„Belarus könnte klasse sein“
Serji Navitski, 36, Belarus, Social Media Marketing: „Russland kann Lukaschenko zwingen, in den Krieg einzutreten“
Von 2016 bis 2021 habe ich in Minsk gelebt. Der Ausbildung nach bin ich Musiker. Ich habe die Musikschule abgeschlossen, anschließend ein Jahr lang am Konservatorium studiert. Ich bin klassischer Gitarrist. Ich habe an der Musikschule gearbeitet, in Clubs, Bars und Cafés gespielt.
Bis 2020 war alles normal. Dann kam Corona, und mit der Arbeit war Schluss, alle Konzerte wurden abgesagt. Im August nach der Wahl begannen die Proteste, an denen ich aktiv teilnahm. Ich gehöre keiner Organisation an, aber ich habe verstanden, dass man sich nicht raushalten darf.
Ich fuhr nach Mahiljou, um zu wählen, und am 9. August war ich schon in Minsk, wir gingen auf die Straße, um zu protestieren. Wir versammelten uns vor dem Wahllokal, etwa 200 Personen. Als die Wahlergebnisse ausgehängt wurden, für Tichanowskaja 20 Prozent und für Lukaschenko 80, wurden die Leute wütend. Die Kommission wurde in einen Polizeitransporter verfrachtet und weggebracht, damit sie nicht mit den Leuten in Kontakt kam.
Ein Polizeitransporter fuhr in die Menge
Wir machten uns auf den Weg ins Zentrum, fuhren bis zur Nemiga, dort war kein Mensch. Der Platz war wie saubergefegt und gewischt. Von der Nemiga aus gingen wir weiter, und dann kamen schon Absperrungen, aber immer noch keine Leute. Alle waren bei der Stele (ein Kriegsdenkmal; Red.), sie war abgesperrt, man kam nicht ran, da stand Militär in drei, vier Reihen mit Schutzschilden. Nur Wasserwerfer, Polizeiautos und gepanzerte Fahrzeuge kamen durch.
Wir verstanden, dass wir eine größere Menschenmenge finden mussten, sonst würden wir „einkassiert“. Nach fünf Minuten fanden wir eine, die Menschen strömten von allen Seiten herbei. Kaum war das passiert, fuhr ein Polizeitransporter in diese Menge hinein, und es wurden Blendgranaten geworfen.
Wegen des Kriegs sind hunderttausende Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, außerdem Oppositionelle aus Russland und Belarus. Viele von ihnen möchten darüber berichten, bevor die Erinnerung verblasst. Unsere Dokumentation von „Interviews gegen das Vergessen“ entsteht in Kooperation mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Wir bekamen Angst. Die Menge löste sich auf. Wir wussten, egal in welche Richtung man geht, es ist überall schlimm. Es kursierten Nachrichten, dass irgendwo sogar geschossen wurde.
Wir gingen Richtung Unabhängigkeitsplatz. Dort war eine Wand aus Gas. Aber wir schafften es, rauszukommen und fuhren nach Hause.
Ständiger Druck der Silowiki
Danach nahm ich an allen Aktionen teil. Ich kündigte meinen Job und fing an, sehr viel auf Instagram zu posten. Sehr viele Leute aus dem Kulturbereich haben damals gestreikt oder gekündigt. Ich habe gekündigt, weil ich eine staatliche Arbeitsstelle hatte, und ich wollte mit dem Staat absolut nichts mehr zu tun haben. Ich ging zur Schule und sagte: „Streiken wir!“ Aber keiner reagierte, sie hatten sich dafür entschieden, lieber ihren Hintern stillzuhalten.
Ich schrieb einen Post auf Instagram, dass ich Schüler suche. Es fanden sich mehrere Personen. Außerdem entstand damals Chin-Chin-Chanel, und ich mache bis heute für sie das Social Media Marketing (SMM). Wir haben damals „Schtschutschinschtschina“ aufgenommen, das wurde eines der populärsten Lieder in Belarus.
Ein Anruf von der Miliz
Davor hatte mich jemand von der Miliz angerufen und gesagt, ich solle aufhören, Fotos auf Instagram hochzuladen. Der Anruf kam auf meine Mobilnummer. Damals hatte ich noch nicht die Gewohnheit, keine fremden Nummern anzunehmen.
Jemand rief an und sagte: „Guten Tag, ich bin Major der Miliz, Sie wohnen in dem und dem Bezirk in Mahiljou? Die kommunalen Dienste dort interessieren sich für Sie.“ Ich antwortete, dass ich selbst bei den kommunalen Diensten anrufe, und es wurde aufgelegt. Ich rief an, dort interessierte sich niemand für mich. Dann riefen sie mich abends noch einmal an und sagten: „Sie laden da auf Instagram Fotos hoch, hören Sie auf damit, sonst kommen wir Sie mal besuchen.“
Damals war es ganz leicht, jemanden aufzuspüren. Man ging einfach zu dem Hashtag #shiweBelarus und wählte alle an der Spitze aus. Auf Instagram gibt es ja die Fotos und die Informationen über die Person. Und Leute, die etwas über diesen Hashtag hochgeladen haben, gab es ziemlich wenige, nur ein paar Tausend, nicht Hunderttausende. Deshalb war es ganz leicht, jemanden zu finden. Dann kam was per Post an meine Meldeadresse, sagen wir mal eine „Einladung“. Mein Bekannter sagte, es sei auch jemand vorbeigekommen. Aber er macht niemandem die Tür auf.
Als „Schtschutschinschtschina“ rauskam, wussten die Leute erst nicht, ob das ein prostaatliches Lied ist oder ein Protestlied. Aber als sie es dann kapiert hatten, schrieben sie in den Gelben Pflaumen (das ist eine Propagandaplattform, ein Telegram-Kanal der Behörde zur Bekämpfung von Terroristen), man würde Jelena Scheludok bald am Schlafittchen kriegen, und dann habe es sich für sie ausgesungen.
Schtschutschinschtschina: Ein Auftritt mit Folgen
Sie brachten da auch ein Foto von einem der Protestkonzerte. Darauf war das ganze Schauspielerteam von „Schtschutschinschtschina“. Ich war nicht dabei. Dieses Foto hatte ihnen der Besitzer der Gaststätte gegeben, in der wir aufgetreten waren. Man hatte ihn verhaftet. Dann fingen sie an, alle Leute, die auf diesem Foto waren, zu suchen. Das hat uns ziemlich Angst gemacht.
Außerdem war ich einer der Organisatoren des Festivals des Unabhängigen Films, damit hatte ich seit 2018 zu tun. Das Festival haben wir im Frühjahr 2021 veranstaltet. Ein paar KGB-Männer kamen zu uns. Sie kamen, standen ein bisschen rum, gingen wieder. Dann wurde unsere NGO geschlossen, und es kam die Information, dass alle geschlossenen NGOs durchsucht würden. Sie gingen von Tür zu Tür. Panik brach aus.
Umsiedlung nach Lwiw
Im Oktober 2021 schlug Chin-Chin-Chanel vor, per Umsiedlungsprogramm nach Lwiw zu gehen. Das Team fuhr früher, sie richteten sich ein, ich fuhr etwas später. Ich beschloss wegzugehen, weil es keine Möglichkeit mehr gab, zu bleiben. Von Minsk fuhr ich mit dem Auto nach Mahiljou, dann durch ganz Russland nach Georgien, und von Georgien aus flog ich nach Lwiw.
Ich wollte unseren Grenzbeamten aus dem Weg gehen, weil sie die Telefone überprüften. Und so fragten mich die russischen Grenzbeamten nur nach meinem Reisegrund, und ich sagte, ich fahre zur Behandlung nach Sankt Petersburg, dafür hatte ich ein offizielles Papier.
Das Auto ließ ich in Georgien. Ich hatte zwei Hunde dabei, meinen eigenen und einen von dem Bekannten, dem das Auto gehört. Mein Hund ist in Georgien geblieben. Ich habe meinen Hund nicht mit in die Ukraine genommen, weil ich dafür eine Impfbescheinigung gegen Tollwut gebraucht hätte, und die konnte man nur in Moskau bekommen, und sie kostet soviel wie eine Flugzeugtragfläche.
Der Hund ist gut versorgt. Er ist sehr krank. In Georgien darf man einen Hund im Flugzeug nicht im Passagierraum mitnehmen. Und im Gepäckraum würde er nicht überleben. Mein Hund ist schon sehr alt.
Mit der belarussischen Flagge in der Ukraine
In Lwiw fingen wir an, die Serie „Lenin war hier“ zu drehen. Was wir abdrehen konnten, war ein Knaller. Es gab einen Vorfall bei den Dreharbeiten. Wir hatten in Mykolajiw (eine kleine Stadt in der Nähe von Lwiw) wegen der Aufnahmen fast alles abgesprochen und eine Drehgenehmigung erhalten. Das Schreiben schickten wir ans Bürgermeisteramt. Sie sagten: „Machen Sie“, aber gaben uns nichts Schriftliches, nur eine mündliche Zusage.
Wir kommen an, nehmen die ukrainische Flagge von dem Gebäude ab. Es war so abgesprochen, dass wir rot-grüne Flaggen aufhängen [die staatliche Flagge von Belarus unter Lukaschenko; Red.,] Wir brauchten das für unsere Aufnahmen. Deshalb kam sofort Polizei, dann der ukrainische Sicherheitsdienst SBU.
Der SBU hat uns verhört und unsere Personalien aufgenommen. Der stellvertretende Bürgermeister hatte gesehen, was das vorging, hatte den Bürgermeister angerufen und gesagt, Lukaschenko habe in Mykolajiw die Macht ergriffen. Es gab eine Gerichtsverhandlung, aber wir wurden freigesprochen, wir bekamen nicht einmal ein Bußgeld aufgebrummt.
Nach Kriegsbeginn Umzug nach Polen
Von Lwiw zog ich im Februar 2022 nach Polen um. In den ersten Tagen des Kriegs haben wir in unserem Team überlegt, was wir machen sollten. Aber wir kamen auf keinen Nenner. Wir wussten nicht, wie wir ausreisen sollten, denn an der Grenze stand man drei Tage in der Schlange.
Am zweiten Tag fanden wir einen Evakuierungszug. Am 26. Februar nachts fuhren wir aus Lwiw ab und kamen am nächsten Morgen in Przemyśl an. Man ließ mich ohne Weiteres einreisen. Auf der polnischen Seite hat man meinen Pass geprüft und meine Sachen durchsucht, das war alles.
Eine Woche lang wohnten wir in Warschau in einer kleinen Wohnung und wussten nicht, was wir weiter machen sollen. Dann fuhren wir nach Berlin. Wir dachten, wir organisieren uns dort, weil meine Freundin dort eine Verwandte hat. Wir fuhren zur Aufnahmestelle für Flüchtlinge. Dort sagten sie: „Stellen Sie einen Asylantrag oder verschwinden Sie.“
Wir hatten viel über Legalisierungsformen gelesen und wussten, der Flüchtlingsstatus ist nichts für uns. Man darf nicht arbeiten, man muss in einem Flüchtlingslager wohnen, und das Geld, das man als Unterstützung bekommt, reicht nicht einmal für Zigaretten. Wir fuhren nach Poznań. Dort sagten sie, man könne einfach kommen und internationalen Schutz beantragen.
Außerdem haben wir überlegt, humanitäre Visa zu beantragen, so eins wie Swetlana Tichanowskaja in Polen bekommen hat. Aber auf die musste man lange warten. Im polnischen Konsulat wussten sie nicht einmal, dass es solche Visa gibt, obwohl das Gesetz schon in Kraft war.
Man hat mir nach zwei Monaten internationalen Schutz bewilligt, weitere zwei Monate wartete ich auf eine Plastikkarte. Dieser Schutz gilt für zwei Jahre. Danach kann man ihn noch einmal verlängern, wenn sich nichts geändert hat.
Ich weiß, Belarus könnte klasse sein
Wenn die Regierung wechselt, würde ich gern sofort nach Belarus zurückgehen. Im Idealfall passiert 2024 etwas mit Lukaschenko, und jemand aus seinem Umkreis kommt an die Macht. Denn einen wirklich demokratischen Staat wird es so schnell nicht geben können. Das ist noch sehr unrealistisch, für die nächste Zukunft sehe ich das nicht. Er müsste sterben, anders wird er nicht abtreten. Und gewaltsam können wir ihn nicht absetzen, weil wir keine Waffen und keine Armee haben.
Sehr viele Leben und Schicksale sind zerbrochen. Ich weiß, wie klasse Belarus sein könnte. Denn sogar zum Zeitpunkt meiner Ausreise stand Belarus, was das Serviceniveau, die Internetgeschwindigkeit, die soziale Kommunikation und die Kultur-Szene angeht, höher als Deutschland oder Polen. In Deutschland ist das Internet einfach nur ein Trauerspiel, du zahlst 80 Euro für eine unbegrenzte Flatrate, und dann hast du mitten im Zentrum kein Internet. In Polen gibt es keinen Service.
Ich denke, Russland kann Lukaschenko durchaus zwingen, in den Krieg einzutreten. Ich bin kein Experte, aber ich neige dazu, dass er Leute hinschicken wird. Wenn die nächste Mobilmachungswelle in Russland versandet. Denn sie können nicht verlieren. Putin verlässt seinen Posten nur mit den Füßen voran. Lukaschenko unterstützen nur die Leute, die kein Internet nutzen, die ältere Generation. Aber fast 80 Prozent der Bevölkerung nutzt das Internet täglich. Nur die, die Fernsehen schauen, unterstützen ihn.
Mit Serji Navitski sprach Tatiana Firsova am 1.12.2022. Sie und Anastasiia Kovalenko übernahmen Transkription und Redaktion des Originalinterviews. Aus dem Russischen übersetzt haben Olga Kouvchinnikova und Ingolf Hoppmann.
Wie die Interviews entstehen
In dieser KARENINA-Serie kommen Zeitzeugen aus der Ukraine, Russland und Belarus zu Wort. Wir möchten nicht nur erfahren, was die einen bei der Flucht vor dem Krieg, die anderen bei der Flucht vor Unterdrückung sowie sie alle im Exil erlebt haben, sondern auch verstehen, wie sie denken. Deswegen fragen wir sie nicht nur über das Erlebte, sondern auch über ihre persönlichen Gedanken zum Geschehen in Osteuropa.
Unsere Gesprächspartner eint unabhängig von Alter, Ausbildungsniveau, Muttersprache und Beruf der Wunsch, ihre Geschichten mit uns zu teilen.
Die Interviews dauern unterschiedlich lang: von etwa 20 Minuten bis zu mehr als zwei Stunden. Viele erzählen gerne und sprechen sehr offen, andere sind zurückhaltender. Wir halten unsere Fragen offen, lassen erzählen, nicht antworten. Das führt manchmal zu sehr langen Texten. Aber sie werden dabei offener, reicher.
Wir kürzen die Ergebnisse wo nötig, um den Text lesbarer zu machen. Aber die Wortwahl bleibt die der Sprechenden. So bleiben die Erzählungen authentisch. Es sind allesamt individuelle Zeugnisse von „Flucht und Exil“ mitten in Europa.
Lesen Sie weitere „Interviews gegen das Vergessen“ aus der KARENINA-Serie „Flucht und Exil“.