Krieg in der Ukraine

Wie lang muss ein Krieg dauern?

Alle wollen ein Ende des Kriegs in der Ukraine. Das wäre nicht zwingend ein gutes Ende

von Florence Gaub
Krieg
Wassili Wereschtschagin: Apotheose des Krieges, 1871, Moskau

Zeit ist immer kostbar, aber im Krieg noch mehr als sonst. Denn je mehr Zeit verstreicht, desto mehr menschliches Leid und Zerstörung, so die Gleichung. Aus genau diesem Grund ist schon seit dem 19. Jahrhundert die Wunschvorstellung einer schnellen Entscheidung auf dem Schlachtfeld populär, eines „Blitzkriegs“, wie er schon vor der NS-Diktatur genannt wurde.

Seitdem ist die Allergie auf Krieg, vor allem langen Krieg, nur schlimmer geworden: Postheroische Gesellschaften wie die unseren verabscheuen Gewalt und Tod, und die Hyperbeschleunigung des 21. Jahrhunderts hat dazu geführt, dass die tolerierbare Laufzeit von Konflikten merkbar geschrumpft ist. Galt zum Beispiel der Golfkrieg der internationalen Koalition gegen den Irak Saddam Husseins 1991 mit seinen sieben Monaten als „schnell“, wurde die Nato 2011 schon nach zwei Monaten in Libyen beschuldigt, zu langsam zu sein.

Aber während sich unsere Haltung zum Krieg verändert hat, haben sich dieser und seine zeitliche Dimension nicht verändert. Seit 200 Jahren dauern Kriege zwischen Staaten im sehr groben Schnitt 15 Monate, und erfolgreiche, schnell endende Kriege lassen sich an einer Hand abzählen: der Sechstagekrieg Israels gegen die arabischen Staaten 1967 oder der Falklandkrieg 1982 etwa.

Und trotz der Versprechungen der Rüstungsindustrie, moderne Waffen würden die Dauer von Kriegen entscheidend verkürzen, hat keine einzige Innovation das bisher bewirkt. Nicht einmal das Auftauchen von internationaler Mediation im 20. Jahrhundert hat dies erreicht.

Das ist deshalb besonders verstörend, weil wir in einer Zeit leben, in der anscheinend alles immer schneller davongaloppiert, inklusive Kampfhandlungen in der Ukraine, denen wir quasi im Minutentakt auf Instagram folgen können. Doch auch wenn alles schneller vonstattenzugehen scheint, die strategische Ebene, dort, wo der Krieg beginnt und endet, bleibt davon unberührt.

Wie lang dauert ein Krieg?

Fast ist es, als sei Krieg das Einzige, was von der Beschleunigung der Moderne ausgenommen ist. Das liegt daran, dass Krieg dazu dient, einen politischen Konflikt aufzulösen, und dies braucht Zeit.

Wie lange Kriege dauern, hängt zum Teil von der Hardware ab: Ein flaches Gelände, große Unterschiede bei militärischer Stärke und Bevölkerungszahl der Kriegsparteien zum Beispiel führen eher dazu, dass ein Krieg eher schnell zu Ende geht. Doch auch die Software spielt eine Rolle: Je motivierter ein Gegner und je existenzieller dessen Kriegsziele, desto länger wird er alles geben.

Die Bestrafungsstrategie etwa, die mit Drohung (auch von Atomwaffen) und Zerstörung operiert, um eine Kapitulation zu erzwingen, hat den paradoxen Effekt, den Widerstand nur noch mehr zu stärken und damit den Krieg zu verlängern. Das mussten die USA in Vietnam und die Sowjetunion in Afghanistan erfahren.

Der schwächere Gegner setzt dann auf die Stachelschweinstrategie, die im Wesentlichen daraus besteht, den Sieg des stärkeren Gegners zu verhindern – und zu warten. Das Sprichwort „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, das oft Talibanführer Mullah Omar zugeschrieben wird, aber immer wieder im asymmetrischen Konflikt auftaucht, fasst diese gut zusammen.

Die zeitliche Dimension dieser Strategien findet sich auch in der Wortwahl von Selensky und Putin. Während Selensky langfristige Ausdrücke verwendet wie „niemals“ oder „Krieg der Generationen“, benutzt Putin kurzfristige Ausdrücke wie „Mai“ oder „bald“ und scheut sich sogar davor, das Wort „Krieg“ in den Mund zu nehmen – laut ihm ist es eine „militärische Spezialoperation“, was subtil suggeriert, es wäre schnell vorbei.

Wann muss militärisch Schluss sein?

Wann also läuft die Zeit für den stärkeren Gegner ab? Eine genaue Formel gibt es nicht. Derzeit wird gehofft, dass die schieren Kosten des Kriegs Putin zur Räson bringen könnten. Nicht nur die Sanktionen sind teuer, auch Material und Soldaten zu verlieren, hat seinen Preis. Aber wer so denkt, versteht nicht, dass Krieg kein merkantilistisches, sondern ein zutiefst politisches, ja sogar existenzielles Unterfangen ist.

Im Zweiten Weltkrieg etwa gaben die USA 4,1 Billionen Dollar aus, um Nazideutschland zu besiegen, und mussten sich schwer dafür verschulden; doch der Sieg war ihnen das wert. Auch Opferzahlen in den eigenen Reihen sind kein guter Indikator, um zu klären, wann militärisch Schluss sein muss. Ob es in der Ukraine 1500 Soldaten sind – wie Russland behauptet – oder bis zu 15 000 – wie die Nato meldet –, Russlands Verhältnis zu Gewalt und Tod ist nicht mit unserem vergleichbar.

In den beiden Tschetschenienkriegen der Neunzigerjahre etwa verlor Russland wohl bis zu 40 000 Soldaten, ohne dass es große Proteste in der Bevölkerung gegeben hätte. Moskau wird also nicht dann einlenken, wenn es im Minus ist oder viele Tote zu beklagen hat, sondern wenn es versteht, dass es nicht gewinnen kann. Und die Zeit für diese Einsicht ist noch nicht gekommen.

Wer diesen Prozess beschleunigen will, indem er zum Beispiel auf ein rasches Kriegsende dringt – um Zivilisten zu retten und Zerstörungen zu verhindern –, mag moralisch recht haben, er kreiert damit ein Problem für die Zukunft. Denn ein gutes Kriegsende ist nicht zwingend ein schnelles Ende, sondern eines, das eine klare Entscheidung herbeiführt.

Wo Konflikte hastig beendet werden, werden sie nicht aufgelöst, sondern eingefroren – und kommen immer wieder. Der heutige Krieg etwa ist ein Nachfahre des eingefrorenen Konflikts von 2014, als Russland nach der Krim und dem Donbass griff. Solche Konflikterben sind überall zu finden, von Osteuropa bis zum Nahen Osten.

Krieg kann klare Verhältnisse schaffen

Denn auch wenn Krieg ein Übel und eine fürchterliche menschliche Erfahrung ist, hat er doch eine Funktion: Er kann klare Verhältnisse schaffen. Der amerikanische Forscher Edward Luttwak fasste dies 1999 in einem Foreign-Affairs-Artikel mit dem provokativen Titel „Give War a Chance“ zusammen. So gesehen läuft die Zeit für Kiew: Denn solange Putin noch denkt, dass er gewinnen kann, wird er kein ehrlicher Verhandlungspartner sein. Mit mehr Zeit wird sich dies ändern.

Und auch für uns ist es von Interesse, dass Russland fundamental zu der Erkenntnis kommt, dass es nicht nur diesen Krieg nicht gewinnen kann, sondern dass es auch seine Zukunftsambition von einer neuen Weltordnung nach seiner Vorstellung ablegt. Denn für Russland ist der Krieg in der Ukraine Teil eines größeren und langfristigeren Unterfangens, das mit einer Umgestaltung der Weltordnung rund um 2030 endet.

Dies ist deutlich zu hören in Putins Reden. Wer heute schnell den Krieg beendet, verlegt einen viel größeren auf die Zukunft. Strategische Geduld mag daher die wichtigste Ressource überhaupt sein.

Florence Gaub ist Vizedirektorin des EU Institute of Security Studies in Paris. Sie forscht vor allem zu internationalen Konflikten und Kriegen. Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 9.4.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München