Gogol: Wahn und Wahrheit
Eine Reise im deutschsprachigen Raum führte bei dem Schriftsteller zu andauerndem Seelenschmerz
Dem weltweit bekannten Brauch zufolge soll man am 1. April seinen Nächsten durch erfundene Erzählungen in die Irre führen. In der Literaturwissenschaft hat dieser Tag eine hohe Bedeutung, denn ein großer Satiriker seiner Zeit, Nikolai Gogol, feiert am 1. April 2021 seinen 212. Geburtstag. Seine genialen Werke, wie „Die Toten Seelen“ oder „Der Revisor“ amüsierten das Publikum mit humorvollen Ereignissen und einem außergewöhnlichen Sprachgeschick. Darüber hinaus entlarvte Gogol mithilfe bizarrer Charaktere die sozialen Untugenden, womit sich deren Träger verspottet fühlten.
Im Jahr 1836 entschied sich Gogol zu einer Auslandsreise. Als er Petersburg verließ, waren seine mystischen Erzählungen sehr beliebt. Seine Komödie „Der Revisor“ durfte in Moskau aufgeführt werden.
Aber Gogol strebte fort. Bereits sechs Jahre zuvor hatte er in der Russischen Kunstakademie, die er damals wöchentlich besuchte, erfahren, dass Rom die Heimat der Künstler war. Von diesem Moment an zog es ihn nach der prachtvollen ewigen Stadt.
Wer aber Gogols künstlerische und geistige Entwicklung vollkommen verstehen will, muss den Blick weiten. Außer der produktiven Lebensphase in Rom ist Gogols langjähriger Aufenthalt im deutschsprachigen Raum von zentraler Bedeutung.
Hamburg: schöner Ort voller Leben
Am 26. Juni 1836 stiegen Gogol und sein enger Freund Danilewski in Travemünde von Bord des Dampfschiffs „Nicolay I“. Am nächsten Tag erreichten sie Hamburg. Die Hansestadt blieb in Gogols Gedächtnis als ein schöner Ort voller Leben. Nicht nur der Jungfernstieg mit den vielen Geschäften gefiel dem Schriftsteller, sondern auch der damals berühmte Matrosenball, den er miterlebte.
Einen Monat später erreichte Gogol über Bremen und Aachen Frankfurt. In der Korrespondenz mit seiner Mutter bezeichnete er die Großstadt als „Paris von Deutschland“, weil er überall Reisende aus Frankreich, England und Russland antraf. Er besuchte die Oper, und offenbar wurde Frankfurt nebst Hamburg zu einer von Gogols Lieblingsstädten.
Bald schon zog Gogol weiter nach Baden-Baden. In dem Kurort las er, umringt von zahlreichen Zuhörern, seiner Verehrerin Maria Balabina aus den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ vor. Unter den Eingeladenen bewunderte ein Arzt, wie detailliert Gogol in dieser Erzählung eine sich allmählich entwickelnde mentale Störung thematisierte. Wusste Nikolai Gogol über eine Geisteskrankheit aus erster Hand oder war es das Ergebnis seiner einzigartigen Vorstellungskraft?
Nach der Sommerfrische in Baden-Baden zog Gogol im Oktober 1836 in die schweizerische Stadt Vevey, wo er seine Arbeit an „Die toten Seelen“ fortsetzte. Schon bald endet Gogols erster deutschsprachiger Aufenthalt, vom November desselben Jahres an ließ er sich von der ewigen Stadt inspirieren.
Nervenzusammenbruch in Wien
Zurück in Russland besuchte Gogol seine Familienmitglieder und Freunde und präsentierte das neue Werk „Die toten Seelen“. Doch schon im Mai 1840 reiste er wieder gen Westen, nach Wien. Er erreichte die österreichische Hauptstadt am 17. Juni. Dort begann er, an seinem neuen Drama über den ukrainischen Kosakenhetman Bohdan Chmelnyzkyj zu schreiben. Und er trank das Marienbader Heilwasser, von dem er sich jugendlichen Schwung versprach, Heilung der Nerven und Erweckung der Fantasie.
Gogol ging mit großem Eifer ans Werk, doch das führte zu einem Nervenzusammenbruch. Er verfiel in einen Zustand kontinuierlicher Angst und Apathie, was ihn dazu brachte, ein Testament aufzusetzen. Seitdem prävalierten in Gogols Briefen eine religiöse Stimmung und eine erzieherische Ausdrucksweise, die einige Leser für unangebracht hielten.
Ende August 1841, nach seiner zweiten Romreise, wo er „Die toten Seelen“ und das Kosakendrama vollendete, besuchte Gogol seinen Freund und Fürsprecher Wassili Schukowski in Frankfurt. Gogol hielt Schukowski für einen einflussreichen Dichter und meisterhaften Übersetzer. Somit ließ er das Kosakendrama von ihm beurteilen, doch als Schukowski bei der Vorlesung vom Schlaf übermannt wurde, verbrannte Gogol sein Werk.
Schukowski erhielt Ende Juni 1842 in Düsseldorf einen Brief von Gogol mit der Bitte, das beigefügte Exemplar der „Toten Seelen“ aufmerksam zu lesen und sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Vier Jahre später beendete Gogol in Frankfurt die zweite Fassung des ersten Bands, in deren Vorwort er nun die Leser um Kritik bat. Er brauchte scharfe Kritik, denn allein dadurch hoffte er die unterschiedlichen Ebenen der russischen Gesellschaft besser verstehen zu können. Bedauerlicherweise empfanden seine Leser diesen Appell als unseriös.
Nikolai Gogols Gesundheit ließ nach, und so besuchte er mehrere Kurorte, um sich von den wiederkehrenden Anfällen zu erholen. Schließlich zog Nikolai Gogol in Schukowskis Frankfurter Landhaus mit der Anschrift Salzwedelsgarten vor dem Schaumeinthor. Gogol schrieb dort zwischen September 1844 und Januar 1845 am zweiten Band der „Toten Seelen“, während der Gastgeber die Odyssee Homers aus dem Griechischen ins Russische übersetzte.
Religiöser Wahn
Doch der Zusammenbruch in Wien hatte Spuren hinterlassen. Nikolai Gogol hatte zur Religion gefunden und hielt seine Werke für eines wahren Christen unwürdig. Im Juni 1845 war er auf dem Weg aus Frankfurt nach Bad Gastein, wo er sich einer Kur unterziehen wollte. Plötzlich entschied er sich, den zweiten Band von „Die toten Seelen“ zu verbrennen, dem er fünf Jahre seines Lebens gewidmet hatte.
Damit wollte er seine Schreibtätigkeit beenden und ins Weimarer Kloster eintreten. Glücklicherweise brachte Erzbischof Stefan Sabinin Gogol von dieser Entscheidung ab.
Im letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Werk „Essays und ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ begründete Gogol seine Entscheidung, den zweiten Band der „Toten Seelen“ zu vernichten, mit dessen Anfangsform. Der erste Band handelte von Pawel Tschitschikow, einem Schwindler, der in einer Kleinstadt durch sein manipulatives Verhalten „tote Seelen“ von wohlhabenden, naiven Bürgern kaufte. In der „Anfangsform“ des zweiten Bands sollte es darum gehen, dass Tschitschikow großherzigen und anständigen Gutsherren begegnete, die ihm von seiner Machenschaft abraten und ihn auf den richtigen Weg bringen.
Nichtsdestotrotz dachte Gogol, dass eine solche Darstellung der russischen Seele, ausschließlich für eine arrogante Verhaltensweise unter den Lesern sorgen und dem Volk nur Schaden anrichten würde. Er verbrannte die erste Version, denn erst dann konnte der Inhalt in klarer und gereinigter Form auferstehen, wie ein Phoenix aus der Asche.
In der Frühlingsnacht 1852 setzte Gogol, einige Tage bevor seinem Tod, die endgültige Fassung des zweiten Bands in Flammen. Die Heimat Goethes verlieh ihm die letzte Kraft, doch der Wahn übernahm komplett die Kontrolle.