Die Neuordnung der Elemente
Zwei russische Chemiker haben das Periodensystem völlig umgekrempelt. Wozu dient das?
Chemiker lieben die Ordnung, wenn es um das Fundament ihrer Disziplin geht. Schon seit 151 Jahren sind alle bekannten chemischen Elemente entsprechend der Ladungszahl des jeweiligen Atomkerns (Ordnungszahl) und ihrer chemischen Eigenschaften in einer zweidimensionalen tabellarischen Übersicht aufgelistet. Die Zeilenumbrüche sind so gewählt, dass Elemente, die sich aufgrund ihrer Elektronenstruktur chemisch ähnlich verhalten, untereinander stehen und so eine Gruppe bilden. Doch wählt man andere Ordnungsparameter, könnten andere Darstellungen zweckmäßiger sein, weshalb einige Chemiker schon länger nach Alternativen zum klassischen Periodensystem suchen.
Zwei russische Wissenschaftler, Zahed Allahyari und Artem R. Oganov vom Skolkovo-Institut für Wissenschaft und Technologie in Moskau, präsentieren nun im Journal of Physical Chemistry ein eindimensionales Ordnungsschema. In der Liste werden die chemischen Elemente gemäß ihrer „Ähnlichkeit“ in Bezug auf den Atomradius und der Elektronegativität nacheinander aufgereiht. Die Position eines Elements in der Liste wird als Mendelejew-Zahl (kurz MN für Mendeleev Number) bezeichnet. Die Bezeichnung wurde in Anlehnung an einen der Mitbegründer des klassischen Periodensystems, Dmitri Mendelejew, gewählt.
Neue Materialien leichter aufspüren
Auf Grundlage dieser Systematik ließen sich neue Materialien mit nützlichen Eigenschaften wie Härte oder magnetischem Verhalten viel einfacher identifizieren, schreiben die Forscher. Zu diesem Zweck überführten sie ihre eindimensionale Liste in ein Diagramm, in dem die Mendelejew-Zahl auf jeder Achse aufgetragen ist. Damit schufen sie einen zweidimensionalen Raum für Verbindungen aus zwei verschiedenen Elementen.
In diesem zweidimensionalen Schema nehmen Verbindungen mit ähnlichen Eigenschaften benachbarte Plätze ein. Mehrere benachbarte Verbindungen formen wiederum Cluster aus chemisch ähnlichen Materialien. Der Vorteil dieses Ordnungsprinzips: Man könnte gezielt nach bislang unbekannten Verbindungen mit bestimmten Eigenschaftsprofilen fahnden und diese identifizieren, schreiben die Forscher. Außerdem würden die Cluster auf Charakteristika und Gemeinsamkeiten von Verbindungen hinweisen, die man näher erforschen könnte.
Das Ordnungskonzept auf Grundlage der Mendelejew-Zahl ist nicht neu. Vorgeschlagen hatte es bereits der englische Chemiker David Pettifor im Jahr 1984. Es erwies sich aber als überaus schwierig, die Elementeigenschaften auf eine geeignete Art zu definieren. Jedem Element musste Pettifor einen festen Zahlenwert zuordnen, der die Position des Elements in der Liste bestimmt.
Ist Wasserstoff ein Halogen?
Eine Möglichkeit wäre es, die Mendelejew-Zahlen auf Basis der Anzahl der Valenzelektronen eines Atoms (Elektronen in den äußersten Schalen, die an den Bindungen mit anderen Atomen beteiligt sind) oder der Kristallstruktur festzulegen, die Festkörper dieser Elemente bilden. Solche Ansätze sind allerdings nicht eindeutig, da etwa die Zahl der Valenzelektronen in Abhängigkeit vom Zustand eines Elements variieren kann.
Allahyari und Oganov haben daher einen anderen Weg gewählt. Sie zogen zur Definition der Mendelejew-Zahl universelle Eigenschaften eines Elements heran. Für die Forscher kämen der Atomradius, die Elektronegativität oder die Polarisierbarkeit in Frage. Da Letztere stark voneinander abhängen, haben sie sich für die Elektronegativität und den Atomradius entschieden.
Der Atomradius ist allerdings auch keine eindeutige Größe. Er variiert etwa mit der Art der Bindung, mit der das Atom an ein weiteres gekoppelt ist. Die Forscher definierten den Wert des Radius für eine ganz bestimmte Elementkonfiguration, und zwar für die sogenannte primitive kubische Struktur, bei der sich an den Ecken der würfelförmigen Elementarzelle jeweils ein Atom des Elements befindet. Die universale Sequenz der Elemente ergab sich schließlich aus ihrer Reihenfolge auf einer Regressionsgeraden in einem Graphen, wo Elektronegativität gegen Atomradius aufgetragen ist.
Wasserstoff findet sich beispielsweise relativ weit hinten in der Liste auf Position 90 vor Neon (91) und Helium (92). „Unsere Mendelejew-Zahl ist nicht empirisch und sollte für jede Art von Daten gleich gut funktionieren“, schreibt Oganov auf der Website Chemistry World der Royal Society of Chemistry.
Ähnlichkeitsinseln
Um schließlich ihre Definition des Ordnungsparameters im Vergleich zu früheren Versionen zu beurteilen, sammelten die Chemiker vielfältige Materialeigenschaften – darunter Härte, Magnetisierung und Kristallstruktur – von knapp 1600 binären Verbindungen und 80 Elementen. Mit diesen Informationen ausgestattet überprüften sie, ob sich benachbarte Verbindungen und Elemente in ihrem zweidimensionalen Diagramm wirklich ähneln. Und tatsächlich fanden sie im Raum der binären Verbindungen „Ähnlichkeitsinseln“. Im Vergleich zu anderen Verfahren zeigt ihre universale Variante insgesamt die beste Clustering-Rate für Eigenschaften wie Härte, Magnetisierung und Bindungsenergie.
Prinzipiell ließe sich der Ansatz auch auf Verbindungen aus mehreren Elementen erweitern, so die Forscher. In diesen Fällen käme pro Element eine weitere Dimension hinzu. Allahyari und Oganov glauben, dass ihre Darstellung dazu beitragen könnte, langjährige Streitigkeiten über die Struktur des Periodensystems zu lösen – zum Beispiel die Frage, wohin das leichteste Element, der Wasserstoff, eigentlich gehört. Verglichen mit dem klassischen Periodensystem, liege das Element in dem neuen Schema näher bei den Halogenen als bei den Alkalimetallen.
Doch das althergebrachte Ordnungsschema des Periodensystems hat seine Vorteile. Es liefert eine klare Übersicht über die Eigenschaften der Elemente und ermöglicht es, chemische Reaktionen zwischen den Mitgliedern verschiedener Gruppen zu verstehen. Doch je nachdem wie man hier „Ähnlichkeit“ definiert, würde das Schema eine andere Gestalt annehmen: Ein Periodensystem, das der elektronischen Struktur der Atome Vorrang einräumt, unterscheidet sich von solchen, bei denen bestimmte chemische oder physikalische Eigenschaften als Hauptkriterium dienen. Folgerichtig gibt es kürzere und längere Periodensysteme, kreisförmige, spiralförmige und sogar dreidimensionale. Letztlich ist jede Variante ein Kompromiss mit Schwächen.
Alles eine Frage der chemischen Attribute
„Es besteht immer das Risiko, dass durch das Zusammenfassen von relevanten chemischen Eigenschaften eines Elements etliche Informationen verloren gehen“, sagt der theoretische Chemiker Guillermo Restrepo vom Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig. Damit benennt er ein generelles Problem der verschiedenen Systeme.
Restrepo erforscht die Mathematik hinter dem Periodensystem und analysiert dessen historische Entwicklung. Gemeinsam mit Kollegen konnte er zeigen, wie man die Elemente nicht nur nach einem einzelnen Attribut, sondern nach mehreren Eigenschaften anordnen kann. „Die Herausforderung besteht darin, zu bestimmen, wie viele Attribute und welche davon erforderlich sind, um ein periodisches System mit einem bestimmten Ziel zu formulieren.“ Eine eindeutig richtige Anordnung der Elemente gibt es für ihn bislang nicht. Denn abhängig vom angewandten Kriterium für die Klassifizierung ergäben sich eben stets andere Periodensysteme.
Bei einem eindimensionalen Ansatz – wie der von Allahyari und Oganov vorgestellten Liste – befürchtet der Chemiker, dass einige wichtige Eigenschaften unter den Tisch fallen könnten. „Ein Element kann mehr als einem Element am ähnlichsten sein, oder mehrere Elemente können einem einzigen Element ähneln“, verdeutlicht er das Dilemma. „Bislang haben wir es nicht geschafft, die Komplexität der Chemie auf eine einzige Elementeigenschaft zu reduzieren.“ Restrepo schließt aber nicht aus, dass so etwas möglich ist. „Vielleicht ist der eine Schlüsselparameter schon immer dagewesen und wartet nur darauf, entdeckt zu werden.“ Er fände das „großartig“ – ein ordnungsliebender Chemiker eben.