Forschungsaustausch statt Isolation

Die EU denkt über die EU-Russland-Beziehungen und eine strategische Neujustierung nach

Studis shutterstock daseugen Zuschnitt | Nachrichten über Russland
Miteinander lernen und forschen statt Ausgrenzung: Die EU will die Kraft der Wissenschaftsdiplomatie nutzen.

Es ist jetzt mehr als vier Wochen her, seit sich die Staatspräsidenten Amerikas und Russlands in Genf trafen. Think Tanks in Brüssel fragen sich mittlerweile: Was kam dabei heraus? Spielte die EU überhaupt eine Rolle? Und falls das der Fall ist: Wie kann sie sich im Spiel zwischen den Supermächten halten?

Unterschiedlicher könnten die Antworten aus Moskau, Washington und Brüssel nicht sein, wie sich bei einem Workshop des European Policy Centers (EPC) kürzlich zeigte: Während Alina Polyakova, Präsidentin des US-amerikanischen Center for European Policy Analysis eher frustriert eine „PR Show“ bilanzierte, sah der Moskauer Journalist Fjodor Lukjanow, Chefredakteur von Russia in Global Affairs, das Treffen als „Start des Nachdenkens“ über ein „neues Regelbuch in einer Atmosphäre des neuen Kalten Kriegs“.

Einig waren sich die Beobachter allerdings schnell, dass die EU in diesem strategischen Dialog überhaupt keine Rolle mehr spielt. Aus Sicht Russlands kommt sie allenfalls im „Rucksack der Amerikaner“ daher.

Kein Zufall, dass sich just am Tag des Spitzentreffens auch der Hohe EU-Außenbeauftragte Josip Borrell mit einem Russlandthema von Brüssel aus vor die TV-Kameras setzte, mit einem Report über die künftigen EU-Russland-Beziehungen, der als Blaupause für eine strategische Neujustierung des europäischen Staatenbunds gegenüber dem großen Nachbarn im Osten gilt – im Zeichen der „strategischen Autonomie der EU“, so eine Lieblingsformel Brüsseler Diplomaten derzeit.

„Wir müssen davon wegkommen, immer nur auf Russland zu reagieren“, sagt ein deutscher Top-Diplomat. Er sei das ewige Hin und Her um immer neue, mehr oder weniger wirksame Sanktionen leid. „Stattdessen wollen wir unser Verhältnis proaktiv gestalten.“ Es gelte, erst einmal die EU-Interessen gegenüber Russland zu definieren.

Jugend und Forschung fördern

Erste Leitlinien dazu liefert das Borrell-Papier: Neben bekannten roten Linien in Sicherheits-, Demokratie- und Menschenrechtsfragen sowie neuen Sanktionsprinzipien sieht es ein viel stärkeres Engagement vor –  auch mit der Zivilgesellschaft. Viel mehr sei möglich bei der Förderung der Mobilität junger Leute durch Visaerleichterungen, so ein Vorschlag Borrells. Und: „Im Bereich der Forschungskooperation und des Studentenaustauschs über Erasmus tun wir nicht genug. Wir müssen mehr Reisen, Studien und Stipendien fördern.“

Tatsächlich ist die Forschungskooperation mit Russland, die auf jahrhundertealte Traditionen mit Westeuropa zurückblickt, weit hinter ihre Möglichkeiten gefallen. Vom Anspruch her gibt sich die EU in Forschungsdingen „open to the world“. Sie fördert neben den Wissenschaftlern der EU-Mitgliedsländer auch jene von Assoziationspartnern wie Israel oder (bislang) die Schweiz. Aber auch jedes andere Land, das ein Kooperationsabkommen abschließen kann und Kofinanzierung zur Verfügung stellt, kann sich nach diversen Schemata an den Projekten der milliardenschweren EU-Forschungsrahmenprogramme beteiligen.

Russland war seit 2000 dabei. Die Förderung wurde zwischen 2007 und 2014 erheblich ausgebaut, vor allem in den Naturwissenschaften, aber auch in Forschungen über Geschichte, Geostrategie und Politik. In Schwung kamen Austauschprogramme wie Erasmus für Studenten oder Marie-Skłodowska-Curie-Stipendien für Nachwuchswissenschaftler, die Post-Docs. Neben exzellenten Ergebnissen geht es der EU auch um die „Wünschbarkeit der Kontakte von Mensch zu Mensch“, so ein Papier zum „globalen Forschungsansatz“.

Russland: Aschenputtel der akademischen Community

Gleichzeitig hat die russische Regierung ihre Forschungsausgaben ständig erhöht, bis auf ein Prozent des BIP. Damit liegt das Land bei den jährlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung zwischen dem Vereinigten Königreich und Italien auf dem zehnten Rang im weltweiten Ranking. Spätestens seit dem Erfolg des Covid-Impfstoffs „Sputnik V“ weiß die Welt auch, dass sie mit den Laboren Russlands rechnen muss.

Doch die EU-Politik gibt sich blind. Nach der Annexion der Krim fror sie nicht nur die vielfältigen politischen Austauschformate ein, auch die russische Forschergemeinde wurde regelrecht isoliert. Man lässt büßen: So sind akademische Einrichtungen auf der Krim und in Sewastopol seit 2014 aus der EU-Förderung gänzlich ausgeschlossen. Kooperationen in sensiblen Technologiebereichen werden nicht mehr gefördert und europäische Ingenieure und Wissenschaftler denken nicht mehr daran, russische Kollegen in die Projektgruppen einzuladen, weil dies die Erfolgsaussichten vor den Evaluierungsgremien schmälert.

Russische Grundlagenforscher wie teilweise auch Nachwuchswissenschaftler können sich um EU-Mittel und Stipendien nur bewerben, wenn sie an westlichen akademischen Einrichtungen forschen. Teilnahme an multilateralen Projektkollaborationen ist für russische Institute schon gar nicht mehr möglich. Russland ist zum Aschenputtel der internationalen akademischen Community geworden, die sich ihrer weltweiten Vernetzung und ihrer offenen Standards rühmt.

Die Kraft der Wissenschaftsdiplomatie

Anders als chinesische Institute, akademische Einrichtungen und Unternehmen aus China, die Zugang zur ganzen Bandbreite der EU-Programme haben (zwischen 2016 und 2018 kofinanziert mit 500 Millionen Euro von der EU, von China mit einer Milliarde Renminbi), belief sich die EU-Förderung für russische Wissenschaftler und Hochschulen in den vergangenen sechs Jahren lediglich auf 14,3 Millionen Euro, mit 47,6 Millionen Euro von der russischen Seite gegenfinanziert.

Dabei weiß man im Westen um die Kraft der Wissenschaftsdiplomatie: „Auch in schwierigen Zeiten arbeiten die Forscher weiterhin erfolgreich zusammen. Wissenschaft und Ausbildung sind jene Bereiche, in denen wir Brücken bilden können, unabhängig von der politischen Situation.“ Das betonte 2018 der frühere Präsident des Europäischen Research Council (ERC), Jean-Pierre Bourguignon, beim Jahrestreffen des Global Research Council, dem Forum der Chefs der größten Wissenschaftsorganisationen der Welt, in Moskau.

Immerhin: Intern regte sich bei den EU-Institutionen Protest gegen die blindwütige Ausgrenzung. Verschiedene Gremien erinnerten an europäische Usancen der „soft diplomacy“, die mit Schecks weltweit Gutes tut, wo die Machtpolitik versagt. Zur Schadensbehebung wurden vor drei Jahren die Mittel für die EU-Russlandforschung etwas aufgestockt. Das Europäische Parlament erneuerte die EU-Russland-Wissenschaftskooperation – 2000 erstmals geschlossen – um weitere fünf Jahre. Im Bereich der großen internationalen Infrastrukturen wie auch im Bereich der Gesundheitsforschung, insbesondere der Seuchenbekämpfung, haben sich zwischen EU und dem russischen Wissenschaftsministerium seit 2019 neue gemeinsame Projekte angebahnt.

Doch die Förderung von Top-Talenten mit „ERC grants“ und Doktoranden-Trainings beschränkte sich in den vergangenen sechs Jahren auf insgesamt 134 Projekte unter Beteiligung von 206 russischen Einrichtungen. Immerhin erhielten die russischen Antragsteller durchschnittlich 1,7 Millionen Euro pro erfolgreichem Projekt. Bedingung: Es musste an westliche Einrichtungen geknüpft sein.

520 Nachwuchswissenschaftler, unter anderem von der Moskauer Lomonossow Universität, der Petersburger Staatlichen Universität für Informationstechnologien, Mechanik und Optik (ITMO), der Staatlichen Universität Nowosibirsk und der Nationalen ökonomischen Forschungsuniversität konnten über das Marie-Curie-Programm an Trainings und Reisen teilnehmen, verbunden mit dem Austausch wissenschaftlicher Mitarbeiter. Deutschland ist neben Großbritannien ihre Top-Destination.

Durch Akademikeraustausch Isolation überwinden

Sehen lassen kann sich durchaus auch die Studentenförderung und der Austausch in Netzwerken von Hochschullehrern beim Programm Erasmus+, einer EU-Erfolgsgeschichte der Studienförderung, dank der jährlich 300 000 Studenten für ein Semester in andere Länder gehen. Zwischen 2015 und 2018 ergatterten immerhin 1200 russische Studenten einen Erasmus-Platz an einer Hochschule in der EU.

Umgekehrt kamen fast 800 Studenten aus West- und Osteuropa für ein Semester an eine russische Universität. Zudem nahmen mehr als 2000 Hochschul-Mitarbeiter an Austauschprogrammen für wissenschaftliches Personal teil – zur Auffrischung von Sprach- und Computerkenntnissen, zum Austausch über Umweltschutz, Managementtechniken, Qualität der Didaktik oder Kommunikationsprogramme für die akademischen Einrichtungen.

Die russische Seite ist voll des Lobs: Mit diesen Kapazitätsbildungsprojekten „überwinden wir die Isolation“ heißt es verschämt in einem Evaluierungs-Bericht des EU-Erasmus-Büros in Moskau. Immerhin ist künftig an die Ausweitung des Austauschs bei der Berufsbildung sowie an mehr virtuelle Trainings gedacht. Und während die Aktivitäten des russischen Erasmus-Büros in den Covid-Monaten kaum vernehmbar waren, ließ es sich das Moskauer Büro der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG nicht nehmen, mit einem munteren Online-Programm die Kontakte zur russischen Science Community zu pflegen.

Der Austausch dient durchaus auch zur Weitung westlicher Horizonte, wie ein Blick auf die Forschungsthemen in den EU-Projekten mit russischer Beteiligung zeigt: Da wird etwa gemeinsam mit der Universität Stuttgart über elektrische Hybridantriebe in der Luftfahrt geforscht, russische Austauschforscher in Oxford studieren die historisch-revolutionären Museen in Petrograd-Leningrad; sowjetrussische Designobjekte zwischen 1953 und 1991 sind genauso ein Thema wie der interkulturelle Vergleich von gesellschaftlichen Einstellungen zu alleinstehenden Müttern in Russland und England oder die Untersuchung unterschiedlicher Entwicklungen der „arktischen Imperien“ Dänemark und Russland sowie eine Reihe von Studien über internationale Strategieforschung.

Klimawandel, Energiefragen, Arktis-Kooperation, Friedensentwicklung im Nahen Osten und Russlands strategische Rolle im Weltsicherheitsrat seien Themen, mit denen die EU „konditionslos“ mit dem großen Nachbarn im Osten zusammenarbeiten müsse, bekräftigt der EU-Außenbeauftrage Borrell im Gespräch. „Wenn wir über Reisestipendien und Studienaufenthalte mehr junge russische Mitbürger nach Europa einladen, dann lernen sie auch unseren ‚way of life‘ kennen“, fügt er nicht ohne Hintergedanken hinzu.

Besser wäre freilich, er würde von gegenseitigem Lernen und wechselseitigem Profitieren sprechen. So begegnen sich Partner auf Augenhöhe.

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