Die Ukraine sucht ihre Zukunft
Der Krieg verlangt Schulterschluss mit Selensky, aber es existieren fünf alternative Gesellschaftsentwürfe
Seit dem 24. Februar 2022 dominieren die gelb-blaue Fahnen der Ukraine den europäischen öffentlichen Raum. Berichte von mutigen Taten und Tragödien füllen Bildschirme, Zeitungen und private Unterhaltungen. Der Schock darüber, was der Ukraine angetan wurde, bewirkt allerdings, dass allzu oft die Ukraine selber vergessen geht. Worin wurzeln der Kampfgeist und die Widerstandskraft der Ukrainer?
Die politische Debatte drehte sich vor dem russischen Überfall hauptsächlich um die Definition der ukrainischen Gesellschaft und ihrer Zukunftschancen. Dabei lassen sich im Wesentlichen fünf Narrative unterscheiden, die sich teils ergänzen, teils aber auch widersprechen.
Die Modernisierer
Das Modernisierungsnarrativ betont die Überwindung der Vergangenheit. Das Sowjetexperiment hatte die Ukraine im europäischen Vergleich weit zurückgeworfen. Die Modernisierer formulieren deshalb ein radikales Reformprogramm, das moderne Werte wie Freiheit, Wettbewerb und Meritokratie betont. Sie sehen sich als Erneuerer einer liberalen Tradition, die sich im Westen selbst bereits in der Krise befinde und einem sich ausbreitenden Sozialstaat sowie „Kulturkriegen“ gewichen sei. Wortführer dieser Position sind Selenskys Partei „Diener des Volkes“ sowie die Partei „Die Stimme“, die vom Rockstar Swjatoslaw Wakartschuk gegründet wurde.
Die Nationalen
Während die Modernisierer vor allem in die Zukunft blicken, achtet das nationale Narrativ mehr auf die Vergangenheit. Dieses Narrativ behauptet einen lebendigen Zusammenhang zwischen dem historischen Freiheitskampf der Ukraine und der Gegenwart, in der eine nationale Identität erst noch geschaffen werden muss. Diese nationale Identität beruht auf zentralen Elementen wie etwa der ukrainischen Sprache, einem Pantheon von nationalen Helden und religiösen Bindungskräften.
Die wichtigste Aufgabe des Staats besteht aus dieser Sicht in der Institutionalisierung der nationalen Identität. Während die Modernisierer die Geschichte überwinden wollen, unterstreicht das nationale Narrativ deren Kontinuität. Die ehemaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko und Petro Poroschenko sind die prominentesten Vertreter dieser Position.
Sowohl das Modernisierungsnarrativ als auch das nationale Narrativ entwerfen einen Wertekatalog, der für den einzelnen Citoyen und letztlich für die ganze Gesellschaft verbindlich sein soll. Die Ukraine ist allerdings ein Vielvölkerstaat. Das pluralistische Narrativ geht von der Tatsache aus, dass in der Ukraine mehrere Sprachen gesprochen werden, viele Regionen über eigene historische Identitäten verfügen und unterschiedliche Konfessionen praktiziert werden. Die gesamte Ukraine ist eine kulturelle Kontaktzone, in der politische Auseinandersetzungen bisweilen auch gewaltsam ausgetragen werden.
Die Pluralisten
Das pluralistische Narrativ will die ukrainische Gesellschaft deshalb zu einem Regelwerk verpflichten, das diese Vielheit ordnet, Vertrauen schafft und Zusammenarbeit ermöglicht. Die Mitgliedschaft in der politischen Nation beruht demgemäß auf der Akzeptanz gemeinsamer Prinzipien, die sich in Institutionen ausdrücken und im Dialog weiterentwickelt werden. Die ukrainische Staatsbürgerschaft hängt mithin nicht von einer Sprache, einem Geschichtsverständnis oder einem Glaubensbekenntnis ab, sondern ist Ausdruck eines Konsenses über politische Entscheidungsverfahren. Das pluralistische Narrativ steht selten im Scheinwerferlicht und wird vor allem von Intellektuellen kultiviert.
Die Konservativen
Die drei bisher genannten Positionen werden herausgefordert durch ein immer lauter werdendes Narrativ, das die Krankheiten der Moderne zu heilen verspricht. Dieses konservative Narrativ misstraut den Glücksversprechen, die mit der Betonung von Modernisierungschancen, der Besinnung auf die eigene Nation oder dem Vertrauen auf staatsbürgerliche Tugenden einhergehen. Die Moderne, die alle diese Glücksversprechen hervorgebracht hat, ist aus dieser Sicht bereits selbst altersschwach geworden und kann nicht mehr angemessen auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren. Alle Gesellschaftsexperimente, seien sie sozialistisch, nationalistisch oder liberal, sind gescheitert und führen letztlich zu individueller Unfreiheit und gesellschaftlichem Niedergang.
Die Antwort auf diese Diagnose liegt in der Rückkehr zum klassischen Konservatismus: Recht und Ordnung müssen hochgehalten werden, die Elite muss sich einem harten Wettbewerb stellen, die Bevölkerung soll sich dem Leadership der Besten unterwerfen. Der Staat muss sich auf seine Nachtwächterfunktion beschränken. Der wirtschaftlichen Initiative des Einzelnen soll die breiteste Freiheit eingeräumt werden, vor allem gegen die Übergriffe des westlich geprägten Sozialstaats.
Bis vor kurzem war auch dieses konservative Narrativ eine Randerscheinung. Allerdings hat es der Präsidentschaftsberater Oleksij Arestowytsch durch seine massive Medienpräsenz geschafft, diesem Narrativ nachhaltige Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Die Neosowjets
Schließlich lässt sich in der Ukraine ein neosowjetisches Narrativ beobachten, das von Nostalgie nach dem Staatssozialismus geprägt ist. Aus dieser Sicht kann sich nur ein starker Staat dem globalen Kapitalismus widersetzen und die verfügbaren Ressourcen gerecht unter den Bürgern verteilen. Unterstrichen wird die Wichtigkeit eines souveränen Machtzentrums, das die Wirtschaft steuern muss. Wenn der souveräne Staat geschwächt wird, liefert er sich der mörderischen Aggression der internationalen Geopolitik aus.
Dieses Narrativ war schon vor dem russischen Überfall auf die ältere Generation beschränkt und wurde vor allem von Parteien und Medien verbreitet, die von Oligarchen aus der ukrainischen Schwerindustrie finanziert wurden. Unter den Bedingungen des Krieges wird es weiter an Bedeutung verlieren.
Derzeit keine politische Debatten
Was bedeuten diese Gesellschaftsentwürfe für die Gegenwart und die Zukunft der Ukraine? Ukrainer zu sein bedeutet heute, sich für die eigene Existenz einzusetzen. Wer seine Gesellschaft nicht gestalten will, wird sie im Kanonendonner, im Bombenhagel, durch Korruption oder einfach nur durch Gleichgültigkeit untergehen sehen. Ukrainer zu sein, bedeutet aber auch, in vielerlei Hinsicht mit zahlreichen anderen Ukrainern nicht einverstanden zu sein. Die skizzierten Vorstellungen können miteinander kollidieren, und manche von ihnen schließen sich gegenseitig aus.
Zurzeit macht das politische Leben in der Ukraine Pause. Die Fernsehkanäle senden „Einheitsnachrichten“ und geben die offizielle Sicht auf den Krieg wieder. Es gibt eine Art inneren Waffenstillstand: Die Politiker halten sich an einen Burgfrieden und kritisieren die Regierung nicht. Das Parlament winkt Gesetze diskussionslos durch. Die öffentliche Debatte in den sozialen Netzwerken ist in Filterblasen fragmentiert, die wenig miteinander kommunizieren.
Manche sehen vor diesem Hintergrund einen neuen Autoritarismus entstehen. Vor dem russischen Überfall rivalisierten die einzelnen Narrative miteinander und versuchten sich gegenseitig auszulöschen. In Zukunft wird es darum gehen, diese zu Kapiteln einer größeren gemeinsamen Erzählung zu machen.
Bogdan Kolesnyk hat kürzlich an der Universität St. Gallen eine Doktorarbeit zur gegenwärtigen politischen Debattenkultur in der Ukraine verfasst. Dieser Beitrag ist ursprünglich am 12.1.2023 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung