Entführung aus dem Bergwerk
Die Geschichte der nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau gestohlenen Bilder
Im Mai 2015 kehrten drei Gemälde der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau aus den USA zurück. Sie waren im Frühjahr 1945 aus ihrem Auslagerungsort in Solvayhall bei Bernburg (Anhalt), einem unterirdischen Salzbergwerkschacht, von amerikanischen Soldaten gestohlen worden und Inhalt der gesamten Kiste Nr. 31, die insgesamt 16 Gemälde enthielt. Die Monuments Men Foundation half bei der Rückkehr.
Die eingelagerten Kunstwerke der Gemäldegalerie hatten zwar die Kriegsjahre überstanden, doch verschafften sich nach Kriegsende neben Zivilisten und Displaced Persons auch Angehörige der westlichen alliierten Truppen Zugang zum Schacht. Kisten wurden gewaltsam geöffnet, und es kam zu Diebstählen.
Zuvor war bereits der amerikanische Geheimdienst CIC im Schacht gewesen. Am 20. Mai folgte die Inspektion durch zwei Mitglieder der MFA&A-Einheit (Monuments Men) der Alliierten. Zu der von ihnen vorgeschlagenen Umlagerung an einen sicheren Ort ist es nicht gekommen.
Gestohlen, abtransportiert, zurückgekehrt
Die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau im Zweiten Weltkrieg
Bis zur Übernahme des Gebiets durch die Rote Armee Anfang Juli hatte eine dem 750. Panzer-Bataillon angehörende Einheit der US-amerikanischen Armee unter Major William Oftebro den Auftrag, das Salzbergwerk zu bewachen. Doch damit war keine Garantie für einen Schutz vor Plünderungen gegeben. Im Gegenteil, bei dieser Gelegenheit bediente sich Oftebro am Kunstgut, das er in die USA mitnahm.
Die drei Gemälde aus Dessau, die zum wertvollen Sammlungsbestand des 17./18. Jahrhundert zählen, hatte er angeblich beim Pokerspiel gewonnen. Es kann zweifellos davon ausgegangen werden, dass die Mitnahme durch Angehörige der westlichen Alliierten nicht nur einzelne Werke, sondern einen beträchtlichen Teil betraf. Dies gilt nicht nur für Solvayhall.
Trophäen auch für Sowjetbrigaden
Wenn auch der im April 1946 vorgenommene Abtransport aus Solvayhall durch die sowjetischen Trophäenbrigaden des Kunstkomitees weit größeren Umfangs war, haben neuere Forschungen zweifelsfrei ergeben, dass die UdSSR die konfiszierten Kunstwerke 1958/1959 fast vollständig an die DDR zurückgegeben hat. Wenn überhaupt, so verblieb nur eine geringe Zahl von Gemälden in der ehemaligen UdSSR und der Russischen Föderation. Sie dürften sich wohl hauptsächlich in der Eremitage in St. Petersburg befinden, wohin die Transporte 1946 von Solvayhall über Berlin größtenteils gingen.
Diese grundlegende Erkenntnis einer so gut wie vollständigen Restitution basiert auf der Auswertung von Transport- und Verteilungslisten kriegsbedingt verbrachter Kulturgüter. Dieses wichtige Ergebnis ergab ein Forschungsprojekt des Deutsch-Russischen Museumsdialogs (DRMD) „Kriegsverluste deutscher Museen“ der Kulturstiftung der Länder in Kooperation mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Es betrifft den Sammlungsbestand in öffentlichem Besitz, wie der Museen, nicht das konfiszierte Kulturgut aus ehemals privatem, darunter adligem Besitz, das zum größten Teil zurückbehalten wurde. So fehlen von den insgesamt 550 in Solvayhall ausgelagerten Gemälden der Gemäldegalerie nach jetzigem Ermittlungsstand 54 Gemälde, die den Indizien nach überwiegend noch am Auslagerungsort selbst abhandengekommen sind.
2019 starteten die Kulturstiftung der Länder und die Stiftung Preußischer Kulturbesitz ihre gemeinsame Schriftenreihe „Studien zu kriegsbedingt verlagerten Kulturgütern“. Der erste Band der Reihe war den Ergebnissen des DRMD-Projekts „Raub und Rettung – Russische Museen im Zweiten Weltkrieg“ gewidmet.
Mit Band 2 „Gestohlen Abtransportiert Zurückgekehrt – Die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau im Zweiten Weltkrieg“ liegen nun die Forschungen über die Verluste dieser bedeutenden deutschen Gemäldesammlung von Margit Schermuck-Ziesché vor, der langjährigen Kustodin der Gemäldegalerie. Wesentlichen Impuls hierzu gab das umfangreiche Forschungs- und Publikationsprojekt „Kriegsverluste deutscher Museen“ des DRMD mit seinen Mikroforschungen über fast 40 deutsche Museumssammlungen. Sie werden als Band 3 der Schriftenreihe 2021 publiziert.
Die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau
Die 1927 gegründete Anhaltische Gemäldegalerie Dessau mit ihren kostbaren Beständen an deutscher, flämischer und niederländischer Malerei des 15. bis 19. Jahrhunderts existierte erst zwölf Jahre, als der Zweite Weltkrieg begann. Nach den einschneidenden Konfiszierungen von Werken der Klassischen Moderne als „Entartete Kunst“ 1937, darunter von berühmten Bauhauskünstlern wie Feininger, Kandinsky, Klee und Schlemmer, folgten Verluste weit größeren Ausmaßes, darunter Werke von Albrecht Dürer, Lucas Cranach d. Ä. und Pieter Brueghel d. J.
Sie wurden zerstört, gestohlen oder im Auslagerungsort Solvayhall bei Bernburg und aus der Filialgalerie im Schloss Oranienbaum abtransportiert. Das Palais Reina, das Domizil der Dessauer Gemäldegalerie und zugleich bedeutendste spätklassizistische Wohngebäude im Zentrum der Stadt, wurde bei dem Luftangriff am 28. Mai 1944 zerstört.
Der jetzt erschienene Band behandelt erstmals umfassend die Sicherungs- und Auslagerungsmaßnahmen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums während des Kriegs und die zentralen Anordnungen des nationalsozialistischen Staats. Dabei wird auch auf die in Eigeninitiative betriebenen Auslagerungen in Dessau eingegangen. Sie betrafen auch den größten Teil des Sammlungsbestands gleich zu Kriegsbeginn außerhalb Dessaus im Schloss Zerbst und die frühe unterirdische Einlagerung in Solvayhall von August 1943 an.
Das Schicksal der Gemälde zum Kriegsende wird ebenso beschrieben wie die Rückkehr von Kunstwerken 1958/1959, die 1946 durch die sowjetischen Trophäenbrigaden des Kunstkomitees aus Solvayhall bei Bernburg abtransportiert worden waren. Mit der offiziellen Rückgabe der Kunstwerke durch die UdSSR an die DDR erhielt die Anhaltische Gemäldegalerie Dessau ihren Stellenwert als national bedeutende Sammlung Alter Malerei und Grafik zurück und war nun nicht mehr in ihrer Existenz bedroht.
Diebstähle und Plünderungen
Außerdem werden die nicht unerheblichen Diebstähle durch Privatpersonen zum Ende des Kriegs und die Fahndungsbemühungen nach gestohlenen Gemälden in der Sowjetisch Besetzten Zone (SBZ) thematisiert. So hat sich die Sicherstellung außerhalb der Stadt Dessau an Auslagerungsorten im Kreis Zerbst, Kreis Coswig und im Harz in Forst- und Pfarrhäusern sowie Schulgebäuden nur zum Teil bewährt. Die befürchteten Plünderungen haben sich bewahrheitet.
Aus dem Forsthaus Reuden bei Zerbst zum Beispiel wurden alle vier ausgelagerten Gemälde gestohlen, die zum wertvollsten Bestand der Gemäldegalerie gehören. Darunter befand sich von Albrecht Dürer der „Heilige Christophorus“, ein Frühwerk des zu den bedeutendsten Künstlern des 15. und 16. Jahrhunderts zählenden Malers.
Im Forsthaus Uhlenstein im Harz wurden zwei Cranach-Gemälde gestohlen. Der „Heilige Georg“ ist nach wie vor verschollen, das andere mit dem „Urteil des Paris“ tauchte als Fragment 1981 im Kunsthandel in Wiesbaden auf, wurde durch das BKA sichergestellt und konnte schließlich 1988 nach Dessau zurückgeführt werden.
Doch haben sich auch glückliche Fügungen ergeben: Ein im Forsthaus Gollmitz bei Reuden ausgelagertes Cranach-Gemälde mit der „Kreuzigung Christi“ wurde zufällig im Freien nahe des Forsthauses aufgefunden und konnte gerettet werden.
Dass durchaus nach wie vor die Hoffnung besteht und während der Auslagerung sowie zum Kriegsende gestohlene Bilder nicht unwiederbringlich verloren scheinen, zeigt sich an sechs weiteren Beispielen, die ermittelt werden konnten. Diese wurden nachweislich ebenfalls an ihren letzten Einlagerungsorten gestohlen, denn sie wurden in nachfolgender Zeit im Kunsthandel angeboten. Darunter sind zum Beispiel eine Sinnbild-Darstellung des berühmten flämischen Malers Pieter Brueghel des Jüngeren, die 1952 im niederländischen Kunsthandel auftauchte, und eine norwegische Landschaft des Landschaftsmalers Wilhelm Krause, die 2008 im Kunsthandel in Rudolstadt (Thüringen) weiterverkauft wurde.
Durch direkte Kriegseinwirkung sind hingegen die wenigsten Gemälde vernichtet worden. Einzelne Gemälde, die sich im Palais Reina oder in der angrenzenden Restaurierungswerkstatt befanden, wurden bei den Luftangriffen auf Dessau am 28. Mai 1944 und 7. März 1945 zerstört. Des Weiteren wurden einzelne Gemälde im Schloss Zerbst bei dem Luftangriff auf die Stadt am 16. April 1945 vernichtet. Sie konnten auf Grund ihres großen Formats nicht im Salzbergwerkschacht Solvayhall eingelagert werden und verblieben im Schloss Zerbst.
Der bisherige Kenntnisstand sowohl zu den Auslagerungsmaßnahmen als auch den Verlusten von Gemälden konnte um zahlreiche neue Fakten erweitert, Fragestellungen und Zusammenhänge durch größtenteils erstmals bearbeitete Dokumente, ergänzt durch umfangreiches Bildmaterial, weitgehend geklärt und aufgezeigt werden.
Die Suche geht weiter
Die Dokumentation der kriegsbedingten Verluste, die insgesamt 221 Gemälde umfasst und auch nähere Erläuterungen zum Forschungsstand der Gemälde selbst enthält, sollte zudem Anlass sein, nach eventuell noch vorhandenen fehlgeleiteten Gemälden bei der Übergabe der von der UdSSR an die DDR zurückgegebenen Kunstwerke in den betroffenen Museen zu recherchieren und sie in den ursprünglichen Sammlungsbestand zurückzuführen. Beispiele solcher damals irrtümlich zugeordneter Gemälde, die erst in den 1960er-Jahren oder noch in den Jahren 2005 bzw. 2007 nach Dessau zurückkehrten, zeigen, dass damit nach wie vor zu rechnen ist.
Wie auch durch die Rückkehr der drei aus der Auslagerung in Solvayhall bei Bernburg gestohlenen Gemälde im Jahr 2015 – 70 Jahre nach Kriegsende – deutlich wird, ist das Thema der kriegsbedingten Verluste längst nicht abgeschlossen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Veröffentlichung die Rückkehr noch verschollener Gemälde der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau befördert und damit ihre Odyssee ein Ende findet.
Nach wie vor offen bleibt das Schicksal des größeren Teils der verlorenen Gemälde aus der Filialgalerie im Schloss Oranienbaum, der möglicherweise durch ukrainische Trophäenbrigaden direkt in die Ukraine abtransportiert wurde. Hierzu wären weitere Archivalien und Quellen zu erschließen, die Auskunft über die von anderen Trophäeneinheiten vorgenommenen Konfiszierungen geben. Dies wäre zugleich eine wichtige Fortsetzung des ergebnisreichen DRMD-Forschungs- und Publikationsprojekts „Kriegsverluste deutscher Museen“, die zur weiteren Klärung von verschollenem Kunst- und Kulturgut der involvierten Museen in entscheidendem Maße beitragen könnte.
Der Deutsch-Russische Museumsdialog
In der Überzeugung, dass unabhängige bilaterale Forschung die Voraussetzung dafür schafft, die Geschichte von Museen und Sammlungen im Zweiten Weltkrieg sowohl in Russland wie in Deutschland aufzuarbeiten, wurde der Deutsch-Russische Museumsdialog DRMD 2005 in Berlin von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Kulturstiftung der Länder und über 80 deutschen Museen gegründet. Im Fokus stand seit 2008 die gemeinsame Erforschung der deutschen wie der russischen Kriegsverluste: die Aufklärung über die kriegsbedingt verbrachten Kunst- und Kulturgüter in Deutschland und Russland, die Rekonstruktion der Sammlungsgeschichte und die Geschichte der einzelnen Kunstwerke in Kriegs- und Nachkriegszeit.
Über die Jahre hat der DRMD sich zu einem wichtigen Fundament deutsch-russischer Kulturbeziehungen entwickelt. Er ist vertrauensvoller Ansprechpartner für Museen und Kultureinrichtungen in beiden Ländern und übernimmt zunehmend Beratung und Organisation bei Restitutionen von Kunstwerken, die aus Deutschland an die russischen Ursprungsmuseen zurückgegeben werden können. Seit 2013 konnten aus deutschem Privatbesitz etliche Rückgaben erfolgen, die auf russischer Seite mit großer Freude gefeiert werden und für den hohen Stellenwert dieser Gesten von Wiedergutmachung stehen.