Putin rational, der Westen irrational?
Das Gleichgewicht der Großmächte, Putins Krieg und die Rolle des Westens
Der Krieg tobt weiter und geht in eine neue Phase über. Weiterhin wird über Putins Gründe für den Überfall auf die Ukraine diskutiert. Mit seinem Vortrag „Why is Ukraine the West‘s fault?“ an der University of Chicago hat der US-Politologe John J. Mearsheimer eine kontroverse Debatte ausgelöst. Seit der Veröffentlichung auf YouTube am 25. September 2015 verzeichnet das Video 26 Millionen Aufrufe. Der Doyen der modernen neorealistischen Theorieschule polarisiert mit seiner Analyse. Inwieweit trifft sie zu?
„Und weil in revolutionären Zeiten die miteinander ringenden Systeme weniger darauf aus sind, ihre Differenzen zu bereinigen, als die Stellung des anderen zu erschüttern, tritt an die Stelle der Diplomatie entweder der Krieg oder das Wettrüsten.“ Realisten wie Henry Kissinger, der das in „Das Gleichgewicht der Großmächte“ schrieb, und Hans Morgenthau wussten um das prekäre Gleichgewicht der Großmächte und die Gefahren.
Kenneth N. Waltz, Begründer des defensiven Neorealismus, versuchte die Problematik mithilfe der Systemstruktur der internationalen Politik zu erläutern. Demnach sei das anarchische Selbsthilfesystem gekennzeichnet durch Staaten mit fixen Sicherheitspräferenzen, die sich in einem immerwährenden Kampf um Macht befinden, um mächtig genug zu sein, Angriffe abzuwehren und ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten (Sicherheitsmaximierer).
In die Tradition des Realismus reiht sich Mearsheimer ein, dessen Werk „The Tragedy of Great Power Politics“ (2001) eine Theorie des „offensiven Neorealismus“ postuliert. Mearsheimers Kernargument ist, dass das Verhalten von Staaten nicht durch die Regierungsart oder die Persönlichkeiten der Staatsführung bestimmt werde, sondern durch die Struktur des internationalen Systems. Staaten gleichen Billardkugeln, die dem internationalen System nicht entfliehen können.
Mearsheimer formuliert fünf Axiome:
Erstens: Das internationale System ist anarchisch („911 problem“ – Es gibt keine den Staaten übergeordnete höhere Macht, die man über eine Notrufnummer zur Rettung anrufen kann, weshalb Staaten zum Machtkampf gezwungen sind).
Zweitens: Großmächte besitzen militärische Fähigkeiten, um andere Staaten einzuschüchtern oder zu zerstören.
Drittens: Staaten zweifeln an den Intentionen anderer Staaten.
Viertens: Das primäre Interesse von Staaten ist das Überleben.
Fünftens: Staaten sind rationale Akteure. Staaten streben primär nach Macht, um ihr Überleben zu garantieren (Machtmaximierer). Das ewige Streben nach Macht sei strukturell angelegt und nicht mit der menschlichen Natur oder innenpolitischen Defekten zu erklären.
Demgemäß behauptet Mearsheimer im Economist, dass die Hauptverantwortlichen für die Krise, die im Februar 2014 begann, der Westen und vor allem die USA seien. Dieser Krieg drohe nicht nur die Ukraine zu vernichten, sondern habe auch das Potenzial zu einem Atomkrieg zwischen Russland und der Nato zu eskalieren. Ausschlaggebend sei der Nato-Gipfel in Bukarest 2008 gewesen, wo die Regierung von George W. Bush Georgien und der Ukraine einen Nato-Beitritt in Aussicht gestellt hatte.
Putin solle Bush seine „rote Linie“ unmissverständlich klar gemacht haben: „Die Ukraine ist überhaupt kein Staat. [...] Wenn die Ukraine der Nato beitritt, wird sie ohne Krim und den Osten auskommen, sie wird einfach auseinanderfallen.“ „Die Nato“, sagte Mearsheimer der Welt, „hat mit dem Feuer gespielt und sich verbrannt.“ Wenn wir nicht bereit seien, die Grundursache des Konflikts zu verstehen, werden wir nicht in der Lage sein, den Krieg zu beenden.
Nato: „Not One Inch“
Putin beruft sich auf ein Versprechen während der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung, wonach der Geltungsbereich oder die militärische Präsenz der Nato keinen Zentimeter nach Osten ausgedehnt werden sollte. Das mantraartig vorgetragene „Versprechen“ muss im Zusammenhang mit Putins eigenem Erleben vom Ende des Sowjetimperiums gelesen werden. Als KGB-Agent in Dresden erfährt er bei einem Telefonat, dass aus Moskau keine Befehle mehr kommen. Er erinnert sich: „Dieses ‚Moskau rührt sich nicht‘ – ich hatte das Gefühl, das Land gibt es nicht mehr. Dass es verschwunden war. Da verstand ich, wie die Sowjetunion dahinsiechte. Es war eine tödliche, unheilbare Krankheit namens Lähmung – Lähmung der Macht.“
WeltTrends
"Ukrainekrieg und globale Spaltung"
Juni 2022, Nr. 188
In der Studie „Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate“ (2021) arbeitet die US-Historikern Mary E. Sarotte heraus, dass es nichts Schriftliches gibt. Das entscheidende Dokument ist der Zwei-plus-vier-Vertrag vom September 1990, mit dem die Wiedervereinigung besiegelt wurde: „In diesem Vertrag steht, dass die Nato Artikel 5, die Beistandsverpflichtung, über die Kalter-Krieg-Linie ausweiten darf – also sprich: auf das Gebiet der DDR ausweiten.“
Die Frage, wie die USA die Sowjetunion überzeugen könne, die deutsche Wiedervereinigung zuzulassen, führte Anfang 1990 jedoch zu mehreren Gesprächen. In einem dieser Gespräche habe US-Außenminister James Baker sinngemäß zu Michail Gorbatschow gesagt: „Was wäre mit dieser hypothetischen Idee: Sie erlauben Deutschland, sich wiederzuvereinigen. Und wir sagen Ihnen: Die Nato bewegt sich keinen Zentimeter Richtung Osten (‚not one inch eastward from its present position‘).“
Gorbatschow willigte ein, darüber zu sprechen. Die Nato-Osterweiterung, argumentiert Sarotte, sei eine legitime Antwort auf die Herausforderungen der 1990er-Jahre und die Beitrittsaspirationen mittel- und osteuropäischer Länder gewesen. Das Problem sei aber die Art und Weise (how it happened). „Gorbatschov and others were led to believe that expansion wouldn’t happen“, gestand der damalige CIA-Direktor Robert Gates laut dem US-Politologen Paul D‘Anieri.
Sicherheitsdilemma: „Perception is reality“
Mearsheimers These verweist auf eine Fehlperzeption Putins, die durch strukturelle Umstände erklärbar ist: Die Dynamik des Sicherheitsdilemmas ist dem US-Politologen John H. Herz („Weltpolitik im Atomzeitalter“) zufolge „eine Sozialkonstellation, die sich ergibt, wenn Machteinheiten nebeneinander bestehen, ohne Normen unterworfen zu sein, die von einer höheren Stelle gesetzt werden und sie daran hindern würden, sich gegenseitig anzugreifen“.
Hinzu kommen die Demokratisierung Osteuropas, die der Westen als natürlich und gutartig betrachtete, während Russland ebenjenen Prozess in der einstigen Einflusssphäre als Bedrohung empfand. Mit der orangen Revolution in der Ukraine 2004 sei die Verschmelzung von Geopolitik und Demokratie nahezu abgeschlossen worden, bemerkt D’Anieri treffend. Dieser Prozess hat den Status quo mehrfach verändert. Bedrohungsszenarien, Ängste und Konflikte waren die Folge. Die innenpolitischen Entwicklungen und Verwerfungen in den USA, in Russland und der Ukraine haben Zugeständnisse und stabile Kooperationsformate unmöglich gemacht.
D’Anieri bringt das Status quo-Dilemma auf den Punkt: Während die Ukraine und der Westen sahen, wie Russland versuchte, den Status quo nach dem Kalten Krieg zu verändern, sah Russland, wie der Westen versuchte, ihn umzugestalten, indem er die NATO nach Osten ausdehnte und „farbige Revolutionen“ gegen die von Russland unterstützten Regierungen förderte. Man hatte nach 1991 gegensätzliche Vorstellungen von der Nachkriegsordnung. Von den drei Akteuren dachte jeder, dass er den Status quo verteidige, während die Veränderungen als Handlungen mit bösartiger Absicht aufgefasst wurden.
Putin und „Geopolitik der Emotionen“
Die Wandlung Putins begann spätestens im Jahr 2007 nach seiner Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz, wo man nicht richtig hinhören wollte. „War es Desinteresse oder Missachtung?“, fragte Horst Teltschick. Es folgten der Georgienkrieg 2008, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der Militäreinsatz in Syrien 2015.
Der französische Politologe Dominique Moïsi hat in seinem Buch „The Geopolitics of Emotion“ (2009) gezeigt, wie Kulturen von Angst, Demütigung und Hoffnung die Welt prägen. Putins Angst vor der Paralyse der Macht (persönlich wie politisch), die Degradierung als Regionalmacht (Obama 2014) und seine imperialen, ideologischen Fantasien kulminieren schließlich in seinem geschichtsrevisionistischen Aufsatz „Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer“ von Juli 2021. Dort behauptet Putin, dass „Russen und Ukrainer ein Volk sind, ein geeintes Ganzes“.
Die heutige Ukraine sei ein „Geschöpf der Sowjetära“ und auf „Kosten des historischen Russlands“ geschaffen worden. Putin beschwört die große russische Nation, „ein dreieiniges Volk, bestehend aus Großrussen, Kleinrussen und Belorussen.“
Putin spricht der Ukraine nicht nur ihre Staatlichkeit ab, sondern sieht sie als „Teil eines imaginierten ‚Anti-Russland-Projekts‘ des Westens, dessen Ziel es sei, die historische Großmachtstellung Moskaus zu unterminieren“, so Jan C. Behrends in der Zeitschrift Osteuropa.
Der Historiker Timothy Snyder identifiziert eine gewisse Verunsicherung: „Wer behauptet, dass seine Nachbarn Brüder sind, weiß nicht, wer er ist, und leidet unter einer Identitätskrise.“ Putins Krieg, so schrieb Snyder am 29. Januar 2022 im Spiegel, folge der Logik: „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein.“
„Empire of Lies“ und die Fehler des Westens
In seiner Kriegserklärung titulierte Putin den Westen mehrmals als ein „Imperium der Lügen“ und kritisierte die westlichen Interventionen und die katastrophalen Folgen für den Nahen und Mittleren Osten. Gemeint sind: Der Kosovokrieg 1999 ohne UN-Mandat, der Afghanistan-Einsatz 2001 (der chaotische Abzug 2021 und die Rückkehr der Taliban), der völkerrechtswidrige Irakkrieg 2003 und der Militäreinsatz in Libyen 2011 (UN-Mandat überdehnt).
Letzterer hat Putin sichtlich erregt. Er spielte häufig das grausame Filmmaterial von Gaddafi ab, wie er in einem Abflussrohr gefangen genommen und zu Tode geprügelt wurde. Daraus zog er die Lektion: Als Paria hatte Gaddafi seine Interessen besser vertreten können; erst als er sich dem Westen geöffnet hatte, waren sie hinter ihm her.
Der „Arabische Frühling“ und die „Farbrevolutionen“ sieht Putin als von ausländischen Mächten unterwanderte Bewegungen. Putins Paranoia verkennt jedoch, dass der ideelle Expansionsdrang den Demokratien inhärent ist (soft power) und nicht zwangsläufig von ausländischen Mächten „gesteuert“ wird.
Jeder Krieg hat verschiedene Ursachen, Methoden, Ziele, eine eigene machtpolitische Grammatik und Logik. Putins Relativierung eigener Kriegsverbrechen durch den Verweis auf den „dekadenten und heuchlerischen“ Westen ist offensichtlich.
Die kritische Aufarbeitung dieser Kriegseinsätze, die Fähigkeit zur Selbstkorrektur ist eine Stärke von Demokratien. Trotzdem hat die Glaubwürdigkeit des Westens Schaden genommen. In den Worten des New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman: „This is Putin‘s War. But America and Nato Aren‘t Innocent Bystanders.“
Fazit: Putin als Sicherheitsmaximierer
Der anvisierte regime change in Kiew und die Installierung einer prorussischen Regierung ist gescheitert. Dem US-Militärexperten Michael Kofman zufolge hat das russische Militär 15 bis 20 Prozent seiner Panzer und schweren gepanzerten Kampffahrzeuge, gemessen an seinen gesamten aktiven Streitkräften, verloren.
EU und Nato demonstrieren Geschlossenheit. Die Nato-Ostflanke wird erheblich verstärkt, ein Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands wird wahrscheinlicher und die USA meldet sich als Führungsmacht des totgeglaubten Westens zurück. Russland hat sich China als Juniorpartner untergeordnet. Putin hat sich in vielerlei Hinsicht verschätzt und die Kampfkraft der ukrainischen Bevölkerung unterschätzt. Putin ist ein „irrational Rationaler“, der Metaphysik und Geopolitik propagandistisch verknüpft.
Folglich erweisen sich Mearsheimers Annahmen, dass Staaten rational agieren, innenpolitische Entwicklungen und polit-psychologische Dispositionen hingegen keine Rolle spielen, als falsch. Die Nato-Expansion, insbesondere die russische Perzeption und Auslegung von Einkreisungsängsten, Putins Geschichtsrevisionismus, postimperialer Phantomschmerz und diverse Demütigungen sind Faktoren, die in ihrer Kombination Putin zum Krieg bewogen haben.
Des Weiteren deckt sich Mearsheimers These nicht mit allen Axiomen des „offensiven Realismus“, sondern steht eher im Einklang mit dem „defensiven Realismus“, wonach Russland als Sicherheitsmaximierer agiert, um das Überleben zu sichern. Es sei, wie Putin sagte, „eine Frage von Leben und Tod, eine Frage unserer historischen Zukunft als Nation“. Jedoch ist der „neoklassische Realismus“ (Gideon Rose), dem D’Anieri und die vorangehende Analyse folgen, besser geeignet, um den Konflikt zu erklären.
Trotz der schleppenden Kriegsführung und der hohen Verluste kontrolliert Putin die Eskalationsdominanz. Er entscheidet, wie der Konflikt auf dem europäischen Kontinent weitergeht.
Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen ist ernst zu nehmen. Mit dem „nuklearen Tabu“ (Nina Tannenwald) hat Putin öffentlichkeitswirksam mehrmals zu brechen gedroht.
Die Anwendung von Gewalt hängt von Räumen und Umständen, von Situationen und ihren Möglichkeiten ab. Ivan Krastev erinnerte in dem SZ-Beitrag „Mächtig ist, wer Schmerz erträgt“ an den Resilienztest, dem wir gegenwärtig ausgesetzt sind und zitiert ein russisches Sprichwort: „Wenn du einen Bären zum Tanzen aufforderst, entscheidest nicht du, wann der Tanz zu Ende ist. Das entscheidet der Bär.“
Um den Krieg zu beenden, ergo dem Bären Einhalt zu gebieten, sind die Spielarten des Realismus bei der Analyse des Konflikts unentbehrlich. Demnach sind die beteiligten Akteure in diesem Konflikt auch keine „Schlafwandler“ wie vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, sondern hochtechnisierte und gerüstete „Zocker“ (Sönke Neitzel) mitten im Atomzeitalter.