Das Klavier als Rekorder
Elisabeth Cheauré erzählt großartig über „Das ‚russische‘ Freiburg“, darunter die Geschichte des Welte-Mignon-Reproduktionsklaviers, das mittels Lochstreifen das Spiel eines Pianisten aufnehmen und wiedergeben konnte. Die Weltsensation zog viele russische Künstler an
Es ist vermutlich wenig bekannt, dass im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die berühmtesten russischen Musikerinnen und Musiker dieser Zeit eng mit Freiburg verbunden waren, und zwar über eine Weltsensation, das Welte-Mignon-Reproduktionsklavier. Es ist ein wahres Wunderwerk, das da 1905 auf den Markt kam, aber es stand auch eine sehr erfahrene Firma dahinter und eine typisch Schwarzwälder „Tüftler-Geschichte“.
Die Firma Welte wird 1832 in Vöhrenbach im Schwarzwald gegründet und verlegt 40 Jahre später, 1872, ihren Sitz in den Freiburger Stadtteil Stühlinger, in die Lehener Straße. Man spezialisiert sich zunächst auf mechanische Musikinstrumente, das heißt vor allem Spieluhren, die hochpräzise arbeiten.
Sie werden besonders nach Russland exportiert, und es ist auch ein Großauftrag aus Russland, der eine neue Epoche in der Firmengeschichte einläutet: Ein reicher Geschäftsmann aus Odessa, ein Herr Stratz, bestellt ein gewaltiges Instrument, das alle Orchesterstimmen wiedergeben soll, ein „Orchestrion“. Im Ergebnis wird dafür eine Mechanik von mehr als eintausend Pfeifen entwickelt.
Das "russische" Freiburg
Menschen – Orte – Spuren
Mit Gastbeiträgen von Marie-Luise Bott, Heiko Haumann, Peter Kalchthaler, Natalia Barannikova / Karin Mourik
Die Familie Stratz stammt – der Name ist eindeutig – aus deutschen Landen und dürfte im 18. Jahrhundert ins Zarenreich übergesiedelt sein. Damals initiierte die Zarin Katharina II. eine planmäßige Besiedlung ihres Reichs und versuchte damit, Landsleute aus ihrer deutschen Heimat für das Russische Reich zu gewinnen.
Viele der heute in Freiburg lebenden ehemaligen „Russlanddeutschen“ erzählen noch heute von ihren Vorfahren, die in dieser Zeit, aus süddeutschen Gebieten kommend, einen Neuanfang in Russland wagten.
Zu dieser Gruppe der – modern ausgedrückt – Wirtschaftsmigranten könnte auch die Familie Stratz gehört haben, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Odessa zu Reichtum gekommen ist. Möglicherweise ist der Auftraggeber für die Firma Welte sogar jener Heinrich Stratz, dessen Vorfahren ursprünglich aus Wildgutach im Schwarzwald stammten; seine Söhne werden später wieder nach Deutschland zurückkehren, und einer davon, Rudolph Stratz (1864–1936), wird ein sehr erfolgreicher, heute aber vergessener Romanschriftsteller werden, ein anderer, Carl Heinrich Stratz (1858–1924), ein zu seiner Zeit sehr berühmter Gynäkologe und Anthropologe, der sein Augenmerk vor allem auf die „Schönheit des weiblichen Körpers“ und auch „Rassenschönheit“ richtete.
Die Nähe der Familie Stratz zum Schwarzwald könnte jedenfalls erklären, wie es zu dem Auftrag an jene Firma kommt, die damals unter Gebrüder Welte firmiert und kurze Zeit später als M. Welte & Söhne ihren auch internationalen Erfolg weiter ausbaut. An dem Auftragswerk jedenfalls, diesem riesigen Instrument „Orchestrion“, wird drei Jahre lang gebaut. Es schreibt seine eigene Geschichte, ein Nachfolgemodell gewinnt sogar einen Preis auf der Londoner Weltausstellung.
Arbeiteten die ersten mechanischen Instrumente zunächst mit sehr empfindlichen Stichwalzen, so bringt eine neue Technologie in den frühen 1880er-Jahren den entscheidenden, auch wirtschaftlichen Durchbruch: Die Instrumente können nunmehr über Lochstreifen aus Papier gesteuert werden.
Die Firma Welte & Söhne steigt damit endgültig zum Weltmarktführer auf. 1912 wird sogar eine Niederlassung in den USA gegründet, nachdem man zuvor eine weitere Sensation auf den Markt gebracht hat: die Welte-Philharmonie-Orgel, ein sehr kompliziertes Gerät, das sowohl mechanisch gebraucht als auch konventionell von Organisten bespielt werden kann. Eine der berühmten Welte-Orgeln ist heute als Prunkstück im Freiburger Augustiner-Museum ausgestellt und wird sogar manchmal noch gespielt.
Russische Pianisten in Freiburg
Für das „russische Freiburg“ noch folgenreicher ist jedoch eine andere Entwicklung. 1905 bringt man die Mignon, später Welte-Mignon-Reproduktionsklavier auf den Markt, eine weitere Weltsensation. Dieses Instrument benutzt als Tonträger wiederum Lochstreifen aus Papier, die sogenannte „Klavierrolle“, und kann über ein extrem aufwendiges Verfahren ein einmal eingespieltes Spiel eines Pianisten oder einer Pianistin fast authentisch wiedergeben. Von nun an stellen sich die weltführenden Pianistinnen und Pianisten für solche Aufnahmen zur Verfügung und „konservieren“ damit ihre Kunst.
Dieses Aufnahme- und Wiedergabesystem für Klaviere wird in Pianistenkreisen schnell bekannt. Denn nunmehr können nicht nur die Abfolge von Tönen, sondern auch die individuelle Spielweise selbst – der „Anschlag“ etwa – gespeichert und auf entsprechenden Klavieren wiedergegeben werden.
Auf diese Weise entstehen bis 1932 rund 4500 Aufnahmen. Dabei sind zu einem nicht unwesentlichen Teil russische Pianistinnen und Pianisten beteiligt. Und sie spielen meist auch russische Komponisten, davon auch viele zeitgenössische.
Bereits im April 1905 nimmt der Pianist aus dem Russländischen Reich, Ossip Gabrilowitsch (1878–1936) zehn Stücke für das Welte-Mignon Klavier auf, die Aufnahmen sind erhalten und zum Teil heute sogar im Internet zugänglich.
Im Februar 1906 wird von Welte & Söhne u. a. eine Pianistin eingespielt, die zu dieser Zeit schon Weltruhm genießt: Annetta Essipoff (auch Jessipova bzw. Anna Esipova; 1851–1914). Sie spielt mit Schumann, Liszt und Chopin große Namen der europäischen Klavierkomposition, aber auch einen heute eher unbekannten russischen Zeitgenossen, Anton Arenski (1861-1906). Auch er ist über die „Welte- Klavierrollen“ konserviert.
Nach einigen Jahren im Ausland kehrt Jessipova 1912 nach Russland zurück und führt am Petersburger Konservatorium eine Meisterklasse, die große Künstler hervorbringt, u.a. Sergej Prokofjew. In den zwanzig Jahren ihrer pädagogischen Tätigkeit wirkt sie nicht nur bestimmend für das russische „goldene Zeitalter“ der Klavierkunst, sondern wirkt nachhaltig auf deren Entwicklung weltweit.
Affinität zu Russland
Russische Konzertpianistinnen und -pianisten waren für die Firma Welte & Söhne von größter Bedeutung, um qualitativ hochwertige Einspielungen für ihr Welt-Mignon-Klavier zu erhalten. Fast in jedem Jahr finden sich Namen, die auf eine russische Herkunft schließen lassen, viele auch heute noch berühmte sind darunter, aber auch vergessene. Viele dieser Pianistinnen und Pianisten dürften zum Zwecke der Aufnahmen auch nach Freiburg gekommen sein.
Der mit 28 Stücken am meisten aufgenommene Pianist aus dem Zarenreich ist Joseph Lhévinne (1874–1944), heute in Fachkreisen, wenn überhaupt, nur mehr als Klavierpädagoge bekannt. Es handelt sich um einen aus Orjol stammenden Musiker, der eigentlich Iosif Levin hieß und damals schon länger in Berlin lebte. Wenn man auch nur oberflächlich einen Blick auf das Repertoire dieser aus dem Zarenreich stammenden Konzertpianistinnen und -pianisten wirft, so fällt nicht nur die Quantität ins Auge, sondern auch eine besondere Affinität zu zeitgenössischen russischen Komponisten und – sehr vereinzelt – auch Komponistinnen.
Manche der Pianisten, wie Alexander Skrjabin (1872–1915), Sergej Ljapunow (1859–1924) und Alexander Glasunow (1865-1936), blieben ihrer Gewohnheit, ausschließlich eigene Kompositionen zu spielen, auch für die Welte-Aufnahmen treu. Andere, wie etwa Vladimir Horowitz (1903–1989) oder eine heute völlig vergessene Konzertpianistin und Komponistin namens Leocadie Kaschperowa (1872–1940), spielen zum Teil eigene Werke und kombinieren sie mit anderen zeitgenössischen russischen Kompositionen oder einem klassischen westeuropäischen Repertoire.
Die große Affinität der Firma Welte & Söhne zu Russland findet im Jahre 1910 ihren Höhepunkt: Man verlegt nun die Aufnahmen direkt ins Zarenreich, in die Hauptstadt St. Petersburg und nach Moskau. Über 230 Aufnahmen werden in dieser Zeit gemacht. Damit wird auch ein Kompendium der zeitgenössischen russischen Klavierkompositionen erarbeitet, das – nicht zuletzt über diese neue Technik – seinen Siegeszug um die Welt antritt. Spätestens von diesem Zeitpunkt an kann niemand mehr an der „russischen Schule“ vorbei.
Erfolgreich zuerst in Deutschland: Vladimir Horowitz
Die Tragödie des 1. Weltkriegs, die Entwicklung neuer Technologien wie Rundfunk und Plattenspieler führten zum Niedergang der einst weitbekannten Firma Welte & Söhne. In den 1920er-Jahren wird der letzte, aus Russland stammende Konzertpianist zwölf Klavierstücke einspielen: Es ist der später weltberühmt gewordene Vladimir Horowitz, der nach eher ernüchternden Karriereversuchen in der jungen Sowjetunion nunmehr im Westen erste große Erfolge feiert. Seine Einspielung für die Firma Welte & Söhne sind seine ältesten Aufnahmen überhaupt, eine große Rarität.
Allein schon die Herkunft aus Russland gilt offenbar für Pianisten und Pianistinnen dieser Zeit weltweit als Qualitätssiegel. Dafür spricht nicht nur die Fülle russischer Künstlerinnen und Künstler im Verzeichnis der Firma Welte, sondern auch die Amerikanerin Lucy Mary Agnes Hickenlooper, die ein in dieser Zeit offenbar besonders gut vermarktbares Pseudonym wählt: Sie wird unter ihrem russisch anmutenden Künstlernamen Olga Samaroff für das Welte-Mignon Klavier aufgenommen.
Es ist ein schlichtes, aber wichtiges Fazit zu ziehen: Freiburger Erfindungsgeist, unternehmerischer Mut und Offenheit, auch gegenüber Russland, waren am weltweiten Siegeszug russischer moderner Musik und Klavierkunst nicht ganz unbeteiligt.
Dieser Beitrag ist der leicht gekürzte Text aus einem Kapitel des genannten Buchs.