Putin nimmt Wissenschaft an die Kandare
Wie das Regime versucht, an Russlands Hochschulen einen neuen Totalitarismus zu etablieren
Im September beginnt in Russland das neue Studienjahr – im Zeichen patriotischer Erziehung. Unmittelbar nach der russischen Invasion in die Ukraine folgte eine bis heute anhaltende Flut von Reformen und Repressalien, welche die Lehrpraxis an den Hochschulen auf Linie bringen sollen. Studenten und Lehrkräfte werden systematisch auf staatstreuen Propagandismus eingeschworen, mit Drohgebärden eingeschüchtert und bei Widerstand ausgeschlossen oder verhaftet.
Im vergangenen Herbst erregte in Moskau die Verhaftung des Rektors der angesehenen Shanin-Universität, Sergej Sujew, Aufsehen: Er wurde beschuldigt, sich mit der ehemaligen stellvertretenden Bildungsministerin Marina Rakowa zur Veruntreuung von Staatsgeldern verabredet zu haben. Der herzkranke Sujew, der in Haft und sogar mitten im Prozess immer wieder notärztlich behandelt werden musste, weigerte sich bis zuletzt, gegen Rakowa und weitere vermeintliche Komplizen auszusagen.
Anfang August legte er jedoch ein Geständnis ab – so bezeichnen es zumindest die Behörden; einen Tag später war auch Rakowa geständig. Rakowa schien die eigentliche Zielscheibe der Behörden gewesen zu sein, weil sie die Monopolisierung des regierungsnahen, milliardenschweren Lehrmittelverlags „Aufklärung“ behindert hatte.
Dennoch wurde die Festnahme Sujews in der Öffentlichkeit als symbolischer Auftakt eines aufziehenden Sturms auf liberale Lehrkräfte und Bildungsinstitutionen wahrgenommen. Tatsächlich ermittelte die Staatsanwaltschaft nicht nur gegen Sujew persönlich, sondern zugleich auch gegen das seiner Leitung unterstehende Studienprogramm Liberal Arts – dieses befördere, so der Vorwurf, die „Zerstörung traditioneller Werte“. Im April wurde das Programm umgetauft und zum Juli hin gänzlich liquidiert.
Die Jugend zum Patriotismus erziehen
Insofern markierte die Festnahme Sujews den Beginn einer offensiven antiliberalen Agenda, in deren Zuge die Hochschullehre immer strikter auf Regimetreue und Patriotismus eingeschworen werden soll. Bezeichnend ist dabei eine Stellungnahme, welche der Russländische Rektorenverband kurz nach Kriegsbeginn lanciert hatte: „Die wichtigste Pflicht“, heißt es hier, bestehe nun darin, „den Lehrprozess weiterzuführen und die Jugend zum Patriotismus und zur Stützung des Vaterlands zu erziehen“. Diese Erklärung haben mehr als 250 von insgesamt siebenhundert Verbandsmitgliedern unterzeichnet, darunter die Rektoren der wichtigsten russischen Universitäten.
Als Reaktion auf die Veröffentlichung der Stellungnahme wurden die meisten russischen Hochschulen Anfang April aus dem Bologna-Verbund ausgeschlossen. Freilich war das russische Bildungsministerium dieser Entscheidung zuvorgekommen. Schon im Mai hieß es, man wolle aus Bologna aussteigen. Die westlichen Lehrpraktiken, so die Begründung, dürfe man nicht blind kopieren.
Freilich: Die Angaben darüber, wie genau die bestehenden universitären Curricula nun umgestaltet werden müssen, sind widersprüchlich, obwohl das neue Bildungssystem zumindest teilweise schon zum Wintersemester 2023 eingeführt werden soll. Offenbar ist eine modifizierende Rückkehr zum einstufigen sowjetischen Bildungssystem geplant, was zu Recht auf Unmut stößt.
Der Bildungs- und Wissenschaftsminister Valeri Falkow ließ jedenfalls verlauten, es gehe dabei um eine Modernisierung, nicht um eine Isolation des russischen Bildungssystems, und Falkows Stellvertreter mokierte sich sogar: „Nicht wir sind aus dem Bologna-System ausgetreten, sondern das Bologna-System aus uns.“ Dies ist ein glänzendes Beispiel solcher demagogischer Rhetorik, die jede Art von Sanktionierung und Ausschluss zur Heroisierung russischer Autonomie umzumünzen weiß.
Das freie, weltoffene Russland
In ähnlicher Weise konstruiert die russische Propaganda eine Antithese von unfreiem, ideologisiertem, russophobem Westen und dem freien, ja sogar weltoffenen Russland: Während russische Studenten im Westen zwangsexmatrikuliert und drangsaliert würden, seien die russischen Universitäten nach wie vor für alle Nationalitäten offen.
In Wahrheit sind bislang keine nachweisbaren Ausschlüsse russischer Studenten seitens westlicher Lehreinrichtungen bekannt; umgekehrt wächst unter Studenten russländischer Hochschulen angesichts der zunehmenden Isolation der Wunsch, im Ausland zu studieren. Neben aufenthaltsrechtlichen und reisetechnischen Problemen wird dies allerdings auch dadurch erschwert, dass die internationale Lizenzierung von Fremdsprachenkenntnissen – beispielshalber nach TOEFL und IELTS – in Russland ebenfalls kaum mehr möglich ist.
Diese Abschottungsstrategie setzt sich im Wissenschaftsbetrieb fort: Auslandsreisen von wissenschaftlichen Angestellten werden künftig streng überwacht, jeder Kontakt mit ausländischen Kollegen soll möglichst nicht unter vier Augen stattfinden, den Vorgesetzten im Voraus gemeldet und anschließend in einem Bericht erfasst werden.
Zugleich hat Russland wie in anderen, so auch im wissenschaftlichen Sektor einen enormen Brain Drain zu gewärtigen. Schon in den Vorjahren war die Auswanderungsrate des akademischen Personals rapide angestiegen, auf zigtausend jährlich.
Obwohl noch keine Daten darüber vorliegen, wie viele Hochschulmitarbeiter das Land seit Kriegsbeginn verlassen haben, dürfte deren Zahl enorm sein. Darauf wirken sich nicht nur die bildungspolitischen Umwälzungen und zensorischen Repressalien aus, sondern auch die westlichen Sanktionen: So wurde etwa die internationale Datenbank für Bibliometrie und Literaturrecherche „Web of Science“ für wissenschaftliche Einrichtungen in Russland gesperrt; auch westliche Zeitschriften und Verlage, darunter die Riesen Elsevier und Springer Nature, stellten die Kooperation mit russischen Institutionen ein.
Wissenschaft als Zuarbeiterin des Staats
All dies sind weitere Steine in jener Mauer, welche den russländischen Wissenschafts- und Lehrbetrieb von der westlichen Welt abschirmen und ihn noch stärker provinzialisieren und marginalisieren wird, als es ohnehin schon der Fall ist. Ob ein Ausbau der Beziehungen zu chinesischen Universitäten, wie ihn Russland nun betreiben will, Abhilfe schaffen kann, bleibt fraglich.
Ohnehin soll die russländische Wissenschaft aber mehr und mehr zu einer fleißigen Zuarbeiterin staatlicher Bedarfe werden: So möchte das Wissenschaftsministerium, dass Projekte im Bereich der Grundlagenforschung in Zukunft von politischen Verantwortlichen geprüft werden, um – wieder Minister Falkow – „den Prioritäten der ökonomischen Entwicklung unter Sanktionsbedingungen“ gerecht zu werden. In anderen Worten: Man zielt auf den Ersatz von Importgütern und -dienstleistungen, welche der Wirtschaft nunmehr fehlen.
Dabei handelt es sich noch um eine der leichteren Wellen in einer Flut reaktionärer Ideologisierung, welche seit Kriegsbeginn die russischen Bildungseinrichtungen überrollt. Eine weitere Weisung des Ministeriums legt Hochschulen außerplanmäßige Vorlesungen nahe, in denen die Legitimation des russischen Invasionskriegs zu begründen ist, wofür auch gleich entsprechende Lehrvorlagen mitgeliefert werden: Beispielshalber, wird hier vorgeschlagen, mögen die Lehrkräfte im Seminar den Begriff „Genozid“ diskutieren – mit der anschließenden Suggestivfrage: „Warum ist dieser Begriff auf den Donbass anwendbar?“
Die Staatspropaganda behauptet, der Schusswechsel der ukrainischen Truppen mit den Separatisten der Volksrepubliken nach 2014, bei dem auch Zivilisten starben, sei ein „Genozid“ gewesen. Da selbst regierungstreue oder opportunistische Geistes- und Sozialwissenschaftler sich schon um ihrer Berufsehre willen zumeist nicht in derart plumper Weise instrumentalisieren lassen wollen, dozieren dabei vielfach patriotisch gesinnte Fachfremde – an der Pädagogischen Universität von Jaroslawl etwa die Botanikerin Natalja Iwanowa über die Geschichte des Nazismus.
Politiker und FSB-Mitarbeiter als Dozenten
An einigen Hochschulen wie der Moskauer Universität für Recht und Finanzen halten auch Politiker Referate, worin sie etwa erklären, die Ukraine sei ein Teil Russlands, das Ukrainische ein russischer Dialekt, von Ukrainern gehe eine nationalistische – oder gar biochemische – Bedrohung für die ganze Welt aus. In der Republik Mari El wurde inzwischen sogar ein neues ideologisches Hochschulfach mit dem Titel „Historische Gerechtigkeit und die Rolle Russlands“ eingeführt. Vielerorts werden Studenten zu Vorlesungen mit dem sinistren Titel „Geopolitische Aufklärung“ versammelt.
Tatsächlich imitieren die entsprechenden Lehrprogramme einen aufklärerischen Duktus – man müsse fabrizierten Bildern und Fake-Nachrichten misstrauen, Informationen aus dem Internet stets überprüfen, ja sogar „sich seines eigenen Verstandes bedienen“, heißt es da immer wieder. Was dies konkret bedeutet, wird jedoch eindeutig vorgegeben: Bei der Faktenprüfung seien ausschließlich die offiziellen Quellen zu konsultieren – also die staatlichen Medien und die Verlautbarungen des Verteidigungsministeriums.
Die Grundlage solcher Maßnahmen bilden Erhebungen, in denen man Studenten zu ihrer Einstellung gegenüber der russischen Invasion befragt, vermutlich um zu eruieren, wie massiv die jeweilige Gruppe eingeschüchtert werden muss. In der Folge werden – besonders häufig auf der Krim – Lehrveranstaltungen abgehalten, die ihrer Natur nach Drohungen sind: Darin wird von der Teilnahme an Protestaktionen „gewarnt“, indem deren juristische Konsequenzen in aller Ausführlichkeit dargestellt werden.
Solche „Vorlesungen“ werden mitunter auch von Mitarbeitern des FSB, des russischen Inlandsgeheimdienstes, geleitet. Ähnliche warnende Rechtsbelehrungen erhalten Studenten in ganz Russland auch über hochschulinterne Rundmails, Gruppenchats und Aushänge.
Die Teilnahme an patriotischen und bellizistischen Aktionen wird umgekehrt entweder akademisch gratifiziert – oder gleich zur Pflichtveranstaltung. Wer nicht erscheint, hat mit Folgen zu rechnen, bis hin zur Einstellung von Stipendienzahlungen.
Das Denunziantentum blüht
Zu neuer Blüte gelangt in diesem Zusammenhang auch das Denunziantentum: Hochoffiziell werden Studenten dazu aufgerufen, Dozenten und Kommilitonen mit abweichenden Meinungen anzuschwärzen; regimekritische Äußerungen werden in denunziatorischen Internetforen an den Pranger gestellt.
Berüchtigt ist ein Gruppenchat von Absolventen des Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen, in dem dessen liberal gesinnte Studenten und Dozenten exponiert, auf übelste Art beschimpft und mittels Offenlegung ihrer privaten Daten zum – mindestens digitalen – Abschuss freigegeben werden. Im heutigen Russland erscheint es kaum noch paradox, dass dieser Chat, in dem die Ukraine ausschließlich „Drittes Reich der Schweine“ genannt wird, sich ausgerechnet im Dunstkreis einer Diplomatenhochschule etabliert hat.
Auch wenn sich die Hochschulleitung von den Betreibern distanziert, finden sich dort immer wieder Aufrufe, die jeweils bloßgestellten „Liberal-Nazis“ und „Lokalvertreter des Ukrainischen Nazismus“ zu exmatrikulieren oder zu entlassen: So wird das Foto einer blau-gelben Torte, gepostet von einer Studentin, mit dem rhetorisch fragenden Kommentar geteilt, warum denn dieses „Viech“ noch an der Hochschule studieren dürfe und wo das Rektorat seine Augen habe.
Man muss nicht sonderlich pessimistisch sein, um zu mutmaßen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese Forderungen auf die eine oder andere Weise auch auf offizieller Seite Wirkung zeigen. Wie die Initiatoren selbst betonen, schaffen sie eine Datenbank, „auf deren Grundlage hoffentlich die zuständigen Behörden arbeiten werden“.
Wer an Protestaktionen teilnimmt, kann sich nach einem Gerichtsverfahren seiner Exmatrikulation sicher sein, bisweilen folgt sogleich auch die Einberufung zum Militärdienst. Die Universitäten üben in vorauseilendem Gehorsam öfter Selbstjustiz und bestellen ihre abtrünnigen Studenten noch vor etwaigen gerichtlichen Urteilen zu „Erziehungsgesprächen“ ein, verpflichten sie, Erklärungsschreiben zu verfassen und ihre politische Haltung zu revidieren.
Selbst die Kleidung kann dabei zum Verhängnis werden – so tadelte die Moskauer Linguistische Hochschule ihren Studenten wegen seines Hoodies mit Logo des oppositionellen, inzwischen aus Russland vertriebenen Fernsehsenders Doschd. An der Kasaner Universität wurde eine Studentin beim Betreten des Gebäudes vom Sicherheitspersonal festgenommen – wegen einer grünen Schleife an ihrer Handtasche, in Russland Teil der neuen Widerstandssymbolik (Grün steht für die Mischung der Farben der ukrainischen Fahne: Gelb und Blau).
Viele Wissenschaftler gegen Putins Politik
All dies lässt die Rückkehr zu den schlimmsten denunziatorischen und doktrinären Praktiken der Sowjetzeit befürchten – unter technologisch perfektionierten Bedingungen. Hoffnung macht immerhin, dass selbst angesichts unvermeidlicher Repressalien die Zahl jener Hochschulangehöriger, die sich mehr oder minder offen zum Widerstand bekennen, keinesfalls gering ist – von Studenten bis hin zu Rektoren. So kann man gegenüber der anfangs zitierten Stellungnahme des Rektorenverbands die zahlreichen Aufrufe in die Waagschale werfen, die Tausende Studenten, Dozenten und Akademiemitglieder unterzeichneten, darunter einige der prominentesten russischen Wissenschaftler wie der Nobelpreisträger in Physik Konstantin Novoselov.
Nicht wenige weigern sich, propagandistische Vorlesungen abzuhalten oder daran teilzunehmen. Ohnehin scheinen die meisten Studenten der ideologisch eingetrübten Lehre kein Vertrauen zu schenken. Und: Mehr als neunzig Prozent aller russischen Wissenschaftler lehnen einer Erhebung zufolge Putins Kriegspolitik ab – sie bilden damit die Berufsgruppe mit dem bei Weitem größten Anteil an Regimekritikern. Es lohnt sich für den Westen, den Kontakt zu diesen politischen und akademischen Verbündeten nicht abbrechen zu lassen.
Der in Moskau geborene Autor ist Schriftsteller und Dozent für deutsche Literatur. Er wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren und lebt heute in der Schweiz. 2020 erschien sein „Handwörterbuch der russischen Seele“. Dieser Beitrag ist ursprünglich in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, der Text auch auf KARENINA zu veröffentlichen.