Belarussen: Verraten und verkauft
Andrei Karalevich, 33, Filmproduzent, Minsk, 2 Wochen inhaftiert: „Die Probleme der Belarussen interessieren niemanden“
Ich bin seit 2008 beim Film, damals fing ich als Statist bei „Belarusfilm“ an. Als Kind habe ich die Schule geschwänzt, bin auf den Markt gegangen und hab mir ganze Filmanthologien gekauft und mir dann den gesamten Scorsese, Coppola und Tarantino angesehen. Nach der Statisterie wurde ich Schauspielerassistent, Regieassistent, zweiter Regisseur, stellvertretender Aufnahmeleiter.
Dann ging ich an die Minsker Akademie der Künste. Wie Tarantino sagt: „Ich habe Kino nicht studiert, ich bin ins Kino gegangen.“ Genauso war es bei mir. Ich versuchte mich als Komparse und in Nebenrollen. Hauptsächlich handelte es sich um russische Filme.
Aber dann kam Putin
1997, als Jelzin schon schwächelte, war Lukaschenko gerade obenauf, und schlau wie er ist, erhob er Ansprüche auf die Rolle des Präsidenten eines russisch-belarussischen Staatenbunds. Lukaschenko war ein populärer Politiker, nicht nur in Belarus, sondern auch in Russland. Aber dann kam Putin. Lukaschenko war abgemeldet.
Ende 2019 gab man bekannt, zwischen Russland und Belarus werde eine „Roadmap für Integration“ unterzeichnet. So kam ich zum ersten Mal zu den Protestveranstaltungen. Es hatte auch früher schon große Demonstrationen gegeben, 2006, 2010, 2015. Aber damals hatte Lukaschenko tatsächlich mehr als die Hälfte der Wählerstimmen auf sich versammelt. Es gab keine Alternativkandidaten, die alle an sich binden konnten, und es gab keinen Oppositionsführer. Deshalb war klar, dass Lukaschenko an der Macht bleiben würde, trotz der Proteste.
2006 ging ich noch zur Schule, in die zehnte Klasse. Es fanden Wahlen statt. Ich hatte oppositionell eingestellte Klassenkameraden, und es gab bei uns Auseinandersetzungen. Aber ich sagte damals: „Es gibt niemanden außer ihm, und die andern kommen bloß her und fangen an zu klauen.“ Das dachte ich mit 16. Aber seitdem hat sich viel verändert.
Mehrheit für Tichanowskaja
Es gibt einen alten sowjetischen Witz: „Sejmon Abramowitsch, man sagt, sie wüssten alles. Sagen Sie uns, wann wird es endlich besser?“
„Es war schon mal besser.“
Das ist unsere Geschichte.
„Bei der Wahl 2020 war die Mehrheit für Tichanowskaja.“ Am 9. August, als die Wahl stattfand, waren die Einwohner von Belarus auf alles gefasst. Ich fuhr los, um meine Stimme abzugeben. Ich wohnte damals mit meiner Freundin zusammen. Wir gingen zuerst in mein Wahllokal, dann in ihres.
Solche Schlangen hatte es noch nie und nirgendwo gegeben. Ich war seit meinem 18. Lebensjahr immer zur Wahl gegangen, aber niemals mußte ich anderthalb Stunden lang anstehen, um meine Stimme abzugeben.
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
In meinem Wahllokal waren die Stimmzettel ausgegangen. Man weiß ja, wie sie die Wählerstimmen manipulieren. Sie hatten schon für uns abgestimmt, aber nicht damit gerechnet, dass so viele Leute kommen würden.
Alle hatten es satt. Die Verwaltung war ineffektiv. Während Corona hatte man die Zahlen der Todesopfer verheimlicht, die Statistik wurde manipuliert, es gab weder Masken noch Atemgeräte, nicht einmal für Ärzte. In Belarus existierte das Coronavirus nur dann, wenn der Staat es brauchte, wie in Russland. Es gab keine Corona-Einschränkungen. So respektlos ging man mit dem eignen Volk um.
Zum Frühlingsanfang 2020 gab dann es Probleme mit der Wasserversorgung, ein Drittel von Minsk war ohne Wasser. Freiwillige verteilten Wasser, aber der Staat reagierte nicht schnell genug.
Der „Mann aus dem Volk“, den alle satt haben
Lukaschenko ist ein Populist. Mit seinem Populismus hat er sich immer herausgewunden. Er hat für sich das Klischee des „Mannes aus dem Volk“ geschaffen. Es ist nun aber so, dass es im Jahr 2020 nicht mehr so viel „Landvolk“ gab. Es gab mehr gebildete Menschen, für die der „Mann aus dem Volk“ der Vergangenheit angehörte.
In Belarus gibt es keine funktionierende Demoskopie. Während des Wahlkampfs ist die Veröffentlichung von Umfragen auf staatlicher Ebene verboten. Aber bei einer großen Online-Plattform wurde eine Umfrage publiziert, und dort hatten nur drei Prozent für Lukaschenko gestimmt.
Bei den Wahlen 2020 in Belarus hatten wir uns verabredet, in die Wahllokale zu gehen und die Wahlergebnisse einzufordern. Wir kamen zu einem Wahllokal, man sicherte uns zu, uns die Ergebnisse auszuhändigen, aber sie taten es nicht. Das mobile Internet war zu diesem Zeitpunkt vollständig abgeschaltet. Aber das Heiminternet funktionierte, und darüber erfuhren wir die Wahlergebnisse.
Es ging die Information, dass Tichanowskaja anderthalbmal mehr als das Minimum bekommen hatte. Man rief dazu auf, nach der Wahl auf den Hauptplatz zu kommen. Dann kam die Information, dass die Mitglieder der Wahlkommissionen unter der Aufsicht von OMON-Leuten mit Maschinenpistolen zu Bussen gebracht wurden. Die Wahlergebnisse wurden nicht veröffentlicht.
Tränengas und Blendgranaten
Danach fuhr ich ins Stadtzentrum. Ich fuhr mit der U-Bahn, die Wagen waren fast menschenleer. Ich kam zum Siegesplatz, und da waren schon ein paar mehr Leute. Ich ging weiter und geriet in eine Menschenmenge von mehreren Tausend Personen. Wir gingen auf die Brücke über die Nemiga, man drängte uns ab, warf Blendgranaten, dann Tränengas. Die Menschen begannen sich zurückzuziehen. Es gab Proteste, es gab Prügeleien. Das ging bis vier Uhr morgens.
Als die Leute dann allmählich nach Hause gingen, kam plötzlich Miliz angefahren, sie wurden eingefangen, verprügelt und in die Gefangenentransporter gesteckt. Das war die erste Nacht, da wurden die Autos noch nicht angerührt. Später zerrten sie die Leute aus ihren Autos.
Zum 12. August eskalierte es. Sie dachten, es läuft wie immer. Die Leute gehen auf die Straße, man treibt sie auseinander, macht ihnen Angst, damit sie die Lust verlieren. Aber das funktionierte nicht. Das Regime drehte eine Stufe höher.
Am 13. August gab es einen Marsch der Frauen gegen Gewalt. Zuerst hielten sich die Bullen ein wenig zurück. Die Menschen fingen überall an zu protestieren, es war eine chaotische Welle der Aufsässigkeit. Am 16. August gab es einen sehr großen Marsch, aber keinen einzigen Milizionär. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht so viele Menschen auf einen Haufen gesehen. Auf der Welle dieser Proteste kündigten die ersten Journalisten. In den Live-Sendungen waren die Kameras auf leere Sofas gerichtet.
Irgendwann verstand ich, dass Belarus ein Rentner-Pensionat ist, wo man ständig sendet: „Bei uns ist alles gut, in Amerika ist alles schlecht“. So eine Antiutopie, die die Wachsamkeit einschläfert.
Als die Propaganda in Schwierigkeiten geriet, reiste eine Hilfstruppe aus Moskau an. Das hat sogar Lukaschenko selbst 2021 erzählt. Man fing an, Telegram-Kanäle zu führen, angeblich durch die belarussischen Nachrichtenagenturen, aber jedem war klar, dass das russische Journalisten machten. Belarus nannte man jetzt Weißrussland, Lukaschenko „Batka“ (Papa; Red.), obwohl in Belarus selbst niemand ihn je so genannt hatte. Eine neue Propagandawelle lief an.
Zwei Wochen im Gefängnis
2020 war ich bei allen Treffen, außer zweien, weil ich im Gefängnis war. Ich hatte immer Glück gehabt bei den Demonstrationen. Diesmal aber hatte ich nicht aufgepasst.
Wir führten Einzelmahnwachen, als gerade die Kolonne unseres Innenministers vorbeifuhr, und wir wurden sehr schnell eingesammelt. Wir standen dort mit unseren Flaggen. Das war im Oktober 2020. Man verhörte uns. Man nahm uns die Computer weg. Wir kamen in Untersuchungshaft.
Ich saß 14 Tage in einem richtigen Gefängnis. Die Zellen waren damals noch nicht überfüllt. Bei uns gab es das nicht, dass in einer Zelle für 10 Personen 30 eingepfercht wurden. Es gab Corona.
Das war ein extrem widerlicher Ort, aber es gab ganz wunderbare Mitgefangene: Studenten und normale Leute aus den Fabriken. Es gab einen Dichter. Wir machten uns miteinander bekannt und unterhielten uns großartig. Wir erfanden ein Spiel nach dem Muster von „Mafia“. Statt der Krankenschwester hatten wir Yandex-Taxifahrer, statt der Bürger Protestierende.
Es gab nichts, nicht einmal Schnürsenkel. Alles musste man organisieren. Wenn ein Paket kam, freute ich mich über Zahnpasta. Wenn du einen Menschen glücklich machen willst, nimm ihm zuerst alles weg und gib ihm dann ein klein wenig davon zurück. Als wir Papier und Klebeband bekamen, haben wir ein Spielfeld aufgemalt wie bei Monopoly. Wir hatten Protest-U-Bahnstationen und Proteststraßen. Wir nannten unser Spiel OMONopoy.
In der ersten Woche setzten sie uns unter psychologischen Druck. Das Licht wurde ausgeschaltet. Mein Sehvermögen verschlechterte sich sehr. Niemand wurde geschlagen, aber die Leute in den Nachbarzellen wurden geschlagen. Manchmal hörten wir das. Man verbot uns, vor der Nachtruhe auf den Pritschen zu sitzen. Uhren hatten wir nicht.
Als wir hergekommen waren, war es ein warmer Oktober. Zehn Männer, die Fenster geschlossen, es war sehr stickig. Drei Tage lang machten sie das Fenster nicht auf. Am Morgen bekamen wir zerkochten Brei. Alles war zerkocht, versalzen, widerlich. Ich habe fünf Kilo zugenommen. Wir hatten anderthalb Quadratmeter freien Platz, man konnte sich kaum bewegen.
Während der ganzen Zeit wurden wir nur zweimal nach draußen gebracht, und wir rauchten 3-5 Zigaretten nacheinander. Die übrige Zeit aß ich stattdessen Brot.
Irgendwann hatte ich das Gefühl, wir sind wir kleine Jungs im Pionierlager. Wir schufen uns so eine Atmosphäre. Unter uns war ein Student. Bevor er entlassen wurde, sagte er: „Leute, ich hatte ein halbes Jahr lang Depressionen, bevor ich zu euch kam, aber jetzt geht es mir besser.“
Nach einer Woche schaltete man uns zum ersten Mal das belorussische staatliche Radio ein, wir wachten auf von den Klängen der Hymne, dann kamen die Nachrichten. Sie berichteten, der Innenminister sei entlassen worden. Anschließend hatten wir es besser. Weil die Bullen immer Angst haben, dass „neue Besen“ kommen und besser fegen. Wir wurden ausgeführt und durften zum ersten Mal duschen, und die Zelle wurde gereinigt.
Dann wurden ein paar von uns entlassen, und drei neue aus einer anderen Zelle kamen zu uns, ein Student, ein Programmierer und ein Privatunternehmer. Sie hatten ein Buch von Guberman mit, seine Gefängnisaufzeichnungen. Es hat sich nichts verändert, obwohl seitdem 80 Jahre vergangen sind.
Das Interessanteste war der Moment, als ich ins Gefängnis gebracht wurde, da stand ich dort auf der Türschwelle und dachte, ich weiß, wie man im Gefängnis zu leben hat. Nicht weil ich mich je für dieses Thema interessiert oder mich darauf vorbereitet oder speziell eingelesen hätte. Das Leben hat mich darauf vorbereitet. All diese Filme und Bücher. Man weiß irgendwie schon Bescheid, wie man sich im Gefängnis verhält.
Dann brachten sie einen Studenten. Er war sehr aktiv bei den Protesten gewesen, hatte Videos aufgenommen. Eines Tages kam er mit Freunden von der Vorlesung, als neben ihnen ein Pkw ohne Kennzeichnen anhielt, er wurde gepackt und abtransportiert. Der Junge bekam 25 Tage. Weil er irgendeinem großen Tier in die Quere gekommen war, steckte man ihn nicht in die Zelle zu den Verwaltungshäftlingen, sondern zu echten Kriminellen. Er war 19 oder 20 Jahre alt, sehr klug und sehr belesen. Er hatte Pickel im Gesicht, offene Wunden, und man steckte ihn in eine Zelle mit Obdachlosen, Drogenabhängigen und einem Aidskranken.
Als seine Haftzeit abgelaufen war, packte man ihm noch 15 Tage drauf, angeblich, weil er beim Verlassen des Gefängnisses irgendwas gefilmt hatte. Als der Tag seiner Entlassung kamen, waren wir alle mucksmäuschenstill. Wir hatten Angst, dass man ihn nicht entlässt. Er hat gepackt, sich fertig gemacht, saß dann stundenlang an der Tür. Gott sei Dank hat man ihn entlassen. Das ist so ein System, man weiß nie, was man dir vielleicht noch alles aufbrummt.
Die Lebenslänglichen brachten uns das Essen
Nach dem Gefängnis wurde ich aus der belarussischen nationalen Kunstakademie ausgeschlossen. Der Direktor war für Lukaschenko. Der offizielle Grund für die Relegation war meine 14tägige unentschuldigte Abwesenheit. Außerdem arbeitete ich für eine private Firma, die Filme herstellte. Wir machten Filme für Russland, Kasachstan und die Ukraine.
2020 holte man mich in das Team des satirischen Projektes Chin-Chin-Chanel l. Die Idee bestand darin, dass Beamte (von Schauspielern dargestellt) auf You-Tube erklärten, was richtig und was falsch ist, wer recht hat und wer unrecht. Die ersten Male war das ein Abklatsch des belarussischen Fernsehens vom Anfang der Nuller-Jahre. Wir haben die Videos gedreht, man ließ uns in Ruhe. Unser Lied „Schtschutschinschtschina“ ging unters Volk und wurde populär, man skandierte es sogar bei den Prosteten.
Zu dem Lied gab es einen Clip, wo Jelena Scheludok, eine erfundene Figur, ein junges Pionier-Mädchen, das Lukaschenko unterstützt, Lieder von ihrer Heimat singt.
Das war eine Satire auf die Videos, die die Propaganda auswarf. Nach Beginn des Kriegs in der Ukraine hatten die Ukrainer ein bestimmtes Erkennungswort für die Unterscheidung zwischen Freund und Feind, das hieß „Paljanyzja“, und bei den Belorussen war das „Schtschutschinschtschina“.
Es bildeten sich die ersten Nachbarschaftsinitiativen bei uns. Die Leute kamen aus ihren Häusern und tranken zusammen Tee, ganze Familien versammelten sich und lernten ihre Nachbarn kennen. Das wirkte sehr verbindend. Es war eine Idylle. Die Leute unterhielten sich einfach, sangen miteinander. Aber dann kamen Bullen in Zivil und trieben sie auseinander.
Regelmäßig Uniformierte vor der Tür
Ich wohnte damals nicht unter meiner Meldeadresse. Nachbarn erzählten mir, dass regelmäßig einer in Zivil und einer in Uniform an meiner Tür klingelte und mit mir sprechen wollte.
2021 ging das Leben seinen gewohnten Gang. Wir machten weiter mit unserem Projekt. Wir gewannen ein europäisches Stipendium für unsere Serie „Lenin war hier“. In dieser Serie ging es darum, wie zwei Beamte in die Stadt Schtschutschinschtschinsk kommen, um zu sehen, ob da alles in Ordnung ist. Man begrüßt sie, spult die üblichen protokollarischen Prozeduren ab.
In jeder Stadt gibt es einen Leninplatz, und es gibt bei uns einen Witz, dass man zuerst mal ein Denkmal aufstellt, und dann baut man darum herum eine Stadt. Diese Beamten kommen also auf den Leninplatz und fragen ein Mädchen: „Gefällt dir deine Stadt?“ Sie antwortet: „Ja, hier ist alles sehr gut, alles gefällt mir.“
„Und wenn Onkel Lenin noch lebte, was würdest du ihm dann sagen?“
Sie schaut auf, guckt, der Sockel vom Lenindenkmal ist da, aber kein Lenin. Eine Katastrophe, ein Skandal, das hat bis jetzt keiner bemerkt. Die Beamten beginnen nachzuforschen, wo Lenin hin ist. Die ganze Stadt wird eingesperrt, alle stehen unter Verdacht. Dann kommt der Parteivorsitzende und sagt, auf dem Papier existiere Lenin. So funktioniert alles bei uns, auf dem Papier. Dann stellt sich heraus, dass es in dieser Stadt nie ein Lenindenkmal gegeben hat.
Das macht deutlich, dass Lenin für die, die an der Macht sind, eine sakrale Maßeinheit ist. Das ist nicht nur in Belarus so, sondern auch in Russland. Sie halten die Sowjetunion für etwas Gutes. Am Ende der Serie beschließen die Beamten, der Stadt ein Geschenk zu machen und ihnen ein Stalin-Denkmal zu schenken.
Ab Mai 2020 schrieben wir am Drehbuch. Zu dieser Zeit fing man an, die unabhängigen Medien zu schließen. Uns wurde klar, dass wir weggehen müssen. Wir haben lange überlegt wohin. Wir schwankten zwischen Lwiw und Kiew. Wir gingen dann nach Lwiw.
Ich dachte, zu Silvester nach Hause zu fahren. Aber dann kam mein Nachbar in Minsk auf einmal ins Gefängnis, und er ließ mir über einen Mithäftling eine Nachricht übermitteln: Komm auf keinen Fall her. Ich blieb in Lwiw. Wir begannen mit den Aufnahmen. Wir hatten schon etwa 40 Prozent abgedreht. Dann begann der Krieg in der Ukraine. Ich war zu dem Zeitpunkt gerade in Kiew. Ich war am 23. Februar dort angekommen und war gerade dabei, mir eine ukrainische Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen.
Der 24. Februar war ich in Kiew
Am 24. Februar wachte ich in Obolon von den Geräuschen anfliegender Raketen auf. Ich begriff, dass ich schleunigst nach Lwiw musste. Bis nach Lwiw waren wir 24 Stunden unterwegs.
Als nach Bekanntmachung der Mobilmachung die Russen massenweise das Land verließen und in den Warteschlangen litten, war das vielleicht ein Drittel von dem, was in der Ukraine in den ersten Tagen des Kriegs los war.
Ich musste eiligst mein Team rausschaffen. Das waren zehn Erwachsene und Kinder. Ich funktionierte wie ein Roboter. Am Bahnhof dachte ich: „Vielleicht soll ich hierbleiben?“ Aber dann kam ein Zug nach Przemyśl, und wir stiegen ein. Von Przemyśl aus nahmen uns Ukrainer bis nach Warschau mit. Es war uns peinlich, dass uns Ukrainer halfen.
Den ganzen März über wohnte ich in Warschau bei einem Freund, der schon vor einiger Zeit nach Warschau gezogen war. Dann sah ich eine Möglichkeit, nach Deutschland zu gehen. Bis zum 31. August konnten alle Flüchtlinge sich legal ohne Papiere in Deutschland aufhalten. Ich zog um und fing an, mich um die Papiere zu kümmern. Jetzt habe ich ein Visum bis zum Jahresende nach § 7, das ist ein Visum für die Zeit meines Stipendiums.
Weil ich belarussischer Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter bin, lässt man mich nicht in die Ukraine, und nach Belarus zurückzugehen ist gefährlich. Zum dritten Mal in meinem Leben muss ich ganz von vorn anfangen, dieses Mal in Berlin. Ich habe eine Wohnung gemietet, und wir arbeiten parallel an unserem Projekt.
Die Probleme der Belarussen interessieren niemanden
In Belarus gibt es wenige eigene Fernsehsender und viel russische Propaganda. Wir befinden uns permanent in einem externen Informationsraum, wir verfolgen die Nachrichten in der Ukraine und in Russland. Es ist interessant zu sehen, wie die Russen darauf reagieren, dass sie für blau-gelbe Elemente in der Kleidung verhaftet werden. In Belarus war das schon 2020 so, aber in Russland weiß man das nicht. Wir hängen sehr eng zusammen, das war auch früher schon so. Wenn in Belarus etwas passiert, passiert anschließend das Gleiche in Russland.
Jetzt verlassen sie Russland wegen der Mobilmachung, weil sie in Ruhe leben wollen. Die Belarussen verlassen ihr Land, weil sie in Gefahr sind. In Russland gibt es noch ein paar oppositionelle Journalisten und Politiker, die im Land geblieben sind. In Belarus hat man 2020 alle unabhängigen Medien gesäubert. Man hat keinen zum ausländischen Agenten erklärt, man hat einfach alle eingesperrt.
Nach Beginn der Mobilmachung sagte Deutschland, es werde den Russen mit der Vergabe von Visa helfen. Viele Leute können nicht nach Belarus zurück, weil sie dort in Gefahr sind. Die Situation dort ist gefährlicher, man hat nicht das Recht, einem Bullen zu widersprechen. Aber die Probleme der Belarussen, die gezwungen waren zu fliehen, interessieren niemanden. Die Ukrainer können auch nach Hause zurückgehen, oder wenigstens in den Westen des Landes. Die Belarussen sind einfach verraten und verkauft.
Mich fragen Ukrainer oft: „Wieso könnt ihr sie denn nicht besiegen?“ Aber die Situation bei uns ist eine völlig andere. In der Ukraine gab es vier Präsidenten, bei uns gibt es nur Lukaschenko. Bei uns gibt es die meisten Bullen pro Kopf der Bevölkerung. Wahrscheinlich haben nur noch die Bullen und die Veteranen des Zweiten Weltkriegs Privilegien. Die Bullen haben sich nicht auf die Seite des Volks gestellt, bei ihnen besteht Vetternwirtschaft, sie haben alle schmutzige Hände. Sie haben alle Angst, dass sie eingesperrt werden, wenn jemand anders an die Macht kommt.
Mit Andrei Karalewich sprach Tatiana Firsova am 17.11.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.