„Ich will, dass das Putin-Regime verschwindet“

Anastasija, 31, Sankt Petersburg, Aktivistin. Mitorganisatorin öffentlicher Antikriegsinitiativen

"Wenn Putins Regime stürzt – und es wird mit Sicherheit stürzen –, dann muss man eine Demokratie aufbauen." (Anastasija aus St. Petersbburg, jetzt in Berlin)

Ich bin aus Sankt Petersburg, aber die letzten zwei Jahre habe ich in Moskau gewohnt. Ich habe in einem gesellschaftspolitischen oppositionellen Projekt mitgearbeitet. Als es aus innenpolitischen Gründen gefährlich wurde, sich in Russland aufzuhalten, habe ich mit meinem Team über einen Umzug nachgedacht. Im Januar hatten wir angefangen, darüber nachzudenken, aber dann begann im Februar der Krieg, und der Umzug verzögerte sich. Es wurde alles viel komplizierter und langwieriger. In diesen acht Monaten wurde mein Chef mehrmals nacheinander aus politischen Gründen festgenommen. Ich konnte erst am 12. Oktober ausreisen, am 18. Oktober war ich schon in Deutschland.

Von meiner Ausbildung her bin ich Juristin. Aber das hat keinen Bezug zu meinem Beruf. Von Beruf bin ich Projektmanagerin, Koordinatorin. Ich arbeite bei einer politischen NGO.

Ich habe eine klare politische Haltung. Ich zähle mich zum liberalen Teil der Gesellschaft. Ich bin kategorisch gegen den Krieg und gegen die aktuelle Regierung in Russland. Ich will, dass diese Regierung aufhört, dass das Putin-Regime für immer verschwindet.

„Ich kann nicht nach Russland zurück“

Ich bin mit dem Auto nach Berlin gefahren. Aber zu dieser Zeit waren schon alle Grenzen geschlossen, deshalb fuhr ich Moskau – Petersburg – Murmansk – Norwegen – Finnland – Schweden – Deutschland. Das Auto fuhr wieder zurück nach Russland. Als ich hier ankam, wußte ich schon, wo ich arbeiten würde. Bei einem konkreten Projekt.

KARENINA-Serie
Flucht und Exil
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Ich denke, ich werde für länger in Berlin bleiben, zwei bis vier Jahre. Ich habe noch keinen bestimmten Plan. Mein einziger Plan war, aus Russland wegzugehen.

„Ich habe Angst vor Verfolgung“

Wir hatten alle große Angst, dass sie mich nicht ausreisen lassen. Im Sommer war ich in die GUS gereist, damals wurde ich sehr lange an der Grenze festgehalten, sie haben irgendwo angerufen. Das war extrem nervig.

Ich kann nicht sagen, dass ich meine Zukunft eng mit Deutschland verbinde, aber da ich nun einmal hier bin, will ich auch die Sprache lernen und versuchen mich zu integrieren. Bisher ist mein Planungshorizont noch sehr begrenzt. Ich kann nicht nach Russland zurück, solange diese Regierung an der Macht ist. Ich habe Angst vor Verfolgung, deshalb ist es für mich sicherer, in der EU zu bleiben.

Meine Verwandten sind in Russland. Wir haben uns verschiedene Möglichkeiten überlegt, was man jetzt machen kann. Sie sind in keiner Weise politisch aktiv, aber dort sind alle in Gefahr.

Forum des friedlichen Russland

Ich bin politische Aktivistin. Es gibt verschiedene Projekte. Im Sommer fand in Petersburg das SPIEF (das internationale Petersburger Wirtschaftsforum) statt, zu dem auch Putin kam. Wir haben parallel ein Forum für die Opposition veranstaltet, das hieß Forum des friedlichen Russland. Wir hatten solche Sicherheitsmaßnahmen, dass man uns nicht auseinandertrieb und nicht verhaftete, dabei hatten wir hundert Personen zusammengebracht.

Die Leute von NTV versuchten in unserer Räume vorzudringen und zu filmen, über irgendwelche Fenster. Da kann man nichts machen, wenn man unter den Teilnehmern einen Prominenten hat, dann müssen die Journalisten ihm einfach nachspüren. Dann kam auf NTV eine vierminütige Reportage, in der es hieß, wir würden dort irgendwas Antirussisches veranstalten. Sie hatten keinerlei Fakten, aber wozu brauchen sie Fakten? Das ist doch NTV.

Am zweiten Tag wechselten wir den Veranstaltungsort, aber am vorherigen erschienen irgendwelche Leute, wer, wissen wir bis heute nicht, entweder einfach die Miliz oder FSBler. Aber sie stellten einen Mietvertrag ins Internet, der auf einen von unseren Leuten ausgestellt war, mit seinen persönlichen Daten. Diese Leute schrecken vor nichts zurück.

Antikriegsforum: Man kann etwas tun

Wir machten ein mehrtägiges analoges Antikriegsforum. Wir wollten ein Kraftzentrum für Leute schaffen, die gegen den Krieg eingestellt sind. Die verstehen, wenn Putins Regime stürzt – und es wird mit Sicherheit stürzen –, dann muss man eine Demokratie aufbauen. Denn die Zivilgesellschaft muss sich am Aufbau der Demokratie beteiligen. Das gilt für die Menschen, die noch nicht die Hände in den Schoß legen, die glauben, dass man in Russland etwas tun kann. Das sind Menschen unterschiedlichen Alters.

Ich wurde außer Landes geschickt, weil bei mir viele Prozesse zusammenlaufen. Und wenn man mich ausschalten würde, käme sehr vieles zum Stillstand. Aber in Russland sind noch Leute aus unserem Team geblieben. Sie arbeiten weiter.

Der Krieg hat unser aller Leben sehr stark verändert, unter anderem hat er uns auch die Entscheidung wegzugehen leichter gemacht. Früher haben wir noch gezweifelt. Aber als der Krieg begonnen hatte, waren diese Zweifel weg. Ich werde meine Arbeit von hier aus fortsetzen, denn das ist wichtig für mich. Das ist ein Projekt, bei dem ich fühle, dass ich etwas Nützliches für die Menschen tue.

Angespannte Stimmung in Russland

In Russland ist die Stimmung jetzt sehr angespannt. Ich ging in dem Moment weg, als die Mobilmachung begann. Wenn man durch die Straßen ging, hörte man die Leute über nichts anderes reden. Es gab kein anderes Gesprächsthema. Ein sehr bedrückendes Gefühl. Ständig kamen Nachrichten, dass man Jagd auf die jungen Männer machte, dass man lieber nicht mit der U-Bahn fahren sollte. Sogar in Moskau. Obwohl es heißt, dass in Moskau am wenigsten eingezogen werden, weil Bürgermeister Sobjanin Moskau „verteidigt“ hat. Aber das sind alles nur Gerüchte.

Ich fühlte mich am 21. ungefähr im gleichen Zustand wie am 24. Februar. Das ist ein Zustand, als wäre eine Betonplatte auf dich draufgefallen, und du bekommst keine Luft mehr. Obwohl die Mobilmachung mich ja wohl nicht betrifft. Aber anscheinend wirken gesellschaftliche Prozesse sehr stark auf mich. Außerdem habe ich einen jüngeren Bruder. Deshalb ist das für mich natürlich wichtig.

Ich habe noch nicht das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Wahrscheinlich ist das eine Art Echo. Dort hatte ich permanent Angst. Aber ich hatte Gründe dafür. Ich habe gesehen, dass ich beobachtet wurde, als der Krieg begonnen hatte. Irgendwelche Leute standen bei meinem Haus, vor meinem Büro. Die Mitarbeiter von Zentrum „E“ (Hauptamt für die Terrorismusbekämpfung beim Innenministerium der Russischen Föderation; Red.) haben sich nicht einmal getarnt. Man kann sie in der Menschenmenge und auf den Meetings sehr gut erkennen.

Beim Gründer unserer Organisation haben Teenager eklige Bilder auf die Fensterscheiben geklebt. Er wohnt im Erdgeschoss. Das war eine sehr nervige Situation, ein psychischer Druck. Wir bringen das in Verbindung zu dem „Forum des friedlichen Russland“, das wir veranstaltet haben. Vor dem Krieg fühlten wir uns sicherer.

Mit Anastasija, die ihren Namen nicht preisgeben möchte, sprach Tatiana Firsova am 11.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.

Wie die Interviews entstehen

In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa. 

Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.

Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.

Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.

Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.

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