin habe ich ein paar Menschen, aber ich weiß noch nicht, was ich machen soll.
Suche nach einem neuen Job
Ich habe vor Kurzem gekündigt, weil 90 Prozent der Projekte mit dem Krieg zu tun haben. Nach einer gewissen Zeit bist du völlig ausgelaugt, weil du ständig diese Fotos und Videos anschauen musst. Ich konnte das nicht mehr. Außerdem ist es schwer, von einem ukrainischen Lohn in Berlin zu leben. Jetzt versuche ich, einen Job in Berlin zu finden. Bisher hat es noch nicht geklappt, weil ich kein Deutsch kann. Ich bekomme Unterstützung vom Staat.
Wenn ich in der nächsten Zeit hier keinen Job finde – zumal ich mir ja außerdem ab Neujahr auch noch eine neue Unterkunft suchen muss –, dann werde ich wahrscheinlich nach England gehen. Mit Englisch wird es vielleicht einfacher. Außerdem habe ich dort ein Einreiserecht, ich habe Verwandte dort. Ich kann eine Arbeitserlaubnis bekommen und einen Aufenthalt für drei Jahre.
Eine ehemalige Kollegin hat in Berlin einen Job in einer Kreativ-Agentur gefunden. Aber ich will nicht mehr in der Werbung arbeiten. Ich suche etwas Kreatives, aber nichts mit Reklame. Ehrlich gesagt, verwende ich nicht meine ganze Kraft für die Arbeitssuche. Ich habe eine starke Neigung, Dinge auf die lange Bank zu schieben. Aber ich habe mich für eine Assistentenstelle beworben, in dem Studio eines Künstlers, der Skulpturen macht.
Russen zu treffen ist mir unangenehm
Gott sei Dank treffe ich in Berlin kaum Russen, unsere Wege kreuzen sich nicht. Wenn ich irgendwo in der Öffentlichkeit oder in öffentlichen Verkehrsmitteln jemand russisch sprechen höre, ist mir das unangenehm. Es gibt Situationen, da wird es kritisch. Wenn Russen an einem Auto ukrainische Kennzeichen sehen, kratzen sie vielleicht irgendwas drauf. An manchen Orten in Berlin hängen Plakate über die Ukraine, die wurden schon mehrmals mit dem Z übermalt.
Ich wohne hier und weiß, dass ich mich an denselben Orten bewege wie diese Leute. Sie haben hier die gleichen Rechte wie ich. Und mir ist das einfach unangenehm, dass das alles ungestraft bleibt. Alle diese Märsche mit russischen Fahnen. Es ist seltsam, an einem Ort zu leben, wo das alles legal ist.
Ich lese weiter Nachrichten auf Telegram. Ich lebe darin. Für mich ist es normal, 20 Minuten lang beim Frühstück zu sitzen und zu lesen, wo es Explosionen gegeben hat, wo Einschläge. Ohne das kann ich nicht. Eine Zeitlang habe ich keine Nachrichten gelesen. Aber dann habe ich wieder damit angefangen. Man kann das nicht ausblenden. Es betrifft dich eben doch ganz direkt.
Mein Verhältnis zur russischen Sprache
Mein Verhältnis zur russischen Sprache hat sich verändert. In meinem Kreis sprechen viele russisch. Ich kann nicht sagen, dass mir ukrainisch nicht gefiele. Ich erinnere mich, vor dem Krieg hörte ich einen Podcast, bei dem die Leute zuerst russisch sprachen, aber dann beschlossen sie, zum Ukrainischen überzugehen. Das hat mich irritiert. Die Leute, die ukrainisch sprechen, standen mir immer etwas ferner als die, die russisch sprechen. Ich hatte in der Kindheit zu wenig Kontakt zu ukrainisch sprechenden Menschen.
Jetzt ist es umgekehrt. Ich sehe keine russischen Beiträge mehr, alles was mir früher gefiel, was mich interessierte. Ich habe alles Russische abgemeldet. Meine Familie ist 50:50 – drei Telefongespräche mit meiner Mutter gehen auf russisch, eines auf ukrainisch. Viele Freunde sind zum Ukrainischen übergegangen. Mir ist es auch angenehmer, ukrainisch zu sprechen.
Wenn ich die Wahl habe, englisch oder russisch zu sprechen, wähle ich das Russische, weil ich mich zum Beispiel mit einem Arzt auf Russisch besser verständigen kann. Aber ansonsten ist es mir unangenehm. Sogar wenn ich auf der Straße an einer größeren Anzahl Menschen vorbeikomme, möchte ich lieber ukrainisch sprechen, weil es mir peinlich ist, als Russin wahrgenommen zu werden.
Ukrainisch ist Grundlage der Identität
Wenn man jetzt sagt, die ukrainische Sprache sei die Grundlage der Identität, und man kann dadurch besser erkennen, ob jemand zu dir gehört oder nicht, dann denke ich, das stimmt. Das ist im Unterbewußtsein. Es wäre super, wenn in fünf bis zehn Jahren die Mehrheit der Menschen in der Ukraine ukrainisch spräche.
Wenn ich jetzt irgendwelche Nachrichten über Russland sehe, wenn irgendwo etwas Schlimmes passiert ist, das nichts mit dem Krieg zu tun hat, dann blockiert mein Mitgefühl. Ich habe Mitgefühl genug – für die 40 Millionen Ukrainer. Wenn Tausende oder Millionen Menschen in Russland für den Krieg sind, dann werde ich nicht in die Ecken kriechen, um die zu finden, die dagegen sind. Das hat für mich keine Bedeutung. Die Tatsache, dass ich sie moralisch unterstütze, ändert nichts. Ich sehe nicht, dass jemand kämpft, so wie es sein sollte.
Wenn die Mehrheit schweigt, ändert sich nichts
Ich schaue nach Iran, dort wollen sie 14 000 Menschen hinrichten. Das ist schrecklich. Sie haben jeden Tag Demonstrationen, Polizeiterror, Boykott.
Viele Menschen [in Russland; Red.], die dagegen sind, leben vielleicht auch in so einer Blase, wo es ihnen so scheint, als dächten viele so. Aber das stimmt nicht. Solange die Mehrheit amorph bleibt und sich aus der Politik heraushält, wird sich nichts ändern. Ich erwarte nichts von ihnen. Wenn ich jemandem aus Russland begegne, der in Berlin lebt und gegen den Krieg ist, dann ist mir das egal.
In den ersten Tagen des Kriegs haben wir noch etwas erwartet. Wenn man in die Geschichte blickt, dann kann mit den Menschen in Russland nur etwas passieren, wenn sie anfangen zu hungern. Aber auch das ist nicht sicher.
Mit Xenija, die anonym bleiben möchte, sprach Tatiana Firsova am 24.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.