„Die Hauptsache ist doch, dass wir leben“
Sofia Sosina, 29 Jahre, Designerin, Irpin. Ihr Haus wurde zerstört, sie möchte in Kanada leben
Ich bin in Kiew geboren und aufgewachsen, aber die letzten zwei Jahre habe ich in Irpin gelebt. Ich habe mir dort eine Wohnung gekauft und renoviert. Ich habe als freischaffende Designerin gearbeitet, im Bereich Urbanistik, für eine Firma, die Wandbilder auf Bestellung fertigte. So etwas wie Street-art. Ich habe die Entwürfe gemacht und die Kollegen die Ausführung.
Ausgebildet bin ich als Grafik-Designerin. Ich habe an der Kiewer Nationalen Universität für Technologie und Design studiert. Ich lebte allein, mit meinem Hund und meinem Kater. Mein Vater wohnte auch in Irpin, im selben Haus wie ich, aber in einer anderen Wohnung, auf einer anderen Etage. Meine Mutter wohnte in Hatne, mit dem Bus zehn Minuten von Kiew entfernt.
Den Hund und den Kater hatte ich anfangs nach Lwiw gebracht. Wir wohnten in einem privaten Haus, dem Kater gefiel es sehr gut, ich habe ihn dagelassen. Der Hund ist jetzt bei meiner Mutter in Kiew, aber ich möchte ihn unbedingt zu mir holen.
Der 24. Februar: Flugzeuge und Detonationen
Am 24. Februar ging das alles genau bei uns in der Nähe los. Irpin und Hostomel, das waren die ersten Städte, die bombardiert wurden. Dort befindet sich ein Flugplatz, in Hostomel. Wir haben all diese Hubschrauber gesehen.
Mein Vater und ich haben lange überlegt, was wir machen sollten. Schließlich sind wir losgefahren, haben den Rest der Familie eingesammelt, meine Mutter, meine Schwester, meinen Bruder mit seiner Freundin. Wir waren zu acht im Auto, dazu noch zwei Hunde, eine Katze und ein Kater. Ich saß im Kofferraum.
Keiner hatte damit gerechnet. Als wir zu meiner Mutter kamen, um sie abzuholen, saßen dort alle völlig in Panik aufgelöst im Badezimmer. Aber niemand glaubte, dass das lange dauern würde, wir dachten, es müsste bald wieder vorbei sein. Wir wollten auf unsere Datscha fahren und dort abwarten, das sind ungefähr 25 Kilometer von Kiew entfernt. Aber dann standen wir so unter Adrenalin, dass wir beschlossen, noch weiter weg zu fahren.
Wir fuhren am 24. los, so gegen 11 Uhr abends, über die Schytomyrer Autostraße Richtung Lwiw. Die Westukraine ist am weitesten weg, dort schien es uns am ungefährlichsten.
Kaum waren wir losgefahren, standen wir schon im Stau. Es war alles voller Menschen, manche gingen zu Fuß, mit Rücksäcken, sie hatten ihre Haustiere dabei und fragen in den Autos, ob sie mitfahren duften. Hinter uns hörte man Flugzeuge und Detonationen, wir standen einfach unter Schock. Es ging einem nicht in den Kopf, man begriff einfach nicht, was da vor sich ging, und man hatte nur ein Ziel – weg von hier. Für 600 Kilometer brauchten wir 24 Stunden. An den Kontrollstellen waren riesige Schlangen.
Lwiw: Eine Tante will nicht helfen
Unterwegs versuchten wir, einen Platz zum Übernachten zu finden, etwas wo wir unterkommen konnten. Eine Tante von mir wohnt in Lwiw, da wollten wir gleich hin. Sie stand mir früher sehr nahe. Früher…
Ich liebe Lwiw, ich bin jeden Sommer dort gewesen. Ich schrieb ihr, und sie antwortete, sie könne uns nicht aufnehmen, nicht einmal eine Nacht, obwohl sie eine Dreizimmerwohnung hat. Sie sagte: „Sonja, du musst das verstehen, ihr seid zu viele Personen, dich allein könnte ich aufnehmen, aber euch alle nicht.“
Ihre Mutter ist sehr alt und bettlägerig, aber ich glaube nicht, dass das der Grund war. Es ist Krieg, wir sind mitten im Krieg, man könnte doch zusammenrücken. Danach habe ich den Kontakt zu ihr abgebrochen, denn das war für mich einfach nur – Wow!
Dann sind wir zu einer Freundin meiner Mutter. Sie hat ein Haus in der Nähe von Lwiw. Dort blieben wir ein paar Wochen. Aber dann sind meine Mutter und mein Bruder zurück nach Kiew. Und ich bin nach Berlin. Vorher kam unser lieber Großvater, er ist 83, ganz allein zu uns angereist, Freunde aus Kiew hatten ihn in einen Evakuierungszug gesetzt, der nach Lwiw fuhr.
Irgendwann wurde uns allen klar, dass das nicht schnell vorbei sein würde, und wir hatten keine Arbeit, nur mein Bruder hatte was. Und Großvater hatte seine Rente. Deshalb nahm ich es auf mich, noch weiter zu fahren und wen ich konnte mitzunehmen. Unser Ziel war nicht Berlin, wir wollten einfach nur irgendwie raus aus der Ukraine, denn wir hatten ja Kinder dabei. Und Großvater war körperlich nicht in der Lage zu fliehen, er versteckte sich permanent im Keller.
Mein Vater fuhr uns Richtung Grenze, aber direkt bis zu Grenze konnte er nicht fahren. Deshalb kam ein Bus mit freiwilligen Helfern und holte uns ab. Ein Mann kam zu uns und bot uns seine Hilfe an, denn es war ja Winter, und wir waren mit Kindern. Wir fahren also in diesem Bus, und daneben gehen die Menschen zu Fuß zur Grenze, und als sie uns sehen, als sie den Bus sehen, fangen sie an zu rennen und zu schreien, mit ganz irrem Blick. Das war schrecklich.
Nach unserer Ankunft in Polen mussten wir erst einmal eine Unterkunft für die Nacht finden und dann klären, wohin es weitergehen sollte. Ich fand Leute, die uns bei sich übernachten ließen, sie brachten uns am anderen Morgen auch zum Bahnhof. Der Fahrer, der uns nach Polen gebracht hatte, hatte mir gleich gesagt, wir sollten nach Deutschland, weil wir dort mehr Hilfe bekommen würden. Und das hatte sich mir irgendwie im Kopf festgesetzt. Alles andere war wie im Nebel, eine Art Schockzustand. Ich wußte nur noch, ich muss alle irgendwie wegbringen.
Ich erinnere mich noch, wie wir in irgendeiner polnischen Stadt, durch die wir auf dem Weg nach Berlin kamen, für die Nacht in einen Bahnhof gebracht wurden und etwas zu essen bekamen, es gab dort Hühnersuppe. Ich habe etwas gegessen, mich auf den Boden gelegt und bin einfach eingeschlafen.
Berlin: Der Großvater hat Heimweh
In Berlin half mir ein Freund, jemanden zu finden, der uns bei sich aufnahm. Dieser Freund war mein Betreuer gewesen im jüdischen Ferienlager. Ich bin Jüdin nach Großvaters Linie, mein Großvater hat die israelische Staatsangehörigkeit.
Michail, das ist der, der uns in Berlin half, war natürlich ein wenig geschockt, als wir so viele waren. Aber unser Großvater fuhr dann irgendwann wieder zurück in die Ukraine. Ehrlich gesagt habe ich immer noch Probleme mit meinem Zeitgefühl, in meinem Kopf fühlt es sich an wie Brei, deshalb weiß ich nicht, wie lange er mit uns dort war, mir kommt es vor, als sei er gerade erst weggefahren.
Mein Großvater hatte sich eingewöhnt, er hatte sich vom ersten Schock erholt, er ging aus, ging viel spazieren, lernte Leute kennen, wir gingen ins Museum, er hat sogar eine Schwester hier, ich wusste früher gar nicht, dass ich Verwandte in Berlin habe. Das war eine Überraschung, als wir sie besuchten, und an der Türklingel stand mein Familienname.
Aber bald bekam Großvater Heimweh, er sagte, sein ganzes Leben sei dort. Er fühlte sich nicht heimisch. Ich versuchte, ihm zuzureden, dass man hier doch genau so leben kann wie bei uns. Und er sagte, er verstehe das ja, er verstehe, dass es hier jetzt sogar besser sei, aber er bekomme den Gedanken eben nicht mehr aus seinem Kopf.
Ich wollte ihn unbedingt hierbehalten, aus ganz egoistischen Motiven, er ist der einzige mir nahe Mensch in einem fremden Land. Aber dann begriff ich, wenn ich jetzt nicht sofort losgehe und ihm eine Fahrkarte kaufe, dann kann das schlimme physische Konsequenzen haben, und eine Depression macht alles noch schlimmer. Er weinte.
Nach seiner Abreise ging es mir sehr schlecht. Zwei Wochen lang war ich komplett durch den Wind, denn ich hatte das alles doch vor allem seinetwegen gemacht. Aber ich verstehe, dass es für ihn so besser ist. Also war es die richtige Entscheidung.
Jetzt habe ich Leute gefunden, die mir ein Zimmer gegeben haben. Genauer gesagt, eine Mitschülerin hat sie gefunden und mich mit ihnen bekannt gemacht.
Pläne: Ich werde nach Kanada gehen
Schon vor dem Krieg wollte ich nach Kanada auswandern, ich habe dort einen Onkel und einen Bruder. Ich lernte die Sprache, wollte meine Wohnung in Irpin verkaufen, ich beschloss, mich auf UX-Design umschulen zu lassen. Aber meine Wohnung gibt es nicht mehr. Das Haus in Irpin stand neben einem Feld, wo die ukrainische Luftabwehr installiert ist, dort ist eine gute Position. Und jetzt hat das Haus ein riesiges Loch von den Granateneinschlägen. Alle Türen sind kaputt, die Fenster samt Rahmen sind weg, die Russen haben alles weggeschleppt, überall sind Einschüsse.
Das hat mir unser Nachbar erzählt und gezeigt, der dort geblieben ist, in der Landesverteidigung. Was weiter wird mit dem Haus, weiß ich nicht. Keine Ahnung, ob man es wieder aufbauen kann. Aber ich habe für mich beschlossen, dass es mir egal ist, das ist alles nur Materielles, die Hauptsache ist, dass alle mir Nahestehenden am Leben sind.
Ich habe jetzt von einem Programm für Ukrainer gehört, das ermöglicht, ein kanadisches Visum für zehn Jahre zu bekommen, um dort zu leben und zu arbeiten. Und ich habe eins bekommen. Ich bin jetzt sehr glücklich.
Bevor ich nach Kanada abreise, nach Montreal, möchte ich natürlich noch einmal in die Ukraine, um noch einmal alle zu sehen. Weil ich nicht weiß, wann das noch einmal klappt, wenn ich erst einmal weg bin. Ich möchte meine Mutter nach Kanada mitnehmen, und meinen Bruder auch. Er lernt gerade programmieren. Aber meinen Bruder lässt man jetzt nicht aus dem Land, und meine Mutter möchte deshalb im Moment auch nicht weg.
Mit Sofia Sosina sprach Tatiana Firsova am 18. August 2022. Die Transkription übernahm Anastasiia Kovalenko, aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine und Russland zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.